#40 Leih mir nen Fünfer

Mittwoch, 23. Februar

Der strahlendblaue Himmel und die helle Sonne lassen den Eindruck entstehen, dass nach einem Vierteljahr endlich der Frühling an der Reihe ist, doch hält der Winter gleichzeitig mit einigen Minusgraden dagegen. Nach Draußensitzen sieht es lediglich aus; die Gäste zieht es ins Innere des Café Riptide. Zwei bunt bestückte Kinderwagen stehen zwischen Caféraum und Tonträgerbereich. Die Fahrgäste dieser Vehikel schwirren dazwischen umher. Sie können zwar laufen, aber noch keine Wörter sagen. Sie wetzen immer um den CD-Kasten herum, eines der Kinder hält dabei ein Buch in der Hand. Beide sind mächtig gut gelaunt und glucksen bei ihrer wilden Hatz. Mit den typischen Versteckspielblicken gucken sie mir dabei zu, wie ich das neue Intro aus dem Aufsteller vor der Theke nehme und mir bei Lukas eine Fritz-Kola ohne Zucker bestelle. „Das hat sich mittwochs so eingebürgert“, erklärt Lukas, während er mir das Getränk reicht, mit Blick auf die Kinder. „Das gefällt mir – ich bin nicht mehr allein in der Küche, irgendwer ist immer da.“ Das kann ich mir so lebhaft vorstellen, wie sich die Kinder verhalten. „Eigentlich sind sie zu dritt“, sagt Lukas. „Einer kommt vielleicht noch.“ Er zieht sich seine Jacke über und bringt ein Tablett mit Getränken in die Rip-Lounge.

Im Café ist es für mitten in der Woche und mitten am Tag reichlich gut gefüllt. Die fröhlichen Kinder gehören zu einer aufmerksamen Gruppe am Tisch neben dem Eingang. Nina, Eva und deren Begleiter haben immer Augen auf Tilda und Janno. Nina steht auf. Sie sieht Tilda am CD-Kasten und guckt sich rund um den Kasten nach Janno um, vergeblich zunächst: „Wo ist er denn – gibt es hier noch einen Ausgang?“, fragt sie. Dann entdeckt sie Janno zwischen den Barhockern an den CD-Spielern vor der Heizung stehend aus dem Fenster schauen, bestens versteckt. Beruhigt setzt sie sich wieder. Auch Tilda entdeckt Janno. „Da“, ruft sie strahlend und zeigt auf ihren Freund. Ihr eigenes Versteck findet sie zwischen den T-Shirts, die an einem Aufsteller hinter den CDs hängen.

