#25 Frickelhaftigkeit

Montag, 23. November

Wenigstens der November hält, was er verspricht: Es ist zwar Tag, doch unterscheidet sich die Helligkeit kaum von der Nacht. Immerhin regnet es gerade einmal nicht. Am Samstag war es noch so mild, dass sogar viele Gäste draußen saßen, nicht nur zum Rauchen. Heute sitzen alle Gäste im Riptide. Am Tresen ist Chris dabei, neue LPs, Singles und CDs mit Preisschildern zu etikettieren. André ist derweil in der Küche beschäftigt. Unter den Singles, die durchs Chris’ Hände gleiten, ist auch eine von Pearl Jam. „‚The Fixer’, aus dem Album ‚Backspacer’“, erklärt Chris. „Es gibt so Bands“, setzt er an, und zählt auf: „Radiohead, Coldplay, Muse, Placebo und eben Pearl Jam – die Singles kannst du beiseite stellen, da vervierfacht sich der Wert.“ Chris schreibt einen Preis auf ein Etikett und klebt es auf eine CD. „Es gibt alte Coldplay-Singles, die kosten jetzt 40 Euro.“

Es gibt außerdem ein großes Hallo, als nämlich Kim und Nadine das Café betreten. André kommt aus der Küche, trocknet sich die Hände an einem Handtuch ab, begrüßt die beiden und kehrt dann wieder in die Küche zurück. Auch Chris schüttelt ihnen die Hände. Sie sprechen über den vergangenen Freitag, als das Riptide an der ersten Braunschweiger Cocktailnacht teilnahm. „Die haben wir organisiert“, erzählt Nadine. Sie ist Mitarbeiterin der „Projektagentur Plan B“, Kim ist ihr Chef. Der sitzt im Hauptsitz in Münster, Nadine leitet eine Zweigstelle in Hannover. „Nicht ganz in Münster, sondern in Havixbeck – aber wer kennt Havixbeck, deswegen sage ich immer Münster“, meint Kim. „Der Chef hat schon jahrelang im Gastronomiebereich Kneipenfestivals gemacht“, sagt Nadine. „Im Gespräch mit Gastronomen in Münster kam dann die Idee: Beim Honky Tonk war die Bude voll, wie schaffen wir das ein zweites Mal?“ Die Lösung: „Cocktails statt Bands.“ In Braunschweig war das die erste Cocktailnacht, im April folgt die zweite. „Bis Ostern machen wir das in 30 Städten“, sagt Kim. Am 8. Januar zum Beispiel in Wolfsburg, auch Magdeburg und Celle stehen auf der Liste. Mit der Resonanz in Braunschweig waren die beiden zufrieden. „Die Verkaufszahlen waren super, es sind viele Leute unterwegs gewesen, auch die Gastronomen fanden’s ganz gagig“, berichtet Kim. „Die mussten gucken: Wie funktioniert das – und eigentlich klappt das schon ganz gut.“ Wie kamen die beiden dann aufs Café Riptide? Nadine gibt die Antwort: „Das war ein Geheimtipp, von Getränke Höpfner.“ Kim fügt hinzu: „Wir sind halt Freunde von Individualgastronomie, wie der Silberquelle.“ Die beiden verabschieden sich und versprechen, auf ihrer Tour durch die Kneipen, die an der Cocktailnacht teilgenommen haben, noch einmal ins Riptide hereinzuschauen.

„Ich geh wieder ins Büro“, sagt Chris und setzt sich an seinen PC. Uwe von Cargo Records kommt mit einer kleinen CD-Kiste ins Café und fragt André: „Ist Chris nicht da?“ – „Doch“, erwidert André. Uwe weiß sofort: „Der schläft wieder in seiner Ecke.“ Das macht Chris, der für Plattenfirmenkontakte zuständig ist, natürlich nicht. Er kommt an den Tresen und begrüßt Uwe. „Ich habe ein paar Sampler für euch“, sagt der und drückt Chris einige von einem Gummiband zusammengehaltene Exemplare der CD-Reihe „We Deliver The Goods“, Ausgabe 115/09, in die Hand. „Und Sachen zum Reinhören oder Verschenken“, fügt Uwe hinzu und reicht Chris die kleine Kiste mit CDs und Info-Zetteln herüber. Chris bedankt sich. Er wie Uwe haben nur wenig Zeit und leiten gleich wieder den Abschied ein. „In dreieinhalb Stunden ist hier ein Konzert“, erklärt Chris. Videoclub spielen nämlich um 18 Uhr im Riptide. Uwe versteht, sagt „wir können ja telefonieren“, strömt zum Ausgang und ruft im Hinausgehen „mach’s gut, André!“

Der war gerade dabei, Gäste zu bedienen, und kehrt jetzt mit dem leeren Tablett zur Theke zurück. Auf dem Cargo-Sampler ist neben Gordon Gano und den Bollock Brothers auch Jello Biafra drauf, mit „New Feudalism“. Ein Spoken-Word-Track? „Nein, Musik”, sagt André, geht an das Neuheiten-Fach und zieht die LP „The Audacity Of Hype“ heraus. „Er hat eine neue Band, The Guantanamo School Of Medicine.“ Da ist auch Billy Gould von Faith No More mit bei. Und den Song hat Biafra sogar bereits veröffentlicht, vor fünf Jahren mit der No WTO Combo.

