#84 Schmerz!

Freitag, 24. Oktober

Mein Zahnarzt ist ein Guter, daran gibt es keinen Zweifel, und er kann auch nichts dafür, aber zurzeit ist er einfach Schuld an meinem unwerten Befinden. Zwar war es ihm vor einigen Jahren gelungen, meine Zahnarztphobie zu überwinden, indem er sie ernstgenommen hatte und das auch immer noch tut, aber dennoch obliegt es seinem Berufsstand nun mal, den Menschen eher unangenehme Situationen zu gestalten. So lustig und behutsam dieser Dentist auch ist, er fügt mir Schmerz zu; sicher, es ist weniger als bei seinen Kollegen, aber ohne geht es naturgemäß nicht. Gestern war nun ein Weisheitszahn dran. Ich hatte bis dato noch alle vier und war darüber – Zahnarztphobie sei Dank – auch glücklich. Doch dieser eine war kariös geworden und sein Nachbar gleich mit. Also doppelter Spaß. In Summe drei Spritzen, eine in den Gaumen. Eine Füllung ausgebohrt und neu verplombt, und dann – ich kannte das Geräusch nicht, das ein Zahn im Kiefer verursacht, an dem geruckelt wird. Ich wusste nicht, wie es im Kopf klingt, wenn Teile des maroden Zahns beim Herumruckeln abbrechen. Nun, es ging vergleichsweise und unerwartet schnell und komplikationslos und tat auch währenddessen nicht weh. Das kam erst später, als die Betäubung nachließ, im Verlauf des Nachmittags mehr, am Abend sehr. Heute ist es weniger der Schmerz, der mich plagt – ich habe Kopfschmerzen, und mein Oberkiefer fühlt sich an, als hätte er untrainiert einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Das Allerschlimmste ist aber, dass ich drei Tage lang keinen Kaffee trinken darf. Auf Alkohol, Tee und Zigaretten soll ich auch verzichten, das ist weniger problematisch, aber Kaffee – gleich während ich mir morgens mantraartig die neue Maßgabe in den brummenden Kopf diktierte, dass ich dieses Mal auf Kaffee beim Frühstück zu verzichten habe, setzte ich routiniert das Wasser auf. Es ist nicht einfach. Und was mache ich im Riptide? Kein Kafka, kein Milchkaffee, kein Wolters – dann trinke ich eben Viva con Agua de Sankt Pauli. Hauptsache, ich bin im Riptide.

Gestern setzte ich mich nach der Behandlung zu Serge und Sidonie ans Schaufenster der Rip-Lounge. Daran merkt man, dass es Herbst wird: Zwar ist Serges Laden geöffnet, aber der Eigentümer sitzt gegenüber hinter Glas, „auf meinem Hochsitz“, wie er sagt, und raucht. Während ich im Gesicht halbseitig gelähmt froh darüber war, dass das Riptide wieder Suppen im Angebot hat, und mir die Erbsen-Dill-Suppe bestellte, die ich wenige Tage zuvor bei Claudi Soundschwester schon positiv in Nasenschein genommen hatte, legte Sidonie ihre eigene Furcht vor Dentisten dar. Ein einendes Thema, das stellte ich danach auch bei Raute fest, als Katrin von ihren Problemen berichtete und fragte, warum Zähne nicht wie Haare und Fingernägel einfach nachwachsen können. „Dann aber bitte nicht warten, bis sie schwarze Stümpfe sind“, sagt Niclas auf Serges Platz, als ich ihm heute diese Geschichte erzähle. Auch er kennt brutale Zahnarztgeschichten. Mit diesem Schmerz ist man wahrlich nicht allein.

Im Café gegenüber hängen überraschenderweise neue Bilder. Die sind Bestandteil einer Ausstellung der HBK, André reicht mir dazu einen Flyer herüber. Die Werke umrahmen die Release-Party zur dritten Ausgabe des Kristel-Magazins, von dem ich noch nie gehört habe, das HBK-Studenten erstellen. „Die Kunst hängt schon, die Party steigt am 8. November“, sagt Chris. Dann sollen die Kristel-Autoren auch aus ihrem Magazin lesen.

André und Chris sind heute mehr als beschäftigt. Abgesehen von den Wünschen der Gäste, die sie erfüllen, packen sie nebenbei Kisten voll mit Schallplatten. „Am Wochenende findest du uns zum ersten Mal auf der Funkmesse in der VW-Halle mit einem Stand“, erklärt Chris. „Wir wollen uns präsentieren, weil da vielleicht auch Publikum von außerhalb kommt.“ André ergänzt im Vorbeigehen: „Und für die nötige Software für High-End-Geräte sorgen.“ Chris sortiert LPs aus den Fächern nach Alphabet und stellt sie in die Transportkisten: „Der Laden geht auf Reisen, sozusagen.“ Er sammelt eine Art „Best Of“ zusammen, sagt er, „wenn man schon die Gelegenheit hat, zwei Tage lang auszustellen“.

Quasi als Belohnung für die Dentalpein war just gestern meine jüngste Vinyl-Bestellung im Riptide eingetroffen, die selbstbetitelte Debüt-EP von Myrkur. Dabei handelt es sich um das Black-Metal-Projekt einer Frau, Amalie Bruun aus Dänemark, die dort eigentlich modelt oder ansonsten im Pop-Duo Ex Cops aktiv ist und den Black Metal einfach mal ausprobierten wollte. Sie unterfüttert ihn mit mehrsätzigem Feengesang und hätte sich ansonsten offen gestanden einen Produzenten leisten sollen, aber insgesamt macht die Musik schon Spaß. Ein-Personen-Black-Metal-Projekte sind bei Frauen rar und bei Männern häufiger, stellt auch Chris fest. Er erinnert sich an das Projekt Professor aus Hannover, das in den 90ern eine Vinyl-Single mit fiesem Rumpeln veröffentlicht hatte. „Das war ein großer Lachkult bei uns“, grinst Chris. Tatsächlich kann man sich die Single „Academizer“ komplett auf Myspace anhören.

Das Riptide ist am 2. November im Fernsehen zu sehen, berichtet André, wie heute öfter im Vorbeigehen. „Das hat aber nichts mit dem Laden zu tun, das wurde nur hier gedreht.“ Während André wieder in der Küche arbeitet, erläutert Chris, dass es dabei um ein Sozialjugendarbeits-Projekt ging. „Ein Schüler, der gern die Schule klemmt, und eine Lehrerin haben sich hier getroffen.“ Das Fernsehen sei lange nicht hier gewesen, und Chris zählt die Sender auf, auf denen das Café bereits zu sehen war – es waren eine Menge. „Fast alle, außer Arte“, sagt Chris. André steckt den Kopf aus der Küche und grinst: „Meine Lieblingsgeschichte“, beginnt er, und erzählt, dass Pro7 im Rahmen des Kneipenquartetts im Riptide drehen wollte. Die mussten den Termin aber verschieben, und als sie den Ausweichtermin bekanntgaben, war es das Riptide, das absagte und um eine weitere Verschiebung bat: An dem Tag war das ZDF zu Gast. „Das geht, oder?“, grinst André und kehrt in die Küche zurück.