Wer von draußen kommt, bringt den Anblick von Kälte mit ins Café. Chris etwa hat seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Als er die Tür hinter sich schließt und die Kapuze abnimmt, sieht man, dass er mindestens so sehr strahlt die Janno und Tilda. Kaum hinter dem Tresen, nimmt er eine Kundenbestellung auf. Doch überlässt er diese Aufgabe anschließend Lukas und räumt stattdessen ein wenig im Laden auf. Während er Flyer auf die Flyertische zurücklegt, den T-Shirt-Ständer geraderückt und die Kiste mit den CDs Braunschweiger Bands durchguckt, listet er die nächsten drei Filme der Reihe „Sound On Screen“ auf. „Der Film im März mag vielleicht merkwürdig anmuten, ist aber bestimmt gut – ich habe ihn noch nicht gesehen“, sagt Chris: „‚Helden für die Hosen’ über Deutschlands härtesten und gefährlichsten Motorradclub.“ Der Club besorgt die Security und übernimmt alle möglichen weiteren Jobs bei den Hosen und den Beatsteaks. Die Rocker fungieren als Roadies, nicht Rowdies, wie es irgendwo im Internet zu lesen stand. „Ein Punkrock-Rocker-Film, eine Spielfilm-Doku“, sagt Chris. Der Film über die „Black Devils“ hat sogar Deutschlandpremiere im Universum-Filmtheater. Chris ist beim LP-Fach „F“ angekommen und fährt mit seiner Liste fort: „Der Film im April: 49 Prozent Motherfucker und 51 Prozent Son Of A Bitch.“ Davon hatte ich schon gehört: Ein Freund war bei der Rush-Vorführung, da kündigte schon jemand den „Lemmy“-Film an. Chris freut sich schon darauf. Und darüber, dass der Slogan mit den Prozenten auf dem Filmplakat steht, dass Ian Kilmister also selber so von sich spricht. Film Nummer drei: „Im Mai zeigen wir einen ganz besonderen Film, der ist schwierig vom künstlerischen Anspruch her.“ Der Film heißt „Utopia ltd.“ und lief jetzt bei der Berlinale. „Das ist ein Film über die Hamburger Punkband 1000 Robota.“ Chris meint, die Presse schwärme von dieser kunstvollen Doku: „Das wird richtig spannend.“ Er fischt die aktuelle LP von 1000 Robota aus dem entsprechenden Fach. Die Band ist jetzt beim Hamburger Label Buback, das zweien der Goldenen Zitronen gehört und das demnächst in Wolfsburg eine Ausstellung bekommt, im Kunstverein im Schloss nämlich. Als ich das im Musikexpress gelesen hatte, schaute ich gleich im Internet nach. Dabei entdeckte ich, dass Kunstvereins-Vorsitzender Justin Hoffmann Gründungsmitglied der Band FSK, Freiwillige Selbstkontrolle, ist – die seit einigen Jahren zwar ohne ihn auskommen muss, aber ebenfalls bei Buback unter Vertrag steht. In Wolfsburg gebe es einige interessante Kooperationspartner, sagt Chris, doch habe sich bislang noch kein Kontakt ergeben. Dafür habe er auch schon die übernächsten drei „Sound On Screen“-Filme im Kopf. Doch er dämpft meine Neugier: „Die sind noch nicht spruchreif.“ Eine geplante Sommerpause verzögert die Auflösung dieses Rätsels außerdem: „Die Filme kommen im Oktober, November und Dezember.“

Tilda und Janno, die eben noch um unsere Beine und die anderer Kunden herumstromerten, bekommen jetzt Mützen aufgesetzt und Jacken angezogen, Janno von Nina, Tilda von Eva. Beide Kinder sind etwa 18 Monate alt, berichtet Nina. Vom Riptide als Kinderspieloase schwärmt sie: „Das klappt hier super, es ist kinderfreundlich und die Kinder trinken ihren Milchschaum.“ Ich frage sie nach dem dritten Kind, von dem Lukas sprach. „Rosa kommt manchmal noch“, bestätigt Nina. Weder die Eltern noch die Kinder, die sich hier jeden Mittwoch treffen, sind verwandt, sagt Nina: „Wir kennen uns von Pekip.“ Das wiederum kenne ich nicht. „Das ist das Prager Eltern-Kind-Programm“, klärt Nina mich auf, während sie Janno in seinen Kinderwagen setzt und sich verabschiedet. Eltern und Kinder verlassen dick eingepackt das Café.

Ihnen kommen Gregor und André nacheinander entgegen. Gregor im Iron-Maiden-Shirt ist der neue Praktikant, klärt Chris mich auf. „Ein Stammkunde, wie üblich“, sagt Chris erfreut. Gregor gibt mehr Details: „Ich mache das während der Schulzeit, vier Wochen.“ Er mache Hauswirtschaft, da seien zwei Wochen Praktikum im Betrieb und anschließend zwei Wochen in der Schulküche die Regel. „Aber ich hatte dem Riptide schon für vier Wochen zugesagt“, sagt Gregor. „Ich bin der einzige, der vier Wochen im Betrieb ist.“

Am Tresen überkreuzen Benno und ich unsere Arme bei dem Versuch, unsere Getränke von der Theke zu nehmen. Benno guckt durch die LPs. Ich verspreche ihm, ihm seinen Kaffee warm zu halten. „Dann halte ich deine Cola kalt“, antwortet er und stöbert weiter in den LPs herum. Carsten, der voll bemützt und mit beschlagener Brille hereinkommt, bestellt sich bei Lukas einen Kaffee zum Mitnehmen. Er ist Mitglied der Session Lounge, von der Le’Band- und Cultur-Pub-Jogi immer schwärmt. Carsten spielt Gitarre, Bass und Schlagzeug, „hauptsächlich Schlagzeug, das ist mein Ding, ich unterrichte das auch an der Schule Fit in Music.“ Außerdem ist er Mitglied im Verein für Eigenkompositionen, Eiko. Der Verein hat an jedem letzten Freitag im Monat eine Show in der KaufBar, Schepper und Roland Kremer moderieren dann. Und Carsten spielt auch noch in einer Band namens Agapornis. Das Internet widerlegt den Gedanken, der Name habe etwas Pornöses: Agapornis sind Papageien. Auf Deutsch heißen sie Unzertrennliche, auf Englisch Lovebirds. „Wir machen Krautrock“, sagt Carsten, „aber unabsichtlich, wir hatten nicht die Technik, um modern zu sein.“ Jetzt suche die Band jemanden, der mastern kann. „Wir haben eine CD aufgenommen, die wollen wir verschenken“, sagt Carsten. Aber dafür müsse die Musik eben ordentlich gemastert sein. Lukas reicht Carsten den Kaffee herüber. „Ich wollte meinen Kaffee zum Mitnehmen“, rügt Carsten. „Ich kann ihn dir umschütten“, bietet Lukas grinsend an. Doch Carsten, der seinen Kaffee eigentlich am liebsten im Gehen trinkt, entscheidet sich zur Ausnahme. Den beigelegten Keks mag er allerdings nicht. „Ich schenke dir meinen Keks“, sagt er an mich gewandt und legt ihn auf Bennos Untertasse. „Ich stehe nicht so auf Weihnachtsgebäck.“ Meine Fritz-Kola steht weiter drüben auf der Theke, das kann Carsten nicht wissen. Ich grinse, als Benno sich über den Zuwachs an seiner Kaffeetasse wundert, und kläre beide auf. „Danke“, sagt Benno und reicht dann Lukas einen Stapel CDs: „Einmal reinhören.“ Lukas’ scherzhafte Ablehnung werde ich erst später verstehen. Carsten schwärmt von The Band Without Glantz aus Braunschweig, „fällt mir gerade so ein“. Wir freuen uns beide darüber, dass es in Braunschweig zurzeit wieder so viel Kultur gibt, nachdem für eine viel zu lange Weile Ruhe war. Ich terminiere den Beginn der Ruhe auf das Ende des FBZ. Da leuchten Carstens Augen, wir zählen Bands auf, die seitdem nicht mehr nach Braunschweig kommen, aber mal im FBZ gespielt haben: Einstürzende Neubauten, Yo La Tengo. „Bad Brains“, sagen wir gleichzeitig. Wenigstens Phillip Boa kommt im März wieder nach Braunschweig, sage ich, ins Meier nämlich. „Immerhin“, sagt Carsten. Er glaubt fest, dass diese schönen Zeiten wiederkommen werden. „Solche Bands wie NoMeansNo könnten im Nexus oder im Schweinebärmann auftreten“, meint er. NoMenasNo! „Die habe ich jedes Jahr gesehen, wenn sie in der Gegend waren“, sagt Carsten. Die Auftritte auf der Orangenen Bühne in Roskilde 1997 und im Forellenhof Salzgitter 2001 haben wir sogar beide gesehen. Carsten wohnt auf einem Dorf bei Liebenburg, sagt er, und sage seinen Nachbarn immerzu, sie sollen nach Braunschweig kommen, dort passiere wieder etwas. Er nickt. „Die könnten wieder nach Braunschweig kommen“, sagt er erneut über NoMeansNo. Ich spreche der guten Idee nur ungern die Wahrscheinlichkeit ab und fühle mich dabei unwohl. Carsten blockt das ab: „Lass uns träumen.“ Stimmt, das können wir tun. Die Tasse ist leer, Carsten setzt sich seine Mütze auf und verschwindet in die Kälte.

