#63 Zuckertulpen

Montag, 14. Januar

Was für ein schöner sonniger Montagmorgen, es riecht richtig nach Winter, was es ja auch eigentlich sollte. Am Wochenende fiel noch verirrter Schnee, jetzt strahlt der Himmel und lockt die Leute auf die Straße. Mich auch, ins Riptide, ich bin dort mit Claudi Soundschwester zum Frühstück verabredet. Zu einer solch frühen Wochenanfangszeit sind André und Lennard vorerst allein im Café und bereiten es auf die bald eintrudelnden Gäste vor. Wie Claudi und mich. Vom Fahrradfahren sind Claudis Wangen knallrot. Nach der Begrüßung greift sie zielstrebig nach einem der Quartette, die aufgereiht auf der Theke kleben: „Diktatoren“. „Ich plane eine Sendung über Diktatoren“, sagt sie. Damit meint sie ihre fantastische wöchentliche Show „Zimmerservice“ auf Radio Okerwelle. Ideen für moderierte Beiträge zu einer solchen Sendung habe sie schon eine Menge, aber nur wenige Lieder, die passen. Bislang. Mit fällt als erstes „Crack Hitler“ von Faith No More ein, was aber mit Hitler nichts zu tun hat. Und „Hitler – menschlich gesehen“ von Bernd Begemann.

Eines der Quartette in der langen Reihe ist demnächst Anlass dafür, dass ein Fernsehteam von Sat1 im Riptide einen Beitrag dreht, verrät André: Das Kneipenquartett mit den Braunschweiger Bars, Discos und Kneipen. „Die drehen in zwei Kneipen – im Vier Linden und bei uns“, sagt André. Zumindest sei das der Plan gewesen, als Sat1 den ersten Drehtermin im Dezember ankündigte, aber auf verschob. Ob das Vier Linden jetzt also noch dabei sei, wisse André nicht. Beim Blick durch die Quartett-Karten fällt Lennard und mir auf, welche Kneipen, die wir noch mögen, dort fehlen.

Claudi und ich setzen uns in die Ecke am großen Fenster und bestellen bei Lennard unsere Frühstücke, Claudi das Französische, ich das mit Käse. André ist schon wieder unterwegs zum Einkaufen. Um uns herum sortieren sich andere Leute auf die Stühle und an die Tische, von der jungen Familie mit Kinderwagen über die Studenten bis zum alten Mann. Stunde um Stunde verbringen wir mit Brötchen, Kaffee und tausenden Geschichten. Wie die davon, dass eine Freundin von mir für Nordzucker in Kopenhagen arbeitet, und Claudi fragt: „Warum dort – ach so, die gewinnen den Zucker aus dem Meer.“ Und kurz überlegt: „Oder war das Kaffee?“

Die Mittagszeit ist längst vorbei, wir sind gesättigt, unser Durst ist gestillt, unsere Geschichten längst noch nicht alle ausgetauscht, Claudi muss anderen Aufgaben nachgehen, ich will noch etwas bleiben. Beim Bezahlen fällt uns auf, dass das Fach für die zweite Ausgabe des Literatur- und Kunst-Heftchens „12×12“ komplett leer ist. Im Dezember 2011 brachte die Projektgruppe „Katze Bullshit“ – das sind Marcel Pollex und Eileen Kwiecinski – die erste Ausgabe kostenlos unters Volk, ein Jahr später folgte für sie selbst überraschend nun das zweite Heftchen. Darauf aufmerksam machte mich Till Burgwächter am Freitagabend in der KaufBar bei der vorletzten Ausgabe der Bumsdorfer Auslese, indem er seinen darin enthaltenen Text vorlas. So ein Mist, dachte ich noch, kurz vorher war ich im Kingking Shop, sah dort das Heft, erkannte es nicht als neue Ausgabe von „12×12“ und nahm es nicht mit. Bei der Auslese hatte Axel Klingenberg erstaunlicherweise nur noch ein paar Exemplare des eigentlich vergriffenen ersten Heftchens dabei. Also ging ich am nächsten Abend nur kurz ins Riptide, um mir meine Kopie des neuen Heftes zu sichern, denn das gab es da tatsächlich noch, aber der Stapel war schon sehr flach. Heute ist keines mehr da – da hatte ich wohl Glück.

