#104 Maximalzersplittert

Sonntag, 12. Juni 2016

Fußball gucke ich immer noch am liebsten mit Frauen. Heute: mit Stef. Die deutsche Fußballnationalmannschaft der Herren tritt um 21 Uhr gegen die Mannschaft aus der Ukraine an. Das könnten wir zwar auch bequem zu Hause verfolgen, aber wir wollen natürlich ins Riptide gehen, weil dort im Handelsweg Fußballgucken eine eigene Qualität und weil das Riptide normalerweise am Sonntag geschlossen hat und wir die Sonderöffnung nicht ungenutzt lassen wollen. Trotz des Regens kündigte Chris rechtzeitig an, die Aktion nicht abzusagen, sondern verwies auf das Segeltuchdach im Achteck und die Decken, die es auszuteilen gäbe.

Der Weg vom Frankfurter Platz zum Riptide ist heute allerdings nicht auf der Strecke frei, die wir zu gehen gewohnt sind: Der Eiermarkt ist wegen des so genannten Public Viewing gesperrt. Wir finden uns an einem Fangzaun wieder, der von niemandem außer uns gequert werden will und hinter dem uns drei südländisch aussehende Securitymänner den freundlichen Hinweis geben: „Ihr kommt hier nicht durch.“ Hinter ihnen herrscht freie Sicht bis zum Altstadtmarkt, wir können unseren geplanten Weg ungebremst entlang blicken und sehen keinerlei Grund, weshalb wir ihn nicht auch gehen sollten. Die drei jungen Männer sind freundlich und sympathisch, daher lassen wir uns gern auf ihre Argumente ein, die da lauten, dass sie nun mal ihre Bestimmungen haben. Stef grinst: „Ihr seid so deutsch!“, und die drei Südländer grinsen mit. „Das haben wir extra für euch so gemacht“, versichern sie uns und ermuntern uns dazu, den Umweg über die Brabandtstraße zu nehmen. So kommen wir an der Garküche vorbei, der Straße zum Public Viewing, durch die nur wenige Schwarzrotgoldgeschmückte wanken. Die hätten wir auch quer gekreuzt haben können. Egal, die unterhaltsame Begegnung war uns dies wert. Und es regnet ja gerade nicht mehr.

Unter dem Segeltuchdach im Achteck ist trotzdem etwas los. Hinter dem Beamer sitzt Chris, neben ihm Marcus. Wir begrüßen beide und gehen trotz längst erfolgten Anpfiffs erstmal ins Café, um uns bei Jakob jeweils ein Wolters zu bestellen. Auch das Sofa drinnen ist belegt, ein Paar guckt sich das Spiel von dort aus durch das Fenster an. Die Leinwand auf der gegenüberliegenden Seite ist gut zu sehen, der Ton dafür umso weniger gut zu hören, aber das ist nicht so schlimm, wenn man nicht auf Statistikgestammel steht.

Direkt rechts vor der Leinwand ist überraschenderweise ein Tisch mit zwei Stühlen frei. Zwar haben wir jeden, der in die Rip-Lounge will, dann kurz vor unserer Nase, aber das ficht uns nicht an. Hinter uns sitzen Leute mit schwarzrotgoldenen Blumenkränzen, Gesichtsbemalungen und Hüten unter Decken gehüllt. Auch nebenan im Tante Puttchen läuft Fußball, wir können die Leinwand sehen und den Ton hören, der dort eine Sekunde früher ankommt als bei uns. Seltsam, das Echo zuerst wahrzunehmen.

Jakob bringt uns die Biere, Stef bestellt gleich noch die Tortillachips mit Käse und Oliven von der EM-Karte. Wir stoßen an: „Voll auf die Elf!“ Vielleicht hilft’s ihr ja. Knapp zehn Minuten gespielt, und der Moderator wird erstmals redundant: „Knapp zehn Minuten gespielt“, teilt er uns mit, „und noch immer kein Tor.“ Stef ist mit ihm empört: „Jetzt habt ihr nur noch 80 Minuten!“ Einer von vielen typischen Wortbeiträgen zeitgenössischer Sportkommentatoren. In der Folge berichtet der Mann unter anderem, dass der Rasen im Stadion erst seit zwei Wochen liegt. Aha.

