#15 Die Drei Drachenschlachter

Dieser Freitag ist ungemütlich grau und windig. Die Gäste, die es ins Riptide weht, werden von Hanna begrüßt. Sie macht ihr Berufsschulpraktikum im Café und wirkt so souverän, dass man auf diese Idee gar nicht käme. „Mein Fachgebiet ist Ernährungswissenschaften, deshalb musste es im Gastrobereich sein“, erklärt sie. „Das Praktikum ist das letzte, was ich mit der Schule hier mache, danach ziehe ich nach Amsterdam“. Ihr Freund hat dort einen Studienplatz, sie geht mit ihm. „In den Niederlanden geht ein Studium auch ohne Abi“, sagt sie, „ich muss nur ein Jahr zur Hochschule gehen, das mache ich und studiere dann Journalismus.“ Auf Englisch, nicht auf Niederländisch. „Ich habe zwar an der Volkshochschule eine Kurs belegt, aber ich traue es mir noch nicht zu, in der Sprache auch zu studieren“, sagt Hanna und verschwindet in Richtung Küche. „Jetzt mache ich erst mal einen Burger.“

In der Küche hilft Marco täglich für zwei Stunden aus. Ihm gehörte einst der Fasanenkrug. „Er hat mal mit Axel Klingenberg zusammengewohnt“, spannt André den Bogen zur Abendveranstaltung. Axel wird heute Abend nämlich zusammen mit Frank Schäfer und Till Burgwächter die Lesung „Das ist ja wohl die absolute Härte!“ bestreiten. Zu dritt sind sie bislang noch nie aufgetreten, lediglich in allen erdenklichen Zweierkombinationen waren sie schon vorlesend unterwegs. Für Chris und André bedeutet dies, das Café rechtzeitig vorzubereiten. Für eine Stunde soll es daher geschlossen bleiben und pünktlich um acht wieder die Türen öffnen. Aber noch ist das Riptide offen für sein Publikum.

Chris erzählt, dass seine Mutter bis zur Rente an der Schule unterrichtete, auf die Hanna geht. „Ich muss jetzt ganz viele Lehrer grüßen“, sagt Hanna grinsend. „Alle Schüler sind durch ihre Hände gegangen, hat sie immer gesagt“, erzählt Chris und schiebt die „Dust Sucker“-Doppel-LP von Captain Beefheart And The Magic Band in eine Schutzhülle. Sieht schick aus, die Platte. „Sie haben vor kurzem einige Beefheart-Alben neu rausgebracht“, sagt Chris. „Das ist wie bei Zappa: Alle sagen, der ist ein Genie, aber keiner kennt ihn.“ Hanna kennt Zappa. „Seit neustem habe ich das Zappa-Poster überm Bett hängen, auf dem er auf dem Klo sitzt“, sagt sie. „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sehe ich Frank Zappa auf dem Klo – kein schöner Anblick, das muss nicht sein.“ Ihr Freund hatte das Poster aufgehängt. „Sind ja nur noch drei Wochen“, grinst Hanna.

„Kann ich da mal reinhören?“, fragt Moritz und legt André die „Jewels“-CD-Hülle von den Einstürzenden Neubauten vor. „Na klar“, sagt André, sucht die passende CD heraus und gibt sie ihm. „Seit ‚Kollaps’ höre ich die Neubauten“, erzählt Moritz. „Ich hab mit dem Krach angefangen.“ Bei den neueren Alben mag er die Texte nicht mehr so gerne. „Das ist für mich so Pseudo-Lyrik“, findet er. Es habe eine Zeit gegeben, da habe er nichts anderes als die Neubauten gehört. „Weil es einfach nichts Vergleichbares gab – aber heute könnte ich das auch nicht mehr den ganzen Tag hören.“ Er schnappt sich die „Jewels“ und setzt sich an den CD-Player.