Der Oktober ist quasi-golden, sieht man von den feuchten Momenten ab, die wir auch schon zu erleiden hatten. Aber er ist golden genug, um die Gäste nach draußen ins Achteck zu treiben. Das dann aber teilweise in Schal und Mütze, wie Chris belustigt feststellt, als drei dick vermummte Besucherinnen bei ihm vergnügt zahlen. Parallel zu seiner Pack-Aktion ist er immer wieder gefragt: Die Gäste interessieren sich für die dritte Ausgabe des „12×12“-Heftchens von Katze Bullshit, also Marcel und Eileen Pollex, das sie gratis mitnehmen dürfen, oder für den Vorverkauf für den Poetry Slam im Dezember, der jedoch noch nicht angelaufen ist, „so drei bis vier Wochen vorher“, sagt Chris. Andere reservieren einen Tisch für Samstag, und zwar draußen, „das geht“, sagt Chris, „viele machen das, einfach warm anziehen, und wir haben Decken“. Ein anderer fragt nach dem Lemmy-Frühstück, das aus Whisky und Zigarette besteht: „Geht das auch ohne Whisky, nur Zigarette?“ Chris nickt, auch das geht, gegen geringen Obolus: „Kann ich sie dir gleich per pedes geben?“ Er entnimmt einer Schublade eine Schachtel, öffnet sie, schnippt an die Rückseite und lässt einige Zigaretten hervorragen. Der Gast nimmt sich eine. Chris schließt die Schachtel wieder und legt sie ins Schubfach zurück: „Ich übe noch, dass nur eine rauskommt.“ Anna fragt nach dem Magazin „Druff“, das im Riptide jedoch nicht ausliegt, Nora nach einer bestellten Single, und Chris weiß sofort, welche sie meint: Die Split-EP von Touché Amoré und Piano Becomes The Teeth. Dennoch muss er sie enttäuschen, denn die Single ist noch nicht da. Nora schwärmt besonders von letzterer Band, „das Lied ‚Hiding‘ ist ganz toll, das ist der Grund, warum so viele Leute die Single kaufen“, erklärt sie. „Ich war mit einem Kumpel hier, der hat sie mir vor der Nase weggeschnappt, da musste ich sie mir bestellen.“ Chris würde sie benachrichtigen, sobald das Stück eintrifft, und dabei fällt Nora ein, dass sie schon wieder eine neue Mobiltelefonnummer hat: „Ich habe mir in Berlin mein Handy klauen lassen.“ Zum ersten Mal sei ihr das passiert, in Lichtenberg, „angesagte Gegend“, da habe sie mit einer Freundin auf einer Bank gesessen, und gemerkt habe sie den Verlust erst zwei Stunden später, „weil ich nicht alle fünf Minuten auf mein Handy gucke“. Denen, die dies hingegen tun, sagt Chris, passiert so etwas nicht. Nora habe sofort von einem anderen Handy aus ihre Nummer angerufen, doch sei da schon alles gelöscht gewesen. Das macht sie grimmig: „Ich bin immer ehrlich gebe alles ab, was ich finde.“ Sie habe schon diverse hochpreisige Mobiltelefone gefunden, „aber ich brauche die Handys nicht“. Chris zeigt sich stolz auf diese Haltung: „Bewahr dir das.“

Einen weiteren Flyer legt mir André vor die Nase: Am 6. November läuft in der Reihe „Sound On Screen“ im Universum-Kino der Film „As The Palaces Burn“ über einen Totschlagprozess, in den die Band Lamb Of God in Prag verwickelt war. Im Riptide ermöglicht Till Burgwächter anschließend Einblicke in seine Erfahrungen mit dem Heavy Metal. Der jüngste „Sound On Screen“-Beitrag war „20,000 Days On Earth“, die Fake-Doku, in der der Musiker Nick Cave einen Musiker mit dem Namen Nick Cave spielt. Großartig. Mit einer Party im Riptide, bei der Dennis auflegte, den hab ich lange nicht gesehen, seit er in Berlin lebt. Unter seinen ausgewählten Songs war „Milez Is Dead“, der einzige Song von den Afghan Whigs, der mir etwas bedeutet, da freute ich mich doppelt. Auf dem Weg zwischen Kino und Riptide waren Micha und ich noch bei der Bank, und er bemerkte: „Das wäre praktisch, so ein Geldautomat im Wohnzimmer.“ Was für eine Idee.

Niclas bringt seine Teetasse aus der Rip-Lounge an die Theke und bestellt ein ungewöhnliches Glühgetränk: einen Apfelsaft mit Amaretto und einer Zimtstange drin. Hm. Wenn ich nicht das Alkoholverbot hätte, würde ich glatt versuchen, damit meine Kopfschmerzen zu betäuben. Ich fürchte, dass sie davon allerdings nur noch stärker würden. Ich habe auch viel mehr Hunger. Und abermals hm. Noch eine Suppe?

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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