So richtig konzentriert gucken scheinbar die wenigsten hier im Achteck, man hört sie angeregt miteinander plaudern. Gelegentlich stimmen sie trotzdem in ein kollektives „Ouh!“ ein, wenn es knapp wird. Auch Mustafis Tor bekommen sie mit und jubeln in angemessener Stärke. „Jogi guckt immer, als wäre ein Tor für die anderen gefallen“, findet Stef. Recht hat sie. Unser Bundestrainer hat, wie sie ebenfalls feststellt, seine Signaturkleidung abgelegt: Anstatt des weißen Hemdes mit hochgekrämpelten Armen trägt er ein dunkelfarbloses T-Shirt. „Ich hab grad Jogis Bauch gesehen“, feixt Stef. Da hab ich wohl grad nicht geguckt.

Aber dabei fällt mir eine Fotostrecke im aktuellen Musikexpress ein, die LCD Soundsystem dabei zeigt, wie das Trio im Zuge eines Videodrehs auf dem Boden herumkullert. Dabei kann man auch die Bäuche der beiden Männer sehen (den der Frau nicht). Ja, sie haben Bäuche, sie entsprechen keinen gängigen Idealen. Das finde ich sehr sympathisch. Überhaupt, dass der ungefähr mit mir gleich alte James Murphy seine musikalische Karriere im gesetzten Alter von 30 Jahren erst startete. Er macht erwachsene Musik, die trotzdem neugierig und fordernd ist. Und bei der es eben nicht auf Äußerlichkeiten ankommt. Das Comeback nach fünf Jahren Pause (der Abschiedsfilm „Shut Up And Play The Hits“ lief übrigens seinerzeit bei Sound On Screen, der Musikfilmreihe von Riptide und Universum-Kino) fand ich nicht so überraschend. Eher im überstürzten Abschied impliziert. Anders bei ABBA und den Stone Roses; wer gibt übrigens Wetten ab: Wann treten The Smiths wieder zusammen auf, noch vor 2020 oder erst danach?

Wie schon vor zwei Jahren bei der WM hakt auch dieses Mal gelegentlich das Bild. Es gibt immer noch Stockungen beim Receiver. Ebenso stockt Chris jedes Mal der Atem: „90 Minuten geht das so“, flüstert er uns im Halbdunkel zu. Och, so lang das nicht genau beim Tor ist. Stef imaginiert sich, wie nach dem Einfrieren des Bildes oben plötzlich „0:1“ steht und das Spiel kommentarlos weitergeht.

Uns gefällt das Spiel, und wir mögen unseren Torhüter Neuer, der mit seinem Milchbubigesicht so herrlich nett wirkt. Wir mögen, dass das bisher einzige Tor aus dem Spiel heraus fiel, nicht hineingeschummelt oder aus einer Strafstoßsituation oder so. Es war ein gespieltes Tor, ein Schach-Tor, wenn man so will, was fast wie der ukrainische Verein aus Donezk klingt, was wiederum genau zum Gegner passt. Das nächste Tor wird dann wohl ein Hec-Tor. Stef nickt: „Voll aufs Heck.“

Aber jetzt ist die Ukraine am Drücker. In einer waghalsigen Aktion fuchtelt Boateng rückwärts ins Netz fallend mit dem gestreckten Bein den Ball von der Torlinie. „Das war so’n Millimeter vorm Tor“, staunt Stef aufgebracht und zeigt mit Daumen und Zeigefinger einen halben Dezimeter an. Wir können kaum mit dem Staunen aufhören, da fällt prompt ein Abseitstor der Ukrainer. „Was’n das für’n Krimi!“, echauffiert sich Stef.

