#118 Die Spur des Raaben

Dienstag, 29. August 2017

Es ist dies fraglos ein seltsamer Sommer, und ebenso fraglos sahen die jüngst zurückliegenden Sommer nicht wesentlich anders aus. Vielleicht waren sie weniger kalt als dieser, aber nass, unbeständig und gewittrig sind die Monate von Mai bis September schon länger. Man vergisst das so schnell. Heute ist es ausnahmsweise einmal warm und sonnig, das ist selten in diesem Jahr. „So schlecht war der Sommer gar nicht“, widerspricht André, aus der Küche kommend. „Doch“, entgegnet Chris am Kassen-PC: Achtzig Prozent seien nass gewesen. Dazu fällt mir der Satz ein, den Juri vom Critical Mass Ride letztens beim Einkaufen zu mir sagte: „Hoffentlich ist der Sommer bald vorbei, dann wird es endlich wieder warm.“ Heute zum Beispiel, und alle Gäste sitzen natürlich draußen, im Achteck, im hellen Licht, wenn auch nicht in der Sonne, weil die es zwar nicht direkt zwischen die Häuserwände des Handelswegs hindurch schafft, aber immerhin eine ungewohnte Helligkeit und Wärme verbreitet.

Im Café selbst sitzt so gut wie niemand. Wer an die Theke tritt, tut dies zum Bestellen oder Begleichen der Rechnung für bereits Bestelltes. Einen veganen Cupcake und einen Kaffee ordert Sue bei Chris, nicht nur für sich, und sie möchte gern die Verpflegungsmittel zusammen mit einer Schallplatte per Karte bezahlen, was durchaus möglich ist, wie Chris ihr gern versichert, „wenn die Platte da ist“. „Ist sie“, sagt Sue, „ich hab sie schon gesehen.“ Sie hüpft zum entsprechenden Fach, begleitet von Chris, „von Johnny Cash, ‚Live At murmelmurmel Prison‘.“ Chris ergänzt „Folsom“ und Sue nickt froh. Gemeinsam fischen sie das Vinyl aus dem Fach, und während Chris mit ihr zur Theke zurückkehrt, erzählt er Sue von den Umständen des Konzertes, vom Gefängnisleiter, der Cash bat, die Gefangenen nicht mit Gefängnisliedern an ihren Standort zu erinnern, sondern mehr Liebeslieder zu spielen. „Und was macht er?“, fragt Chris und antwortet selbst: „Er spielt nur solche Lieder – das war Punkrock!“ War das nicht auch das Konzert, bei dem das berühmte Stinkefingerfoto entstand? „San Quentin“, wirft André ein, der zufällig aus der Küche kommt. Und es scheint, als sei die LP nicht für Sue selbst, sondern ein Geschenk. Sue nickt: „Das ist Tradition bei uns in der Familie: Valentinstag ist bei uns das ganze Jahr über.“

Der erste runde Geburtstag steht für das Café Riptide an, genau am 16. September wird es zehn Jahre alt. Zufällig ist das dieses Jahr ein Samstag, das wird ein langes Wochenende. Die Pläne stehen schon, weitgehend, berichtet Chris. Zehn Jahre. Ich war am ersten Tag hier und bin es immer noch. Für mich ist das Riptide immer neu, jung, frisch. Und dann stehen einmal Leute neben einem, die erzählen, sie kennen das Riptide „noch von früher“, was ich von ganz anderen Einrichtungen sagen würde, zum Beispiel dem Farmer‘s Inn in Uetze. Aber jetzt gehört das Riptide zum Alteingesessenen, es ziehen Erwachsene nach Braunschweig zurück, die ihre Jugend im Riptide verbrachten. „Man fühlt sich so alt“, sagt Chris, das Küken.