Wenn nicht, wie heute, eine Abendveranstaltung geplant ist, wird das Riptide jetzt am Wochenende zur Lounge. „Ab 20 Uhr machen wir einen Umbau, dämpfen das Licht und erzeugen ein bisschen Lounge-Atmosphäre“, sagt André. „Wir legen dann die Tischaufbauten auf das eine CD-Regal und nutzen es so als Tisch, der wird gerne genutzt, da finden auch große Gruppen Platz.“ Außerdem gibt es Cocktails im Riptide. „Das sind eher Zweimischgetränke“, sagt André, „ich weiß nicht, ob man die schon als Cocktails bezeichnen darf.“ Es gibt Schnäpse, Jägermeister, Wodka und Whiskey. „Als Mixgetränke haben wir Highball, das ist Whiskey mit Ginger Ale, oder Screwdriver, das ist Wodka-O“, zählt André auf.

„Neurosis“ steht auf Mathis’ Pullover, „Neurosis“ steht auch auf der einen LP, die er zur Kasse trägt, darunter „The Eye Of Every Storm“. Auf der anderen LP steht „Dummy“ neben dem Namen „Portishead“. „Die Neurosis ist für einen Freund, die habe ich selber schon“, sagt Mathis. Und die „Dummy“ bezahlt gerade sein Begleiter. „Die habe ich auch selber“, grinst Mathis. Er selbst hat sich noch eine ganz andere LP gekauft: „Board Up The House“ von Genghis Tron. „Die machen so Grind-Geballer“, sagt Mathis. „Die treten auch live auf, die haben einen Drumcomputer, zwei Keyboarder und zwei Gitarristen“, erklärt er. Und grinst: „Diese Platte ist verglichen mit der davor schon fast strukturiert.“ Er schiebt seine LP zurück in die Tüte zu den Schutzhüllen, die er ebenfalls hier gekauft hat.

Außer der Bionade hat das Riptide jetzt auch die Limonadenmarke „Bios“ im Repertoire. „Die ist ohne Zuckerzusatz und mit dem Bio-Siegel, das greift sogar stärker als die EU-Norm“, sagt André. „Die Sorten sind ein bisschen an Bionade angelehnt“, meint er und zählt auf: „Holunder-Traube, Orange-Ingwer, Lemon Grass und Red Apple.“

Währenddessen sortiert Chris einige neue LPs in die Fächer und beginnt anschließend damit, schon einmal Kleinigkeiten für den Abend zurechtzurücken. „Habt ihr die ‚Life Won’t Wait’-LP von Rancid hier?“, fragt ihn Sina. Chris sieht im Fach nach. „Wir haben noch eine da, als Picture-Vinyl, davon gibt es nur 500 Stück“, sagt er. „Die hat die Band sogar selber rausgebracht.“ Eine große Freude für Sina. „Ein Glück, dass ich die bekommen habe, da wird er sich freuen!“ Aha, sie kauft das rare Stück nicht für sich selbst? „Das ist ein Geschenk, und genau die fehlt ihm noch.“

Inzwischen werden nicht nur Kleinigkeiten geräumt. André schiebt die CD-Regale beiseite, lehnt die Tischabdeckung daneben, stellt die Pflanze dahinter. Der Zeitschriftenaufsteller kommt auch in die Ecke. Das Café ist zwar eigentlich fürs Publikum nicht mehr geöffnet, leer ist es trotzdem nie. Einige Gäste bieten sogar ihre Hilfe an. Allmählich trudeln die drei Leser ein, Till ist der erste. Er hat eine wilde, lockige Mähne und trägt ein Rob-Halford-T-Shirt und eine Helloween-Jacke. „Ich bin das erste Mal hier“, sagt er, während er seine Blicke anerkennend durch das Café streifen lässt. „Frank hat davon erzählt, dem hat das sofort gefallen.“ Till wohnt seit zehn Jahren in Braunschweig, kommt aber ursprünglich aus Gifhorn. Wie Frank, der aus einem Nachbardorf stammt. Axel kommt aus Bodenteich, das heute Bad Bodenteich heißt. „Stimmt, wir kommen alle beinahe aus einer Gegend“, sagt Till.

