#46 Beirut brennt

Montag, 22. August

„Die Hausmarke haben wir jetzt neu mit Lakritz.“ Hm. Franzis Hinweis lässt mich kurz stutzen: Soll ich das Wagnis eingehen? Dafür spricht, dass ich dänisches Lakritz-Eis auch mag. Also ja. „Ich habe die selber auch noch nicht probiert – ich mag kein Lakritz, aber ich mag ja auch Mandeln und kein Amaretto.“ Franzi steigt auf die umgestülpte Astra-Kiste und fischt eine Hausmarke mit Lakritz aus den oberen hinteren Reihen des Kühlschranks. Allein dieses Getränkeversteck lässt sie mutmaßen: „Ich weiß nicht, ob es ein Versehen war, dass die mitbestellt wurde.“ Sie steigt mit der Flasche von der Kiste, öffnet sie, stellt sie vor mich auf die Theke und verschwindet in der Küche. Daraus bringt sie ein Glas mit einem Eiswürfel darin mit. Hätte ich gewusst, dass sie deshalb in die Küche geht, hätte ich ihr gleich gesagt, dass ich kein Glas brauche. Franzi stellt es an die Seite. Ich rieche am Getränk und stelle fest, dass es an Pernod-Cola erinnert, nur ohne Alkohol. Franzi nickt. „Stimmt.“ Und hat einen Verwendungszweck für das Glas: Sie probiert selber. „Ich bin überrascht“, sagt sie nach dem Probieren überrascht, „und zwar positiv.“ Ich auch, allerdings.

Der Sommer ist zurückgekehrt. Es ist warm, bisweilen sonnig, bis auf einen sitzen alle Gäste draußen im maurischen Achteck unter großen grünen Schirmen. Die drei nächsten Sound-On-Screen-Filme sind auf einem Plakat angekündigt: „SoulBoy“ am 16. September, „Blue Note: A Story About Modern Jazz“ am 13. Oktober und „The White Stripes – Under Great White Northern Lights“ am 3. November. Eine Tafel hängt seit einiger Zeit neben dem Eingang zur Rip-Lounge, die Aufschrift heißt Gäste und Sommer gleichermaßen willkommen. Die Gäste sind da deutlich zuverlässiger: „Es ist viel los für einen Montag“, stellt Franzi zufrieden fest. Wir bemängeln beide die Leistung des Ventilators, der an der rechten Seite der Theke rotiert, an der bereits die ersten Tische des Cafés stehen. „Der bringt nicht so viel“, sagt Franzi. „Wenn ich mit einem Tablett daran vorbeigehe, weht’s mir die Servietten und die leeren Keksfolien herunter – aber es bringt keine Erleichterung.“ Stimmt, wenn er doch wenigstens die schweren Flaschen herunterwehen würde.

Von seinem Draußenplatz bringt Jan ein Tablett mit leerem Geschirr herein. „Ich stell’s dir gleich hin“, sagt er zu Franzi. Die nimmt ihm das ab und kassiert dann auch gleich. Jans Chucks erregen meine Aufmerksamkeit: Sind die rot oder rosa? „Dreckig rot“, sagt Jan. „Die trage ich nur im Sommer für ein paar Wochen, dann sperre ich sie wieder weg – die trage ich seit 2002.“ Ganz schön lange für Chucks. Ich habe ein Paar, das ist jünger und hat Löcher in der Sohle, und wenn ich in ihnen gehe, habe ich sofort auch Löcher in den Socken. „Für mich nur Chucks ohne Socken“, sagt Jan. Ich habe sofort den Geruch von Chucks mit Socken in der Nase und mag mir den Odeur von mit ohne gar nicht vorstellen. „Bei meinen sind die Löcher an den Seiten“, sagt Jan. Die gehören ja fast dazu, sage ich. Gefragt habe ich ihn, weil ich pinke Chucks habe und dafür eher Unverständnis ernte, zumindest bei Männern. Bei Frauen nicht. Heute trage ich gelbe Chucks mit Blumen und Marienkäfern, die habe ich mal günstig bei Real gefunden. „Die Preisentwicklung bei Chucks ist seltsam“, sagt Jan. „Vor zehn Jahren haben die in den USA zehn Dollar gekostet, das sind sechs Euro fünfzig – heute zahlst du 65 Euro dafür.“

Gerade ist Jan weg, da kommen vier junge Gäste ins Café. Zwei männliche stürzen sich sofort auf die LPs, der weibliche sucht sich mit den dritten männlichen Gast einen Platz auf dem Sofa. Felix, einer der LP-Stürmer, geht zu den beiden Sitzenden und sagt auf Leon an den LP-Fächern zeigend: „Da kriegt ihr ihn jetzt erst mal nicht weg.“ Franzi kommt aus der Küche. „Ist jemand da, der Platten bestellen kann?“, fragt Felix sie. Franzi verneint: „Aber ich kann es aufschreiben und du schreibst deine Emailadresse dazu.“ Felix zögert, es geht ihm um bestimmte Shops, in denen er etwas bestellt bekommen möchte. Jetzt zögert auch Franzi: Aufschreiben könne er es doch trotzdem? Der Begleiter auf dem Sofa hat das Gesuchte auf seinem Mobiltelefon gespeichert, davon schreibt Felix es auf einen Zettel ab und erklärt, dass es sich dabei um einen Drum-and-Bass-Track handelt, der womöglich nicht überall so einfach zu bekommen ist. „Sensa & Spekky“, schreibt er auf. „Ich will mein DJ-Set aufstocken“, sagt er. Aha, wo legt er denn auf? „Noch gar nicht, ich habe erst 50 Vinyls, das reicht nicht für einen ganzen Abend“, antwortet er. „Ein Kumpel hat 100“, zusammen sei da bald etwas möglich. Noch habe er zudem nicht alles auf CD, da brauche er noch ein digitales Abspielgerät. „Ich habe früher auch Indie gehört, bis ich Drum and Bass entdeckt habe, das kann man besser auflegen.“ Leon und er sind gerade auf die BBS V gewechselt, erzählt Felix. Leon hat sich von den LP-Fächern losgelöst, stellt sich zu Felix und über den Tresen hinweg Franzi die überraschende Frage: „Habt Ihr nichts von Pink Floyd?“ Franzi und ich sind gleichermaßen verdutzt. „So ‚Dark Side Of The Moon’ oder so?“, hängt Leon an, während Franzi schon am Computer guckt. „Das wäre cool.“ Franzi muss ihn enttäuschen: „Da haben wir sie nicht, aber ich kann sie bestellen.“ Das überlegt sich Leon noch mal und fragt lieber, ob sich jemand mit Gitarrenaufnehmen auskennt. Ich nicht. Felix fragt etwas in Richtung Pre-Amp und an den PC anschließen und ob er das meine, und Leon nickt. „Frag mich“, sagt Felix. Sie gehen zurück in die Sonne, die beiden Sofabegleiter schließen sich ihnen an.

Die „The Wilhelm Scream“-Maxi-Single von James Blake legt Lukas auf den Tresen. „Für’n Feierabend“, sagt er. Davon, dass der „Wilhelm Scream“ ein berühmter Schrei-Sample ist, der in Hollywoodfilmen immer wieder auftaucht, weiß er nichts, bestätigt aber, dass die Musik von James Blake sehr auf Sampling basiert. „Sehr frickelig“, sagt Lukas. „Ich hab’s, glaube ich, auf dem iPod, möchte es aber viel lieber auf Platte haben.“ Eine andere interessante Platte hat Lukas noch entdeckt: „Das nächste, was ich holen will, ist das erste Album von The Gaslight Anthem – das ist unglaublich, wie Social Distortion, eher punkig“, sagt Lukas. „Die neuen Platten sind etwas ruhiger geworden, aber die erste geht mehr auf die Fresse, irgendwie.“ Franzi nimmt die James-Blake-Platte und fragt: „Bar oder mit Karte?“ Reflexartig sagt Lukas „bar“ und begreift dann: „Moment – wenn ich mit Karte zahlen kann, kann ich die Platte gleich mal mitnehmen.“ Lukas legt The Gaslight Anthem auf die Theke. Jetzt will ich „The Wilhelm Scream“ aber mal hören. Eher anstrengend finden Franz und ich den. „Eher zum Feierabend, zum entspannen“, sagt Lukas. Franzi und ich lauschen noch eine Weile und stellen dann fest, dass wir das auch schon erlebt haben, dass man manche vermeintlich nervigen Sachen nach einigem Hören schön und sogar entspannend findet. „Das ist so ein Hype-Ding, taucht in jedem Blog auf“, sagt Lukas über James Blake. Und in Musikmagazinen, ergänze ich, wo ich Blake dann genau deshalb auch immer überblättere. „Das habe ich auch immer gemacht, bis ich angefangen habe, ihn gut zu finden“, sagt Lukas. Mich erinnert James Blake ein bisschen an Super_Collider, das gemeinsame Projekt, das Cristian Vogel und Jamie Lidell vor zehn Jahren hatten. Die hab ich bei MTV entdeckt, zu einer Zeit, als dort noch Musik lief. „Vor meiner Zeit“, sagt Lukas. Er hat gerade an der BBS V sein Abi gemacht und fängt zum nächsten Semester an zu studieren, hat MTV also tatsächlich nicht mehr so richtig als Musiksender kennen gelernt. Lukas will sich ein Getränk bestellen. Franzi ist in der Küche, wie ein Geist aus der Maschine ist aber plötzlich Kathi da und nimmt die Bestellung entgegen: „Eine Club Mate.“ Lukas grinst: „Der nächste Hype nach James Blake.“ Sein T-Shirt sieht überdies auch nach Schallplattencover aus, sage ich. Ist es aber nicht: „Das ist von Sixpack France, einem Modelabel, das mit Künstlern kollaboriert“, klärt Lukas mich auf. Sein Shirt zeigt um einen Würfel herum im Kreis angeordnete bunte Pyramiden auf schwarzem Grund. „Das ist eine Kollaboration mit La Boca, das schreiben die dann immer ‚Sixpack France x La Boca’“, erklärt Lukas. La Boca, ist das nicht ein Straßenkünstler? „Genau“, sagt Lukas. Allmählich will er wieder los. „Das Riptide ist eine Institution geworden“, stellt er fest. „Ein guter Grund, mich aufs Rad zu schwingen und von Schandelah herzukommen.“ Aus Schandelah mit dem Fahrrad? Respekt. „Und da fahre ich jetzt wieder hin“, sagt Lukas.

Wie ein Geisterstrom zieht sich eine endlose Schülerschlange durch den Handelsweg. Im Martino-Katharineum haben sie wohl gerade Pause, die Ferien sind ja gerade um, deshalb wohl auch das schöne Wetter. Abends und nachts ist der Handelsweg am Wochenende überdies eine richtig angenehme Partymeile geworden. Wenn auch noch in der Einraumgalerie eine Eröffnung ist, bevölkern lauter nette Leute die schmale Passage. Alles mischt sich, man holt sich Wein im Riptide oder Gezapftes in der Strohpinte, Nachbar Serge ist unterwegs, überall sind freundliche Menschen, mit denen man gerne spricht. Also genau wie tagsüber, nur zur besten Partyuhrzeit. Alles so entspannt wie André, der ins Riptide kommt und eigentlich frei hat. „Aber du weißt ja, wie das ist“, sagt er, und stimmt, ich weiß, wie das ist.

Mit einer zweiten Lakritz-Hausmarke setze ich mich draußen zu Micha und Christian. Micha habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, da ist die Freude groß. Meine volle Colaflasche gesellt sich zu ihren leeren Kaffeetassen. Micha und Christian kennen sich seit 20 Jahren, erzählen sie. Sie haben mal in einer WG gewohnt, einer Vierer-WG. Sie tauschen Erinnerungen aus. Christian raucht seine Selbstgedrehten bis zu den Fingern. Er ist in Baden-Württemberg geboren und hat am Niederrhein und in Norddeutschland gewohnt, erzählt er. Am Niederrhein, wo denn, in Xanten? Er guckt überrascht und nickt: „Ja bei Xanten.“ Da war ich noch nie, ich war noch nie in einer Stadt mit X. Außer in Griechenland, aber da gibt’s davon auch mehr. Xanten habe außer der Römer auch nicht viel zu bieten, meint Christian. Aber immerhin, sage ich. In Crailsheim in Baden-Württemberg ist er nur zufällig geboren: „Meine Mutter war dort zu Besuch.“ Das hat früher bestimmt für Gelächter gesorgt in der Schule, mutmaße ich. Hat es nicht, bislang sei das gar nicht so richtig Thema gewesen. „Jetzt kommt die Geschichte raus“, lacht Micha. Und wo in Norddeutschland? „Bei Celle, na ja, also nicht richtig Norddeutschland.“ Bei Celle? „Hermannsburg.“ Klar, kenne ich, ich komme ja selber aus der Heide. Dann ist er bestimmt auch ins Freedom gegangen. Christian bestätigt und ergänzt: „Und nach Uelzen und Soltau sind wir in die Discos gefahren, immer in Kolonne.“ In Uelzen, was gab’s denn da an Discos? „Galerie hieß die.“ Ach, stimmt, „Galeere“ haben wir immer gesagt. Da konnte man hingehen? Christian grinst: „Und zu Freddie Mercury tanzen.“ Das Exil in Bodenteich kennt er nicht, aber das Farmer’s Inn in Uetze. Micha indes hält nicht viel vom Verreisen: „Das ist mir zu stressig.“ Er komme gerade mal bis Wolfsburg. Das ist doch schon was, sage ich. „Zum Frauenfußball oder ins Kunstmuseum“, sagt Micha. Der Mann überrascht mich immer wieder. Frauenfußball? „Am 26. September wieder“, sagt Micha. Ich nenne Martina Müller, und Micha meint, das sei die beste Spielerin. Ich fand es schade, dass Silvia Neid die auf dem eigenen Rasen nicht eingewechselt hat. „Stimmt“, sagt Micha, „das war auf dem eigenen Rasen – noch ein Fehler von Frau Neid.“ Nach der letzten WM vor vier Jahren habe ich mal eine Rilke-Nacht vom Tanzenden Theater Wolfsburg im Phaeno gesehen. Da hat sich das Ensemble des Tanzenden Theaters in der Architektur des Phaeno bewegt, dazu erklang Musik und Wolfsburger Prominente haben Rilke rezitiert. Darunter waren Dero von Oomph! und eben Martina Müller. Ich hatte im Anschluss die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, und fand sie sehr sympathisch. Micha hat zwar noch nicht mit ihr gesprochen, hat aber denselben Eindruck. „Sie könnte längst in Frankfurt oder Duisburg spielen, ist aber in Wolfsburg geblieben“, stellt er fest. Noch mehr liegt ihm und Christian an Wolfsburgs Neuzugang Conny Pohlers. „Sie war Torschützenkönigin in der letzten Saison“, sagt Micha. „Muss man sich Karten für den 26. September vorbestellen?“, fragt Christian. Micha verneint: „So populär ist Frauenfußball nicht.“ Christian nickt: „Nicht wie bei der WM.“ Die beiden analysieren das DFB-Pokalspiel von Eintracht Braunschweig gegen Bayern München und die Leistung der Eintracht in der zweiten Liga. Wir freuen uns, dass die Eintracht die ersten Spiele in der für sie neuen zweiten Liga gleich auf dem ersten Platz verbracht hat. Doch wir sind uns darin einig, dass das wohl nicht mehr als wichtige Punkte zum Klassenerhalt sind. Bevor ich aufbrechen kann, fragt Micha nach unserem Lieblingsthema: „Warst du mal wieder im Kino?“ War ich nicht, aus zwei Gründen: Bei meinem späten Feierabend bedeutet ins Kino gehen, nach Feierabend nicht viel mehr als nur ins Kino gehen zu machen, und da greift Grund zwei: Das Programm ist für so eine spärliche Freizeitverbringung nicht gut genug. „Die Kinolandschaft ist langweilig“, findet auch Micha. Er hat zuletzt „Super 8“ und „Planet der Affen“ gesehen. Die finde ich beide nicht so interessant, ich freue mich auf den neuen Film von Aki Kaurismäki im September. „Den mag ich nicht mehr so“, sagt Micha, und zählt stattdessen die neuen Filme von Lars von Trier und Pedro Almodóvar auf. Da gehe ich mit, in jedem Sinne. Doch jetzt gehen wir erst mal bezahlen.

André ist noch da. Ich frage ihn nach der neuen LP von Beirut als Ladendekoration. Er grinst: „Eigentlich müssten wir sämtliche Lagerbestände aufkaufen, aber da gibt’s ein Problem.“ Dass der Titel getrennt geschrieben ist? Also „The Rip Tide“ und nicht „Riptide“? „Das auch“, sagt André. „Aber die Lager sind abgefackelt im Zuge der Unruhen – es kommt nach und nach weniger Vinyl bei uns an.“ Ach du Schande. So sind die Auswirkungen der Londoner Krawalle also auch bei uns spürbar, sagt Micha. Wir zahlen, grüßen und gehen zurück in die Sonne.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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