Chris sitzt im Büro, André packt neue LPs aus, unter anderem die Box von Mogwai, Gregor faltet Gutscheine, wenn er nicht Kunden bedient, was ihm Lukas noch abnimmt, obwohl der längst Feierabend hat. „Ich mach hier mein Privatvergnügen“, sagt Lukas zu André, der ihn ans Dienstende erinnert. Lukas unterhält sich noch mit Benno, seinem Kollegen, wie ich jetzt erfahre. „Seit einem Jahr arbeite ich hier“, sagt Benno. Lukas spricht vom „Dreamteam“ am Donnerstagabend ab 21 Uhr, Benno pflichtet ihm lachend bei. Bevor sie Lukas’ Feierabend mit einer gemeinsam eingenommenen Mahlzeit irgendwo in der Stadt einläuten, nimmt Lukas noch Steffis Gutscheinheft entgegen, das Butler’s-Bonus-Buch. „Das wusste ich bis eben auch nicht, dass wir da drin sind“, sagt Lukas und schneidet den Gutschein aus Steffis Heft heraus. „Im Flips-Heft seid ihr auch“, sagt Steffi. Aber mit etwas anderem als zwei Muffins zum Preis von einem. „Leckere Kirschmuffins“, freut sich Steffi, und Lukas korrigiert: „Die heißen Frühstücks-Muffins.“ Sie nimmt die Tüte mit den beiden Backwaren mit Vorfreude von ihm entgegen.

Im Eingang stehen erneut zwei Kinderwagen. Die dazugehörigen Kinder heißen Nenad und Mia-Mathilda, verrät Jennifer. Sie ist weder Mutter der Kinder noch verwandt, sondern Freundin, und weiß: „Nenad ist ein serbischer Name.“ Beide Kinder sind gerade ein Jahr alt und wie Tilda und Janno in der Lage, mit Spielzeug in der Hand herumzurennen. „Mittwochs ist Kindertag“, hat auch Jennifer beobachtet. „Die treffen sich immer hier.“ Sie selbst hat seit zwei Wochen einen enorm kurzen Weg ins Riptide: Sie ist Miteigentümerin des Ladens „Piou – Kunst & Grafik“ gegenüber, in den Räumen der ehemaligen Schneiderei. „Wir machen auch ganz viele Kindersachen“, sagt Jennifer. Die Eröffnung war zeitgleich mit der neuesten Ausstellungseröffnung in der Galerie „Einraum 5-7“ und im Riptide. Mit ihr führt Tanja den Laden. „Tanja macht Grafikdesign, Kinderklamotten, Anziehsachen mit selbstgezeichneten Motiven, Körnerkissen, Mobiles – und ich mache Accessoires für Große“, zählt Jennifer auf. Kommt der Name „Piou“ vom italienischen „più“, also „plus“ oder „mehr“? Jennifer lächelt: „‚Piou’ kommt aus unserer Fantasie.“

Lukas macht endgültig Feierabend, mit Benno geht er auf die Suche nach etwas Essbarem. Ich schaue kurz nach gegenüber zu „Piou“. Ich erinnere mich, dass mir Poetry-Slam-Organisator Pott alias Patrick Schmitz davon erzählt hat. Er plant selbst, einen Laden zu eröffnen, und zwar den „Kingking Shop“ in der Kastanienallee, und er hat vor, sein Netzwerk auszubauen und mit vergleichbaren Läden wie „Tatendrang Design“ oder eben „Piou“ zusammenzuarbeiten. Ich gehe danach noch in einen anderen Laden, der eng in diese Braunschweiger Kulturfamilie gehört: Raute Records. Gestern habe ich bei Uwe und Katrin die „Wild Frontier“ von Gary Moore als Doppel-LP mit den ganzen Maxi-Versionen als Bonus gesehen, die möchte ich gerne haben. Und wenn’s aus Pietätgründen ist. Aus denen kaufe ich aber nicht alles: Die LP von Peter Alexander lasse ich stehen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

1 Kommentare

  1. SebastianJ.

    Jodel zur Freiwilligen Selbstkontrolle
    Die Band F.S.K. musste in den gut dreißig Jahren seit ihrer Gründung bis heute nie ohne Justin Hoffmann auskommen!
    Und Buback wurde zwar von zwei Zitronen gegründet, ist mittlerweile aber mehr als nur eine Holding eines malenden Richters – und das, obwohl der Generalbundesanwalt bereits 1977 erschossen wurde. Seltsam, nicht?

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