Und dann listet Chris das Festprogramm auf: „Am Freitag gibt es ein Konzert mit einer Band, die es seit vier Jahren nicht mehr gibt: Killing Joke.“ Na, den Witz erkenne ich, denn die gibt es ja noch, aber er spielt damit auf eine gemeinsame Leidenschaft an. In Wahrheit kommen The Driftwood Fairytales aus Berlin, deren Mitlieder dort längst allesamt in anderen Konstellationen Musik machen. „Das ist eine Folk-Punk-Band, die ist für einen Abend bei uns und der Eintritt ist frei“, freut sich Chris. „Der Samstag ist der Haupttag, der wirkliche Geburtstag“, fährt er fort. Dann gibt es Freibier, Gratis-Prosecco, Tombola, Verlosung, „und das Ganze endet in einer Riesenschlammschlacht, äh: -party!“ Es legt ein gewisser Butch Cassidy auf, der mir dies in Persona mitteilt, zusammen mit T.Mo von Indie.Disko.Gehn, den ich von diversen Runden mit dem Silver Club kenne und der seit einiger Zeit in Berlin lebt. „Das wird Halligalli“, verspricht Chris. „Und am Sonntag lassen wir es ausklingen.“ Seit Mai bietet das Riptide wieder ein Frühstücksbuffet am Sonntag an, und in diesem Zuge gibt es Perlwein: „Jeder, der frühstücken will, kriegt Sekt gratis, so lange der Vorrat reicht.“ Und das sind nur die Eckdaten, Details arbeiten Chris und André noch aus. Sicher ist, dass sie neues Merch anbieten; Chris zählt auf: „Riptide-T-Shirts, Riptide-Jutebeutel, Riptide-Buttons, Riptide-Aufkleber, Riptide-Flammenwerfer.“ Den will ich haben. „An dem arbeiten wird noch“, sagt Chris. „Alles in Bio-Fairtrade-Qualität!“ Auch der Flammenwerfer? Chris nickt: „Limitiert auf 5.000.“

Und dabei gab‘s doch erst vor ein paar Tagen ein Fest, an dem auch das Riptide beteiligt war, den Sedan-Bazar nämlich, das Straßenfest im Handelsweg mit allen Beteiligten. Schepper spielte auf, einer eigenen Tradition folgend, und das musste ich natürlich miterleben. Als er gerade mit seinem elektrischen Bass akrobatisch hinter dem Rücken solierte, wehte ihm der Wind seinen Banner ins Kreuz. „Gut, dass ich meine Stoßstange dabei habe“, parierte er. Nach ihm spielte das Duo Silent Radio akustisch alternative Mitsinghits, mittendrin wie spontan ergänzt von Wolf Kadaver, der aus dem Publikum heraus per Megaphon eine Textzeile ergänzte und sich dann für einige Lieder mit auf die Bühne setzte. Passend zur aktuellen politischen Bewegung spielten sie auch einen Song der Tanzenden Kadaver, der deutlich gegen Rassismus Stellung bezieht.

Heute ist die Vitrine auf der Theke ein begehrtes Ziel für viele Gäste. Sonja drückt sich beinahe ihre Nase platt und deutet auf Schälchen mit für mich seltsamem Inhalt: „Was‘n das, Chia-Pudding?“, fragt sie Chris. Sie liegt richtig: „Ja, Vanille-Chia-Pudding, hausgemacht.“ Chia sei seit einem Jahr das neue Superfood, erklärt mir Chris, und Sonja findet den Preis zwar angemessen, kann ihn mit ihrem schmalen Budget jedoch nicht begleichen, denn sie bestellt sich noch einen Kaffee und zwei Zigaretten. „Auch Feuer?“, fragt Chris. „Das ist noch drin“, murmelt Sonja, in ihrer Handtasche wühlend, und setzt sich natürlich auch nach draußen.

Dabei stößt sie beinahe mit Gideon zusammen. Einst war er hier Angestellter, heute kommt er als Gast, und zwar als schneller: „Ich bin auf dem Weg nach Japan“, erzählt er strahlend. Nicht mit GR:MM, seiner Band, sondern als Reisender, also anders als vor einem Jahr das Duo Kackschlacht, das tatsächlich eine Tour durch Japan machte. Für mich ist das immer noch eine Herzensinformation; ich mag die imaginäre Überschrift: „Kackschlacht in Japan“. Gideon bestellt und geht ebenfalls hinaus.

