#54 Keine Früchte

Donnerstag, 26. April

Die Plattenmatte mit dem orangefarbenen Jägermeisterhirsch auf den beiden Reinhörplattenspielern im Riptide gibt diesem grauen Tag etwas Farbe. Es ist Ende April, die Okercabana öffnet heute, die Schwalben sind überfällig, etwas höhere Temperaturen eigentlich auch, sieht man mal von der einen viel zu frühen warmen Woche im März ab und davon, dass es heute gerade einmal ein bisschen zu warm für einen Schal ist. Immerhin, der Flieder in unserem Hinterhof blüht zurzeit und die Fledermäuse drehen dort auch schon seit einer Weile ihre Runden. Die Sonne könnte sich also mal wieder blicken lassen, wo kommen wir denn da hin. Trotzdem: So schön grün, wie auch die Straßenbäume jetzt wieder sind, da macht es richtig Spaß, durch die Stadt zu schlendern, vom Kohlmarkt zum Kingking Shop und in den Handelsweg. Bei Serge im Eingang steht eine Leinwand mit orangefarbenen Luftballons darauf, die für ein Selbstfilmfest werben, und gegenüber bei Piou steht ein Stuhl mit einer Topfpflanze darauf vor der Tür. Zusätzlich zu den Jägermeisterplattenmatten geht es im Riptide wie gewohnt farbig zu. Chris unterhält sich mit einem Kunden über Liveerlebnisse mit einer uralten Indieband, André konzentriert sich auf seine Arbeit am PC, Sina bedient die Gäste und Jasmin ist in der Küche zugange.

Sina stellt mein bestelltes Wolters auf die Theke neben die inzwischen zehn verschiedenen Quartette, die dort ausgestellt sind, ergänzend zu den vielen anderen CDs, DVDs und weiteren Produkten, und Chris erzählt vom Record Store Day. Der war am Samstag und das Riptide einer der weltweit teilnehmenden Läden und deshalb entsprechend voll. Die Liste der nur für diesen Tag in ausgewählten Schallplattenläden wie dem Riptide erhältlichen Veröffentlichungen war gigantisch lang, die Schlange vor der Theke wohl auch. „Die meisten Nachfragen hatten wir nach ABBA“, erzählt Chris. Auf blauem Vinyl gab es den Extended Dance Mix von „Voulez-vous“, und, so Chris: „Da ist ein unveröffentlichter Song drauf“, die B-Seite „If It Wasn’t For The Night“ nämlich. Schade nur, dass ein nicht geringer Teil der Käufer die tollen Raritäten nicht wegen der wunderbaren und oft exklusiven Musik kauft, sondern wegen des vielfachen Wiederverkaufswertes. Glücklich können sich also alljene schätzen, die im Riptide einen begehrten Schatz ergatterten, und davon gab es eine Menge.

Der anstehende Mai kommt im Riptide mit einer ganzen Reihe an Veranstaltungen, obwohl er mit einem geschlossenen Tag startet, dem Maifeiertag. Das Plakat von der Nagel-Lesung am 18. begrüßt gleich jeden Gast am Eingang. „Nagel hat bei uns gerade seine Ausstellung, der war schon zur Eröffnung hier, persönlich“, erzählt Chris. „Er kommt wieder zur Finissage – ‚Bebilderte Lesung‘ nennt er das.“ Chris blickt in Richtung Kunst: „Für die neue Ausstellung haben wir alles einmal komplett gestrichen, wir haben richtig viel geschafft, mit zehn Leuten haben wir hier gestanden.“ Der Mai sei deshalb so voll mit Veranstaltungen, weil im Juni die Fußball-EM kommt, sagt Chris. Stimmt ja. Olympiade ist auch, aber irgendwie hat die in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung verloren, scheint mir. „Vier Veranstaltungen haben wir, die Nagel-Lesung, Sound On Screen mit einer Reggae-Party danach, eine Soul-Party am 5. und MC Rene liest aus seinem Buch.“ Chris schwärmt von MC Rene: „Der ist Braunschweiger und war seinerzeit der beste Freestyle-MC Deutschlands, hat auf Viva moderiert, dann alles verkauft und war zwei bis drei Jahre nur mit einem Bahnticket auf Reisen und hat darüber in dem Buch geschrieben, selbstkritisch und ironisch.“ Das Buch sei zwar kein Hip-Hop-, sondern ein Reise-Buch, so Chris, „aber mit einem Musik-Einschlag“. Es heißt „Wir sehen uns im Zug“, erscheint im Rowohlt-Verlag und ist noch gar nicht veröffentlicht. „Wir haben die Release-Lesung“, sagt Chris, „vorher ist er nur bei Stefan Raab.“

Für André ist Feierabend, er verlässt seinen Platz am PC und nach einigen Abschiedsworten auch das Café. Chris übernimmt seinen Posten. Jasmin arbeitet weiter in der Küche und Sina läuft zwischen den Caféräumen umher und nimmt Bestellungen auf. Möchte ein Kunde bezahlen, kommt Chris wieder an die Theke zurück. „Ich zahle die Sofa-Rechnung“, sagt Barbara und deutet auf das Möbelstück und ihre sich davon erhebende Begleiterin. Das dürfte etwa 400 Euro machen, oder? Sie wehrt ab: „Nee, so schön ist es auch wieder nicht.“ Chris blickt auf: „Was?“ Barbara reicht ihm grinsend den genannten Betrag und wird genauer: „Es ist gemütlich – aber meins ist gemütlicher.“