Er sieht die neue Eläkeläiset-CD „Humppa United“ auf dem Tresen. „Zu denen haben auf dem Wacken 30.000 Leute Polonäse getanzt“, erzählt er, und geht über zur Band Van Canto. „Die machen Metal mit ihren Stimmen, nur der Schlagzeuger ist echt.“ Auf dem Rockharz-Festival habe er die gesehen, dort hätten sie zur hälfte Covers, zur Hälfte eigene Stücke gespielt. „Für eine halbe, dreiviertel Stunde ist das interessant.“ Gecovert hätten sie alles von Europe bis Slayer – „ungefähr das, was ich auch höre.“ Damit kommt er zum Thema Genres. „Heavy-Metal-Hörer sind Fans für immer“, meint er, „und das wissen die Promoter.“ Als Beispiel nennt er Bon Jovi und Bryan Adams, „die hören sich ja eigentlich gleich an.“ Aber da Bon Jovi ihre erste Tour im Vorprogramm einer Metal-Band gebucht hätten, wären die im Bewusstsein der Fans nach wie vor dem Metal zugeordnet – „Bryan Adams nicht.“ In diesem Augenblick kommt Axel dazu. „Die braucht man heute aber beide nicht“, meint er. Axel trägt ein gestreiftes dunkles Hemd, keine Metal-Insignien. „Ich halte mich offen für alles“, grinst er. Jetzt ist auch Frank da, im Thin-Lizzy-Shirt. „Ich höre alles, was gut ist“, sagt Axel gerade, und Frank ergänzt lachend: „Ich höre alles, was so im Radio läuft.“ Axel: „So Rock Pop, nur nicht die harten Sachen.“ Frank: „Ich mag nur die Balladen von denen.“ Alle drei brechen in schallendes Gelächter aus. Es geht gut los.

Chris bereitet den Lesetisch vor und fragt nach Details: „Wollt ihr ein Mikro oder drei Mikros?“ Darauf Frank: „Also, ich brauche nur ein Mikro.“ Till, Axel und Frank besprechen die Sitzreihenfolge. „Ich habe mal gehört, dass rechts immer der Chef sitzt“, meint Axel grinsend. Till entdeckt die „Feuermond“-Dreifach-LP der Drei Fragezeichen im Fach hinter dem Tisch. „Auf LP – geil, dass es die noch gibt“, staunt er. Um die drei herum stellen Chris und André Lautsprecherboxen auf, verteilen Mikros und bereiten die Bierbänke für das Publikum vor. Chris fragt nach einer Einmarschmusik. „‚Der Hund von Baskerville’ von Cindy und Bert“, schlägt Axel vor. Alle lachen. „Meine Lieblings-Heavy-Metal-Version ist ‚Fuchs geh voran’ von den Scorpions“, sagt Till. „Das ist ‚Fox On The Run’ von den Sweet auf Deutsch.“ Das haben die Scorpions unter dem Namen „The Hunters“ 1975 herausgebracht. „Und du willst uns nicht veräppeln?“, fragt Frank. Will er nicht.

Allmählich rollen die drei ihre Rock’n’Roll-Vergangenheit auf. „Ich habe in Gifhorn bei der Band ‚Cryptic Voices’ Gitarre gespielt“, will Till eigentlich gar nicht erzählen. „Wir haben uns den Proberaum damals mit Gastric Ulcer geteilt“, sagt er. Deren Sänger Marco ist jetzt bei Very Wicked. „Papa Gore hat eine klasse Stimme“, findet Till. Der Bodenteicher Axel kennt natürlich auch die Discothek „Exil“. „Ich war beim Eröffnungsabend dabei, da haben einige Bands gespielt“, erzählt Axel. „Das muss Anfang der 80er gewesen sein, meine ältere Schwester hat mich da mitgenommen.“ Für die Bodenteicher sei es wunderbar gewesen, dass die das Exil im Ort gehabt hätten. „Ich habe zwar am anderen Ende gewohnt, aber es war trotzdem praktisch, dass man nie irgendwo hinfahren musste“, sagt Axel. Frank hat seine Zeit im Gifhorner „Moorkater“ verbracht, auch mit Bandauftritten, mit „Salem’s Law“ und „Operation Daisyland“. „Im Kater waren wir fast nie“, sagt Axel. „Wie, nie im Kater?“, hält Frank entrüstet dagegen. „Wozu“, meint Axel, „Wir hatten’s ja zu Hause.“ Die drei zählen lauter alte Disconamen auf. „Penny Lane, Mausefalle“, meint Axel, „und kennt noch wer das Amazonas in Hankensbüttel?“ Heike kommt dazu. „Jembker Hof und Farmer’s Inn“, wirft sie ein. Von irgendwo fallen noch die Namen Schlucklum und Panopticum.