Mit einem nassen Regenschirm kommt Dennis ins Café. Er begrüßt Freunde an einem Tisch und stellt sich dann zu André an die Theke. „Hast du Lust auf einen Kaffee?“, fragt der. „Nein, mein Magen verlangt nach etwas Gesundem“, antwortet Dennis. André überlegt eine Weile und schlägt dann vor: „Tee. Kräutertee.“ Das überzeugt Dennis nicht: „Nee…“ Er guckt durch die Glastür in den Kühlschrank und fragt: „Habt ihr die rote Bionade gerade nicht da?“ – „Doch“, behauptet André, guckt in den Kühlschrank auf eine Lücke zwischen den Bionadeflaschen und korrigiert sich: „Nein.“ Dennis denkt kurz nach und sagt: „Dann gib mir eine Kräuter.“ Als André nach der Flasche greift, sagt Dennis: „Oder nee, Ingwer-Orange, Ingwer ist vielleicht besser für den Magen.“ Dennis bereitet sich gerade auf eine Berlinfahrt vor, er sucht eine Wohnung dort. Und er ist zurzeit dabei, eine Internetseite zu erstellen, auf der er seine Kunst präsentiert. „Ich will auch eigene Videoinstallationen hochladen“, sagt er. So einfach sei das nicht, weil er die so einstellen will, dass zum Beispiel eine dreigeteilte Installation erst komplett geladen ist, bis der Film startet. Dennis arbeitet mit Mac und bearbeitet seine Filme mit Quicktime. „Da müssen alle Filme anders komprimiert werden“, sagt er. Bei einigen ergibt es Pixel, während dieselbe Einstellung bei anderen Filmen bestens klappt. Youtube will er zum Hochladen nicht nutzen, aber dabei fällt ihm ein: „Ein Freund hat ein Video mehrmals bei Youtube hoch- und wieder runtergeladen.“ Das habe einen einmaligen Effekt gegeben. „Den Final Cut gibt’s nicht bei Photoshop, der war handgemacht.“ Er lacht und fügt hinzu: „Wenn dir Kunst nicht gelingt, mach sie kaputt.“

Die Band trudelt ein, früher als geplant. Die Musiker grinsen alle, es geht ihnen gut. Sie gucken sich mit strahlenden Augen im Riptide um, entdecken T-Shirts, LPs, CDs und betrachten die spätere Bühne dazwischen. Jorek ist der Gitarrist. „Und Tourmanager“, wie er betont. Die Bandmitglieder kommen aus Münster, Hamburg und Düsseldorf. Nur nicht Jorek: „Ich bin Pole, aus Breslau.“ Videoclub spielen gerade eine Tour. „Wir haben ein paar Off-Days“, erklärt Jorek. „Die Gründe dafür waren zum Teil Zufälle, zum Teil hat unser Booker einige Tage nicht vollgemacht.“ Ihr mitgereister Techniker Christopher kommt ursprünglich aus Braunschweig. „Der hat bei Schrottgrenze mitgespielt“, sagt Jorek. „Und er kannte Chris, hat spontan den Termin ausgemacht, deswegen gibt es auch keine Flyer, keine Poster.“ Er schaut sich erneut im Café um. „Jetzt spielen wir hier und freuen uns schon darauf.“ Die Band sei gerade zu Fuß vom Hagenmarkt herübergekommen. „Für fast alle ist es eine Premiere, in Braunschweig zu sein“, sagt Jorek. „Bis auf Christopher.“ Er berichtet von blockartigern Häusern, die er auf dem Weg wahrgenommen habe. „Sehr kompakt, aber schön“, findet er. „Braunschweig macht einen guten Eindruck.“ Was machen Videoclub für Musik? „Ich würde erst mal sagen, wir machen Pop“, sagt Jorek erst mal. Er weiß: „Damit mache ich’s mir einfach, aber ich finde, Musik muss man sich anhören, ohne sie in Kategorien zu sortieren.“ Dann denkt er eine Weile nach und kommt zu dem Ergebnis: „Unsere Musik ist eine Mischung aus Frickelhaftigkeit und Anbiederung.“ Er holt sich mit Blicken Bestätigung von seinen Bandkollegen, die gerade in den LPs herumstöbern, und sagt nachdrücklich: „Das ist unsere Musik. Und Pathos!“ Elektro mit Gitarre schwebt als genannte Richtung im Raum, Jorek stimmt zu: „Das passt gut, wir haben mit Felix seit kurzem einen Keyboarder dabei.“ Der Genannte wendet den Blick von seinen Fingern im CD-Fach ab, blickt über die Schulter und nickt. Seine Mitmusiker nennen ihn „Felich“. Ist er Spanier oder Schweizer? „Weder, noch“, sagt Jorek grinsend. „Wir nennen ihn einfach so.“ Jetzt gibt’s aber Getränke für alle, die Band gruppiert sich um das Sofa herum.