Dafür liegt da das aktuelle Subway, gegenüber im Intro-Fach das Da Capo, mit Fotos von Claudi, wie sie mit Alex Schlagowski beim DDR-Spezial des jüngsten Silver Clubs auflegte, stilecht im FDJ-Hemd. Auf der letzten Seite des Subway steht „Aus Alex wird Axel“, ein Kolumnistenwechsel steht also an, und Claudi weiß, was es damit auf sich hat: „Axel Klingenberg schreibt da ab nächsten Monat.“ Ach. Hat er gar nicht erzählt bei der Auslese. Dafür aber, dass er Braunschweigs einzige Lesebühne nur noch einmal veranstalten wird, im März. „Umfallende Leuchtturmprojekte“ hieß die jüngste Show deshalb. Ein Ende der Lesebühne reißt ein Loch ins kulturelle Angebot der Stadt, finde ich, denn meines Wissens gibt es keine zweite in Braunschweig. Literaturshows ja, Lesebühnen wohl nicht. Und was für ein Spaß war die Freitagabendshow, mit Axel, Till, Holger Reichard sowie als Gästen Johannes Weigel und Schepper, der mit seinem Bass die Show psychedelisch verzauberte. Ein vergnüglicher Riesenspaß in der gottlob rappelvollen KaufBar.

Immerhin, die Show beendete am Freitag den Veranstaltungswinterschlaf der Stadt, ab jetzt geht es wieder aufwärts. Auch Claudi war wieder aktiv, sie veranstaltete am Samstag im Hansa Kultur-Club die „Wild & Tanzbar“-Party. Am Donnerstag zeigt dann das Universum in der gemeinsamen Reihe „Sound On Screen“ mit dem Café Riptide endlich den Film „Heima“ über Sigur Rós, am Freitag findet im Café eine Vernissage statt – welche, weiß Lennard nicht: „Aber ich muss auch arbeiten, das ist gut, da hab ich Thekenbetrieb, das ist ganz entspannt.“ Aha, dabei klingt Thekenbetrieb bei Veranstaltungen eher stressiger. Ist es laut Lennard nicht: „Ich muss nicht herumgehen und die Küche bleibt auch kalt.“ Klingt einleuchtend. Tja, irgendwas wird die zurzeit noch kahlen Riptide-Wände also wieder schmücken.

Einen Wechsel gibt es auch im Kühlschrank, erzählt Lennard: „Wir stellen um, von Hermann-Brause auf Fritz-Limo.“ Außerdem gibt es neues Personal, „zwei neue Jungs, die werden zurzeit eingearbeitet, die waren erst ein- oder zweimal hier“. Die Tür öffnet sich und André schiebt eine Sackkarre voller Einkäufe ins Café. Er stellt die Kisten ab und schiebt die Sackkarre zurück nach draußen. Nach einer Weile kehrt er mit der zweiten Fuhre zurück und verlässt das Café wieder. Lennard nimmt in der Riplounge eine Bestellung auf, vier Fladenbrote. Er legt den Notizzettel auf die Theke und stellt fest: „Ich muss das nochmal aufschreiben, wenn ich schnell schreibe, kann das keiner lesen.“ Er schreibt die Bestellung nochmal auf und geht in die Küche. André kehrt mit der dritten, vierten, fünften Fuhre Einkäufe zurück. In den vielen Kisten vor der Theke türmen sich unter anderem Ketchupflaschen, Tulpen und Maracujasaftpackungen. „Kann ich dir helfen, André?“, fragt Lennard, nachdem er die bestellten Fladenbrote auslieferte. André nickt: „Du kannst gerne den Einkauf wegsortieren und den Pfand runterbringen.“ Lennard quittiert die Aufträge mit einem schlichten „ja“ und macht sich an die Arbeit. André bringt die Sackkarre weg. Auch ich hab noch zu tun und verlasse mit dem DHL-Boten, der sicherlich neue Schallplatten mitbrachte, das Café und freue mich, dass zur Abwechslung mal die Sonne scheint. Am Donnerstag bin ich spätestens wieder hier.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert