#31 Sein bester Film

Montag, 17. Mai

Der Himmel droht mit Regen, macht seine Drohung zum Glück aber nicht wahr. Bei Regen im Mai muss ich immer und automatisch an Max Werner denken, an „Rain In May“. Sofort habe ich das typische Schlagzeug-Intro im Kopf und die geleierten Zeilen „Feeling down when the autumn has come/Stormy days and the leaves keep on falling“… Recht hat der Mann. Den Song mag ich ohnehin.  Serge hatte vor einiger Zeit mal die 12“-Single in seinem Antiquariat neben dem Riptide. Die hab ich aber stehen lassen – ich hab schon die 7“.

Gegen Mittag ist es heute noch ziemlich leer im Riptide. Jasmin und Caren sind zurzeit noch fast allein und harren der Gäste, die da kommen. Sie stehen hinter der Theke, ich stelle mich davor und bestelle einen Kaffee. „Eigentlich bin ich hergekommen, um etwas zu tun“, sagt Jasmin. Sie blickt sich etwas hilflos im Café um, aber alles, was es zu tun gab, haben die beiden bereits erledigt. Ich frage sie, ob die neuen Öffnungszeiten sich bereits etabliert haben. Seit Anfang Mai hat das Riptide nämlich auch montags bis mittwochs bis um 23 Uhr geöffnet. Mindestens jedenfalls; letzte Woche Mittwoch, am Tag vor Himmelfahrt, war ich erst um 23 Uhr hier. Vorher war ich mit Begleiter im Universum und hab mir endlich den Anvil-Film angesehen. Der Film ist gut, der bildet mit „This Is Spinal Tap“ und „Full Metal Village“ die heilige Dreifaltigkeit des Heavy-Metal-Films. Nur die Musik ist so mittelmäßig, wie es der ausbleibende Erfolg der Band ahnen lässt. Macht aber nix: Den Hit „Metal On Metal“ hatte ich tagelang im Ohr. So sehr, dass ich mir eben bei Raute Records das Album gekauft habe. Mehr brauche ich von Anvil dann aber nicht mehr. Oder?

Raute hatte am Wochenende seinen zweiten Geburtstag gefeiert, wie mir Uwe und seine „Chefin“ vorhin erzählten. Sie hatten am Himmelfahrt-Donnerstag umgeräumt und am Freitag und Samstag eine kleine Feier mit Sonderangeboten veranstaltet. Als ich heute früh bei Raute auftauchte, war alles noch nicht wieder hergerichtet. Zu meinem Glück: Ich habe einige tolle 12“es und LPs gefunden, darunter die 11:45-Minuten-Version von „Tonight Tonight Tonight“ von Genesis, einem von zwei guten Songs von der Band aus der Zeit, und „The Boat“ von Bolland & Bolland, das ich 1985 auf NDR2 bei „Maxis Maximal“ mit Gerd Alzen alias Die-Dschäi-Dschi-Äi gehört, super gefunden und in Ermangelung ausreichender Englischkenntnisse ohne Titel und Interpret auf Kassette gebannt hatte. Erst im letzten Jahr hatte ich herausbekommen, was ich da eigentlich 24 Jahre lang suchte und nun eben endlich fand. Aber Tolle-Sachen-Finden erstaunt mich ja bei Raute ebenso wenig wie im Riptide. Als ich im Gehen sagte, dass ich ins Riptide wollte, gaben mir Uwe und seine „Chefin“ Grüße für Chris und André mit.

Nach dem Anvil-Film jedenfalls sind mein Begleiter und ich ins Riptide gegangen. An sich hatte ich noch die Schweinebärmann Bar auf dem Schirm, wo Claudy Soundschwester ihre „Wild & tanzbar“-Party veranstaltete, doch mein Begleiter musste anderntags früh raus und wollte nicht so lange bleiben. Also gingen wir um 23 Uhr ins Riptide und setzten uns ins Achteck. Dienst hatte an dem Abend Lukas. Er grinste, als wir ihn fragten, ob er nicht eigentlich den Laden dicht machen wollte, verneinte und reichte uns unsere gewünschten Getränke.

Lukas hatte ich erst eine Woche davor kennen gelernt. Er war derjenige, der bei der zweiten Show „Frank Schäfer proudly presents“ an der Kasse stand. Gaststars und Stargäste waren damals Michael Quasthoff und Dietrich zur Nedden von der Fitzoblongshow aus Hannover. Die hatte ich bereits bei „Lemmy und die Schmöker“ im Antiquariat Buch & Kunst gesehen. Jedenfalls fragte ich Lukas, ob er neu sei, und er antwortete: „Ich bin im zweiten Monat“, stutzte kurz und schob dann hinterher: „Das klingt, als ob ich schwanger wär.“ Er klang an dem Abend leicht nordisch, doch er sagte, er komme aus Braunschweig. „Vom Strammgast zum Mitarbeiter“, meinte er. Das Nordische käme vom Kommilitonen, die so redeten und von denen er sich das etwas abgeguckt habe.

Für Frank-Schäfer-Fans gab es an dem Abend eine gute und eine schlechte Nachricht: „Eine Fortsetzung gibt es, aber jetzt ist erst mal Sommerpause, erst im September geht’s weiter“, verriet der Literat. „Es ist geplant, dass wir in diesem Jahr vier Ausgaben machen.“ Hoffentlich kommen dann mehr Leute als an jenem Donnerstag. Es regnete wie aus Kübeln, das hielt wohl viele potentielle Zuschauer davon ab, aus dem Haus und ins Riptide zu gehen. Vorher war ich beim Treffen unserer Bürgerinitiative im östlichen Ringgebiet, aber da außer mir noch ein weiteres Mitglied der Initiative unbedingt ins Riptide wollte, hatten wir das Programm etwas stringenter abgehandelt. Auch Frank sprach in Riptide übrigens von Anvil: Am Samstag nach seiner Show sollte er als eines von drei „Read ’em all“-Mitgliedern gemeinsam mit den anderen beiden, also Axel Klingenberg und Till Burgwächter, im Universum lesen, in Kombination mit dem Anvil-Film. Was für eine unfassbar großartige Veranstaltungsidee! Film und Lesung zum Thema Heavy Metal – im Kino! Und ich konnte nicht. Dafür sah ich mir den Film eben einige Tage darauf an.

Lukas also ließ meinen Kinobegleiter und mich entspannt unsere Getränke zu uns nehmen. Doch wie das in Braunschweig und im Riptide eben immer so ist: Ich wollte nur kurz durch die Lounge gehen, kam aber nicht weit. An einem Tisch saß eine große Runde Menschen, von denen mein Kinobegleiter und ich einige kannten. Also setzten wir uns dazu. Die Gruppe, die teilweise aus Mitgliedern der Theatergruppe Fanferlüsch bestand, hatte noch helles Leuchten in den Augen von der Veranstaltung, die sie davor wahrgenommen hatte: In der Nicht-Schlossattrappen-Filiale von Thalia hatten sie eine Lesung mit David Nathan und Oliver Rohrbeck gesehen und gehört. Nathan synchronisiert Johnny Depp, Rohrbeck spricht Justus Jonas von den Drei Fragezeichen. Das Besondere an der Lesung sei aber gewesen, dass nicht die beiden Sprecher mit Texten zu Thalia gekommen waren, sondern die Zuschauer. Die hatten Bücher, Heftchen oder Selbstverfasstes mitgebracht und sich vorlesen lassen. Mit geschlossenen Augen hatte sich das glückliche Publikum der Illusion hingeben können, es seien Justus Jonas und Johnny Depp, die ihnen die Texte vorlasen. Lukas nun schloss um 1 Uhr hinter uns ab, nachdem er uns eine weitere Runde an den Tisch gebracht und sich selber mit einer Flasche Astra Rotlicht an unseren Tisch gesetzt hatte. Eigentlich wollte ich längst schon zu Hause im Bett, wenn schon nicht in der Schweinebärmann Bar sein…

Jasmin und Caren finden Lukas’ Haltung gut; Jasmin würde auch nicht einfach das Lokal schließen, wenn sich noch genug Gäste amüsierten. Die beiden unterhalten sich über Cola-Sorten, Kaffeegenuss und Schallplattenkäufe. „Als Schülerin kann ich mir nicht viele CDs leisten“, sagt Caren. Seit kurzem macht die gebürtige Berlinerin im Riptide ein Praktikum. Die Tür öffnet sich, Jasmin und Caren blicken auf: Nicht Kunden, sondern Promoter kommen ins Café. „Sind die Geschäftsführer da?“, fragt die freundliche Promoterin. Der Mann neben ihr sagt nichts. Caren und Jasmin verneinen, André käme aber bald. Die Promoterin lässt einige Flyer für ihr Getränk Kenko Kombucha da und kündigt an, später mit Probiergetränken zurückzukommen. Caren und Jasmin blättern in den Flyern und stellen fest, dass eines der abgebildeten Models die Promoterin selbst ist. Jasmin kennt Kombucha, aber nicht Kenko, das sich laut Flyer bindestrichlos als „Das Tee Pilz Erfrischungs Getränk“ bezeichnet. „Das kommt aus Braunschweig“, entdeckt sie außerdem. Zumindest die „Kommunikation“, die Produktion kommt aus Bennigsen. Wir lokalisieren den Ort anhand Postleitzahl und Vorwahl in der Nähe von Hannover und liegen damit ganz gut: Der Ort gehört zur Stadt Springe in der Region Hannover. Caren und Jasmin sind gespannt auf die versprochenen Probegetränke.

Mit „die selbsterfüllende Prophezeiung“ begrüße ich Micha, der mit einer geschulterten Ikea-Tüte voller Festival-Theaterformen-Programmbüchlein durch die weit geöffnete Café-Tür schreitet, eine Hausmarke bestellt und damit einen Dialog von Caren und Jasmin neu entfacht. Ich schließe mich mit der Getränkebestellung an. „So hat mich noch keiner genannt“, sagt Micha zu mir. „Höchstens Zeitmaschine.“ Er grinst, Caren und Jasmin gucken fragend. „Weil du immer rückwärts gehst?“, rate ich. „Nein, weil mit mir die Zeit immer schnell vergeht.“ Jasmin findet: „Das ist aber ein Lob.“ Micha ist skeptisch. „Wenn’s mit dir langweilig wär, würd die Zeit schleichen“, sage ich. Das überzeugt ihn nur kurz. Es steckt etwas anderes dahinter, wie er erklärt: An einen seiner vielen Verteilpunkte bringe er immer montags Flyer vorbei. „Daran erkennen die, wie schnell die Zeit vergeht: ‚Schon wieder Montag?’“, sagt Micha. Einleuchtend, Jasmin und Caren gefällt der Vergleich. Micha gehe es damit genauso: Auch er erkenne, wie die Zeit vergeht.

Mit Tüten voller Brot und anderen Lebensmitteln schwer bepackt kommt André durch die Tür und wird von uns vieren freudestrahlend begrüßt. Zurückgrüßen kann er nicht, er hat keine Hand frei und Waren bis unters Kinn gestapelt. Die bringt er erst in die Küche und begrüßt uns dann reihum. „Warst du einkaufen?“, fragt Micha. „Ist Montag“, gibt André zurück. Viel Muße zum entspannten Plaudern hat er nicht: André sortiert nebenbei wie automatisch Platten ein. Micha spricht ihn auf Maximilian Hecker an, der am 4. Juli im Riptide auftritt. André erzählt, dass der Booker für Hecker erst ein Piano wünschte, dann auf Klavier herunterhandeln wollte und dann doch mit dem angebotenen E-Piano zufrieden war.