Am Nebentisch sitzen Katharina und Birgit. André nimmt deren Bestellung entgegen: „Haben die Damen schon gewählt?“ Birgit antwortet: „Einen Milchkaffee.“ Katharina blickt zu ihr herüber uns sagt fragend: „Kreppes?“ Als Birgit nickt, bestellt Katharina also: „Crêpes mit Zimt und Zucker, zweimal.“ André nickt und fragt: „Beides zweimal, auch den Milchkaffee?“ Da erst fällt Katharina auf, dass sie noch gar kein Getränk für sich bestellt hat, und sie wehrt ab: „Nee, Chai-Tee, ein Kännchen!“ André nickt: „Mit Milch?“ Katharina fragt: „Habt ihr auch Sahne?“ André nickt wiederum: „Haben wir auch, wenn du es wünschst, bringe ich dir Sahne.“ Das gefällt Katharina: „Dann mit Sahne bitte.“ André wendet sich an Birgit: „Und für dich, ein stilles Wasser zum Kaffee?“ Birgit verneint dankend: „Nur den Kaffee.“ André notiert und geht, Katharina und Birgit unterhalten sich zunächst über Katharinas Spanien-Urlaub. „Meine Bankdaten waren nicht betroffen“, berichtet Katharina erleichtert. Und davon, dass sie am Strand lieber Dosenbier trank, während ihr Mann Flaschenbier bevorzugte. Von Bier in PET-Flaschen wie in Dänemark halten beide nichts, aber Birgit erzählt: „Das habe ich bei Aldi im Vorbeigehen gesehen, da haben sie Hefeweizen oder so in Plastikflaschen.“ Bei Wasser sei das in Ordnung, solange gewährleistet sei, dass der Kunststoff nicht ins Wasser ausdünste. Und wegen der Einkaufschlepperei in den dritten Stock habe Birgit eine probate Methode entwickelt: „Ich parke in zweiter Reihe, bringe den vollgepackten Rucksack schnell in den Keller und suche dann erst einen Parkplatz – das hat sieben Jahre gebraucht, bis ich diese Idee hatte.“ Während André Getränke und Crêpes bringt, fragt Katharina, warum Birgit den Rucksack nicht einfach im Hausflur abstellt. „Seit uns dort eine frische Bio-Melone abhanden gekommen ist, mache ich das nicht mehr,“ antwortet Birgit. André kommt erneut an den Tisch und sagt: „Die Band beginnt gleich mit dem Soundcheck, ihr müsst nicht rausgehen, ich will euch nur warnen.“

Leonie kommt mit ihrer Mutter Sina im Schlepptau ans große Fenster, um die Vitrine mit den Broschen zu betrachten. Währenddessen packt ihr Vater Philip am Tisch das Spiel „Looping Louie“ aus. Vom Betrachten der bunten Broschen zurückgekehrt, macht sich die fünfjährige Leonie gleich daran, Louie mit seinem Propellerflugzeug über den Tisch rotieren zu lassen. Sie hat hörbar Spaß daran, ihr Kichern und Lachen ist deutlich lauter als der dezent einsetzende Soundcheck der Band. „Mein Bruder Christopher macht den Sound“, sagt Philip. „Deswegen sind wir mit der ganzen Familie angerückt.“ Philip ist zum dritten Mal im Riptide. „Ich war sogar noch nie hier“, sagt Sina. Die beiden haben sich auch schon Gedanken darüber gemacht, ob es Leonie zu laut werden könnte. „Dann hält sie sich die Ohren zu, hat sie gesagt“, grinst Philip. „Und Christopher hat angeboten, mit Kopfhörern auszuhelfen.“

Philip räumt jetzt Louie zurück in seine Schachtel. Ein angenehmer Duft von Sauerkraut weht durchs Café, jemand muss sich den Hotdog bestellt haben. Das Riptide füllt sich, auch Kim und Nadine sind wie versprochen wieder da. Die Band spielt sich allmählich ein. Draußen fängt es an zu gießen.

Matze (van Bauseneick)
www.krautnick.de

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