Nach Electro-Plattenläden erkundet sich Marniesch bei Chris. Da es in Braunschweig überhaupt nur zwei Plattenläden gibt, verweist der den Gast auf die mittlerweile leider ausgedünnte Electro-Abteilung im Riptide, und berichtet, dass es in Braunschweig zwar eine bundesweit bekannte große Drum-And-Bass-Szene gebe, doch dass der Boom an Plattenkäufen inzwischen weit zurückgegangen sei. Es gebe viele inoffizielle Partys und Veranstaltungen, sagt Chris, sowie famose DJ-Crews, wie BoomZound, die Stef mit Kult-Tour schon für den Lichtparcours 2016 am Hafen sowie für die Groovedeck-Party bei der Kulturnacht buchte. Marniesch saugt alle Informationen auf. Er ist erst den zweiten Tag in Braunschweig, kommt aus Weimar, spielt Schlagzeug im Staatsorchester, nicht in Bands, also eher bei Opern und so, und erzählt von der Kulturszene in seiner Heimatstadt, die durch den Austausch der akademischen Fachrichtungen begünstigt werde. Ein Traum. 1999 war ich in Weimar, als es Kulturhauptstadt von Europa war, und entdeckte den linksorientierten Schriftsteller Gerhard Branstner für mich, der live im Goethehaus las. Unser Goethe ist Wilhelm Raabe, sage ich, und Marniesch lacht: „Gibt es auch eine Statue von ihm?“ Ehrlich gesagt: keine Ahnung. „In Weimar ist die Statue von Goethe und Schiller das meistfotografierte Objekt“, erzählt er. Jetzt blättert er sich durch die vermeintlich schmale Electro-Auswahl im Riptide und konsterniert schon nach wenigen Momenten: „Ah, schon was gefunden.“ Mit der „Subtemple“-10“ von Burial in der Hand fragt er Chris nach einer Möglichkeit, sich Schallplatten anhören zu können. Chris händigt ihm „das System“ aus, das Marniesch am Tonarm befestigen muss. Dies tut er und stellt dann mit Bedauern fest: „Das ist nicht die, die ich dachte“, steckt die Platte wieder zurück ins Fach und händigt Chris „das System“ aus. Den Tipp mit BoomZound speichert er sich und geht dann, mit dem Versprechen, wiederzukommen.

Dies tut auch Gideon, der es jetzt erheblich eilig hat: „Ich muss zum Bahnhof.“ Mit dem Zug nach Japan, soso. „Schreib eine Karte“, sagt Chris und weiß: „Das sagt jeder.“ Doch Gideon sagt zu: „Wenn ich eine finde, gern.“ Chris deutet auf die kleine Postkartensammlung hinter sich: „Japan fehlt uns noch.“ Mit dem Zug geht es zunächst nach Berlin, einen Freund treffen, berichtet Gideon, und dann erst fliegt er nach Japan. „Wie lange?“, fragt Chris. Knapp zwei Wochen, entgegnet Gideon, und ich finde das sehr lang für einen Flug. „Nee“, sagt Gideon“, „der dauert nur 26 Stunden, mit acht Stunden Aufenthalt in China.“ Und weg ist er. Saynonara!

Zum Bezahlen stellt sich Melissa neben Chris, hinter die Theke. So macht man das jetzt also. „Nein“, korrigiert sie meinen Eindruck, „ich arbeite seit drei Minuten.“ Also vom Gast direkt zum Dienst. Sie übernimmt es dann, meine Käufe zu kassieren, also meine Fritz-Kola und die handnummerierte 100 von 500 Exemplaren der LP „Ein Haufen Scheiß und ein zertrümmertes Klavier“ von F.S.K., der Bandinstitution mit Wolfsburgs Kunstvereins-Vorsitzendem Justin Hoffmann an der Gitarre. Die Platte und das neue Intro nehme ich mit auf meinen Weg irgendwo in die Sonne. Und in die Mücken. Irgendwas ist ja immer.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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