Trotz des dräuenden Himmels sitzen mehr und mehr Gäste draußen, einige inzwischen auch drinnen, noch niemand indes in der Rip-Lounge. Caren und Jasmin sind jetzt beschäftigt. André geht an der neuen Schiefertafel neben der Theke vorbei, auf der „NEU BAILEY’S“ steht, und nimmt den Platz hinter der Theke ein. Micha bestellt einen Kaffee, obwohl er eigentlich keine Zeit hat. „Ein Glas Wasser dazu?“, fragt André, während vor ihm der Kaffeeautomat dampft und zischt. Micha schüttelt den Kopf. „Ich verstehe nicht, wie man zu Kaffee Wasser trinken kann“, sagt er. Aus der Küche steckt Jasmin ihren Kopf heraus: „Das macht man, damit man vorher den Mund ausspülen kann, um später den Kuchen besser zu schmecken.“ Micha hätte das nicht gewusst. „In Italien trinken sie Wasser zu Espresso, das verstehe ich ja noch.“

André nimmt von einem Paketdienstmitarbeiter ein Paket entgegen, stellt es auf die Theke und packt es aus. Es enthält „Fuze“-Hefte. „WM live im Riptide…“ liest Micha unterdessen auf einem Ankündigungsblatt auf der Theke. „Ballack ist nicht dabei“, fällt André dabei ein. „Dann kann ich endlich wieder zu Deutschland halten“, sagt Micha. „Jetzt freue ich mich auf die WM – ich kann den Ballack nicht leiden.“ André grinst: „Das merkt man.“ Micha beginnt zu philosophieren: „Dem Löw fehlt jetzt die klassische Nummer Sechs, der hat da nur den Schweinsteiger vielleicht noch – aus der Sicht ist es schlecht, dass Ballack nicht mitfährt.“

Zwischendurch frage ich André nach den neuen Alben von Mike Patton und Dirtmusic. „Beides ist noch nicht mitgekommen“, sagt André nach einem Blick auf den Computerbildschirm. Irgendetwas wollte ich doch noch gefragt haben. „Ist die neue LCD Soundsystem da?“, fragt Andreas, der eben ins Café gekommen ist. „Das war’s, genau“, sage ich. „Ja, ja!“, sagt Andreas, der grinsend befürchtet, dass ich sie ihm wegschnappen will. „Soll die letzte Platte von denen sein“, fügt er hinzu und zieht sich mit einem Finger ein Augenlid herunter, „ja, ja!“ So könne man Aufsehen erregen. „Wie bei The Cure“, sage ich. „Die sagen auch nach jeder Platte, dass es die letzte ist.“ Filmfan Micha fällt auch eine Parallele ein: „Bei Jean-Claude-van-Damme-Filmen stand auf Plakaten immer drauf: ‚Sein bester Film’, und ich bin immer drauf reingefallen, fünf Filme in zehn Jahren.“ Andreas nickt grinsend: „Da haste aber lange gebraucht, um das zu bemerken.“ – „Ist verschoben“, sagt André mausklickend. „Ich wollte nur wissen, ob es eine Doppel-LP wird“, sagt Andreas, und: „Ich hör die schon immer im Internet.“ André bestätigt: „Ja, ist eine Doppel-LP.“ An Micha gewandt, nimmt Andreas dessen Einwand wieder auf: „Jean-Claude van Damme kenne ich aus einem Musikvideo, da hat er Tango getanzt.“ Das kann Micha nicht fassen: „Tango?“ Andreas nickt: „Er hat mit Ballet begonnen.“ Während Andreas zu den Singles herübergeht, sagt Micha: „‚Bloodsport’ ist sein bester Film.“ Andreas dreht sich vor den Singles um und ruft Zustimmendes. „Ich mochte immer, wenn er einen Spagat gemacht hat zwischen Stühlen oder an Ringen“, sagt Micha. Andreas weiß, warum der Belgier das konnte: „Das war die langjährige Ballettausbildung!“

Das wechselhafte und unberechenbare Wetter beunruhigt Jasmin und Caren. Bevor sie zur Tür stürmen und sie prophylaktisch schließen können, stürmen Micha und ich hinaus. Micha hat noch Programmheftchen zu verteilen, zu Fuß dieses Mal, weil er mit seinen Rückenschmerzen nicht Radfahren kann. Wir beschließen, uns bald mal wieder zu treffen. Zufällig. Im Riptide vielleicht.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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