Es geht los. Mehr als 60 Metalheads und Literaturinteressierte haben sich auf Bierbänken und Stühlen oder an der Theke lehnend eingefunden. Die Stimmung ist heiter und gelöst, sowohl beim Publikum als auch bei den drei Stargästen, die sich zunächst vorstellen. Till schreibt unter anderem für den „Metal Hammer“, Axel beim „Punchliner“. „Außerdem ist er Chef der Bumsdorfer Gerüchteküche“, behauptet Frank. „Hey!“, ruft es da gespielt entrüstet von hinten. Das war Roland, der ebenfalls bei der Bumsdorfer Gerüchteküche mitmischt. Frank liest als erster, und zwar aus seinem Buch „Generation Rock“. Jeder der drei hat als ersten Text einen Bericht über eine Band oder einen Musiker herausgesucht. Frank berichtet von den Hellacopters, Axel von Swantje und Till von Ozzy Osborne. Frank liest in einem langsamen, verschwörerischen, sehr spannungsgeladenen Tonfall, Axel eher munter, beinahe heiter, und Tills Stimme rollt die Geschichten und Glossen, als wäre er selber ein Metal-Growler. Die drei schaffen gekonnte Überleitungen und gehen aufeinander ein. Sie reichen den inhaltlichen Staffelstab weiter, wo manchmal sogar eigentlich keiner ist. „À propos Kindergeburtstag“, heißt es zum Beispiel. Die positive Stimmung der Leser wird vom Publikum aufgenommen. Jeder der drei hat einen anderen Schwerpunkt in der Berichterstattung, doch was sie alle eint, ist die Tatsache, dass man die Inhalte auch losgelöst vom Heavy Metal nachvollziehen und teilen kann. Zahlreiche Juchzer und Quieklacher aus dem Publikum quittieren das. Eine herrliche Mischung. Es gibt eine kurze Pause, die viele rauchend vor der Tür verbringen, dann geht es weiter. Man kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus. Man spürt die Zuneigung der drei zueinander, das fließende Miteinander. Am besten sollten sie niemals aufhören zu lesen, zu erzählen, sich ins Wort zu fallen und schlagfertig lustige Seitenhiebe zu kommentieren. Doch irgendwann muss Schluss sein. „Möchte einer meiner Kollegen noch etwas sagen?“, fragt Axel. „Heavy Metal is the law“, meint Till. Und Frank: „Dem schließe ich mich an.“

Wieder strömen die Leute zum Rauchen nach draußen, die drei Stargäste ebenfalls. Frank muss sogar schon nach Hause, Till und Axel mischen sich unters Publikum und sprechen mit Gästen und Bekannten. Ex-Bassist Kui kennt Frank noch aus seiner gemeinsamen Zeit bei den Bands „Operation Daisyland“ und „Salem’s Law“, heute singt er bei „Carbid!“, einer Metal-Cover-Band. „Bei Salem’s Law habe ich noch gesungen und Bass gespielt, bei Operation Daisyland schon nur noch gesungen“, erzählt er. „Ich habe eine Zeitlang beides versucht, aber das ist mir zu viel Arbeit“, gesteht er. „Ich muss auch gleich noch zur Bandprobe“, sagt er. Nach 23 Uhr? „Unser Schlagzeuger kommt mit dem Zug aus Frankfurt“, erklärt Kui. „Er ist länger in der Band, als er in Frankfurt wohnt.“ André steht hinter der Theke und gibt Getränke heraus, Hanna macht sich auf den Heimweg, Marco steht entspannt im Türrahmen der Küche, Chris klappt Bänke zusammen. Überall stehen Leute herum, sprechen, trinken, lachen. Von der Winterkälte ist nichts zu spüren.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de

2 Kommentare

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