Und dann ist Halbzeit. Die Tagesthemen zeigen blutige Nachrichten, die uns mit Entsetzen füllen und einen extremen Kontrast zum Fußballhedonismus bilden. Jakob verteilt Kerzen auf den Tischen und holt uns damit ins Hier und Jetzt zurück. Wir stellen fest, dass an einem der Tische hinter uns die Leute Englisch sprechen. „Das sieht man jetzt öfter“, meint Stef.

Inzwischen ist die zweite Hälfte angepfiffen. Die Bande verrät, dass das Spiel in Lille stattfindet, und hinter dem Ortsnamen steht das Wort „Métropole“. Seltsam, das stand bei den anderen Spielstättenbezeichnungen nicht. Vielleicht liegt es daran, dass „lille“ auf Dänisch „klein“ heißt und die Franzosen da falsche Eindrücke vermeiden wollen.

Jetzt schießt sich Stef auf den ukrainischen Torwart Pjatow ein. „Der kann ja doch was“, grummelt sie bei einer seiner Paraden. Und ergänzt nach der Zeitlupenwiederholung: „Na ja, war ja auch leicht.“ Die Trikots der ukrainischen Spieler geraten ordentlich in Mitleidenschaft. „Auf dem Gelb sieht der Schmutz irgendwie kacke aus“, findet die Modeexpertin neben mir. Nun wird ihr auch mit Jacke zu kalt und sie versucht, im Café eine der Decken zu ergattern. Erfolglos kehrt sie zurück und sieht gerade noch, wie auch Pjatows Spielanzug verunstaltet ist: „Und das Grün sieht auch scheiße aus.“

Ein seltenes Mal sieht man die Ukrainer jetzt im Dauerballbesitz auf das Tor ihrer Gegner zulaufen. „Haben die immer noch den Ball?“, fragt Stef und beginnt, sich darüber aufzuregen. „Nehmt den doch mal weg da!“, schimpft sie und lässt noch ein paar weitere gute Ratschläge vom Stapel. Als sie diese umgehend befolgt sieht, grinst sie: „Das Schönste am Fußballgucken ist das Klugscheißen.“

Überraschender Besuch tippt mich rückwärtig an: Jasmin guckt mir über die Schulter. Wir haben uns ewig nicht gesehen. „Seit ich hier weg bin“, bestätigt die ehemalige Riptide-Mitarbeiterin. „Dabei bin ich oft hier.“ Hm, ich auch, aber gesehen haben wir uns bislang noch nicht. Na, der Fußball bringt uns zusammen. Jasmin nickt: „Es ist gemütlich hier – wenn’s von unten nicht so kalt wär.“ Es solle wärmer werden, wenn auch nicht gleich morgen, weiß sie. In ein paar Monaten könne es hier gern regnen, sagt sie: „Dann bin ich in Italien.“ Da bin ich auch immer gern. Ihr Wunschziel für dieses Mal ist Sizilien oder Sardinien, besonders letztere Insel gefiele ihr: „Ist ruhiger.“ Da ich immer mit dem Auto nach Süden fahre, bleibe ich in Ligurien hängen – auf den Inseln war ich noch nicht.

Der Receiver setzt aus. Den Kehlen um uns herum entfährt ein Geräusch, das ungefähr dem skandinavischen Buchstaben „å“ entspricht. Doch nachdem das Bild wieder läuft, ist Stef ungehalten: „Das ist alles viel zu langsam hier.“ Sie meint das Spiel und überträgt ihren Unmut auf die Gesamtsituation: „Selbst die Chips werden schlabberig wegen der Feuchtigkeit.“ Was das Spiel betrifft, hat sie aber doch Recht. Der Ball rollt ins Aus, der Ansager spricht von der „Möglichkeit zum Wechsel“. Jetzt wird wohl das Land gewechselt. Stef nickt: „Ich bin jetzt für die Ukraine.“ Ein weiteres Indiz dafür, dass das Spieltempo gedrosselt ist, steuert der Sprecher bei: Er faselt vor sich hin. Gerade ist irgendetwas zu hören von „… wir den einen Freistoß von …“, da versteht Stef: „Den alten Fleischkloß???“ Ich bekomme Schnappatmung. Nein, Schweden spielt nicht, auch wenn die Trikots der Ukrainer so aussehen. „Wenn Schweden gegen Deutschland spielt, spielt dann Köttbullar gegen Bulette?“, fragt Stef. Klops, wende ich ein und versuche, meine Atmung zu kontrollieren.

Einmal mehr sind die besudelten gelben Trikots zu sehen. „Wie die aussehen!“, moniert Stef. „Als hätten die sich im Schlamm gesuhlt.“ Die Trikots der Unsrigen sind obenrum weiß und untenrum schwarz: „Bei den Deutschen sieht man das nicht so.“ Klar, weil der Hosenboden von sich aus schon schwarz ist. Und dabei ist der Rasen erst zwei Wochen alt. „Der kann doch noch gar nicht dreckig sein“, meint Stef.

Pjatow ist wieder Stefs Unmutsrezeuger. „Der Torwart nervt“, sagt sie, weil die deutschen Spieler immer wieder vergebens versuchen, den Ball an ihm vorbei ins Netz zu friemeln. „Kann der nicht mal Pause machen?“ Macht er natürlich nicht, aber die Spieler ebenso wenig: Unablässig halten sie aufs Tor zu und wirbeln dabei ganz viel Gras auf. „Guck mal, was die da machen mit dem Rasen“, ruft Stef. „Der ist gerade neu! Da können sie mal ein bisschen vorsichtiger mit umgehen.“

Kurz vor Ablauf des Spiels wechselt Jogi Löw Schweinsteiger ein. In einem Konter läuft der los, bekommt den Ball auf den Fuß und manövriert ihn ins Tor. Abpfiff, 2:0 gewonnen. Wie der strahlt! Verglichen mit vor zehn Jahren ist aus dem pickligen Schweinsteiger ein richtig sympathischer Mensch geworden, den man schon allein vom Hingucken doll mögen kann. Wer sich so freut, der hat sein Tor auch verdient. Jetzt zerren sie Mustafi vors Mikrofon und fragen ihn irgendwas. Während der Antwort zupft er sich am Ohrläppchen. „Die fassen sich auch immer zuerst ans Ohr“, sagt Stef. „Typische Fußballergeste.“ Da hat sie Recht, das ist mir noch nie so aufgefallen. Dann zeigen sie Boatengs Parade noch einmal, dazu ein paar lustige Parodien, die sofort im Internet herumgeistern. Die beiden Studiosprecher erinnern sich, dass Ditmar Jakobs sich bei einer solchen Aktion einst den Rücken aufritzte, als die Netze noch mit Haken am Gestänge befestigt waren. Und war da nicht auch mal ein aufgeschlitzter Oberschenkel die Folge von so etwas? Ich frage Chris, der gerade den Beamer abmontiert, wer das mit dem Oberschenkel war. „Der Trainer von Duisburg, Ewald Lienen“, kommt es sofort. Das war aber durch eine Stolle, unter dem Schuh eines gegnerischen Spielers, setzt Chris fort. „Das mit dem Rücken war wer vom HSV“, weiß er, und als guter Zuhörer bei Fußballübertragungen kann ich sofort Ditmar Jakobs anführen. „Der musste danach seine Karriere beenden“, ergänzt wiederum Chris.

Im allgemeinen Aufräumen geschieht Aline am Nachbartisch das Missgeschick, dass ihr eine Teetasse zu Boden fällt und in Millionen Scherben zerschellt. Jakob steigt mit einer leeren Getränkekiste in den Händen darüber hinweg und bemerkt lapidar: „Na, die ist ja maximalzersplittert.“ Wir noch nicht, deshalb bestellen wir noch je ein Bier und lassen den Fußball Fußball sein. Auch bei Regen und Nichtsowärme ist es doch schön hier. Bald wieder!

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de

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