Auf dem Zeitschriftenstapel liegt bereits das Mai-Intro. Die April-Ausgabe gab es an meinem Arbeitsplatz dieses Mal nicht, gab’s denn im Riptide eine? Bei meinen letzten Besuchen hier dachte ich nicht daran, danach zu suchen. „April? War das das mit Frittenbude?“, fragt Chris. Das weiß ich eben leider nicht. Ah, wer sich nach etwas weiter unten durchwühlt, wird unter den ganzen neuen Magazinen fündig und sieht Chris bestätigt: Ja, das mit Frittenbude. „Unsere Jungs“, wie Chris grinsend feststellt und bemerkt: „Nicht mehr, aber ich hab die entdeckt, da ist das schon Wahnsinn.“ Und demnächst spielen sie in Wolfsburg im Kulturzentrum Hallenbad. „Da gehe ich hin, wenn ich Zeit habe“, sagt Chris. „Wenn Bohren spielen, habe ich wahrscheinlich keine – da ist hier Bohlwegzeiten-Party im Riptide.“ Bohren & der Club Of Gore kommen im Rahmen des „Festival Theaterformen“ nach Braunschweig. Das wechselt jährlich zwischen Hannover und Braunschweig, dieses Mal sind wir wieder dran. Letztes Mal, vor zwei Jahren also, war es schon so, dass über die Dauer des Theaterfestivals parallel im Theaterpark abends Open-Air-Konzerte wirklich namhafter Musiker und Bands stattfanden. So ist es dieses Mal wieder: Am 2. Juni spielen Bohren, am 3. Nils Koppruch. Da habe ich mal Glück, denn an dem Wochenende muss ich nicht arbeiten und habe auch sonst noch nichts vor, außer mir am Samstag bei „Braunschweig international“ auf dem Kohlmarkt den Bauch mit weltweiten Leckereien vollzuschlagen. Dann geht’s abends gemütlich in den Park, Doomjazz hören. Chris zitiert zwei exemplarische Songtitel vom 1995er Debüt „Gore Motel“, „Dangerflirt mit der Schlägerbitch“ und „Dandys lungern durch die Nacht“, und lacht. „Das war vor mehr als 15 Jahren, kurz nach 7 Inch Booots, das war die Vorgängerband, die habe ich noch live gesehen, da waren die noch Neurosis-dreckig.“ Mike Patton, der auf dem letzten Bohren-Album „Beileid“ die ersten Vocals der Bandgeschichte beisteuerte, wird wohl nicht in Braunschweig zu erwarten sein – nicht wie letztes Mal mit Tamikrest, als Hugo Race als unangekündigter Gast inkognito auf der Bühne stand, ausschließlich in Braunschweig. Aber wir haben schon Glück genug damit, dass Bohren überhaupt zu uns kommen.

Vorhin im Kingking Shop blätterten wir auch schon staunend durch das Festival-Programm. Und durch das Gratis-Magazin „Zettelwirtschaft“, in dem Off-Literaten und Poetry-Slammer ihre Texte beisteuern. Ein neues Heft stellten Stefan und Pott auch vor: „Päng, das Magazin für Leute mit einem Knall“. Demnächst macht Marc Domin im Kingking Shop Halt auf seiner Promotour für sein neues Buch „Viertel nach Untergang“. Marc war auch bei der „Mühe & Muße“-Show von Müller & die Platemeiercombo und vielen weiteren Beteiligten in der Brunsviga auf der Bühne und wird es wohl bei der Aufführung morgen in der Wolfenbütteler Kuba-Halle auch wieder sein. „Mühe & Muße“ wird seiner Selbstbeschreibung „Live-Psychotest-Revue“ nicht gerecht, weil es viel mehr bietet als nur das. Letztes Mal war Marcs Beitrag ein Slam darüber, wie wichtig es ist, bei der Arbeit betrunken zu sein. „Die Polen sind schlauer als die Deutschen“, sagte er in der Pause, und wenn er solches sagt, glaube ich ihm das, ist er doch mit einer Polin verheiratet. Er setzte fort: „In Polen geht das ganze Land den Bach runter und die Leute saufen, in Deutschland geht das ganze Land den Bach runter und die Leute bleiben nüchtern.“ Marc bewirbt seine Show damit, dass sie ab 18 sei, und hat damit vermutlich Recht.

Aus der Küche dringen seltsame Geräusche. Es klingt wie eine Mischung aus Kratzen, Schaben und Hacken. Welche Speise erfordert solche Geräusche? Keine, oder besser: alle, denn Jasmin reinigt einige Küchengeräte. Und ich fragte mich schon: Was bereitet sie da nur zu? „Noch gar nichts“, sagt Jasmin, „aber gleich wieder mit großer Freude alles.“

Auch Chris reinigt, als er einen Karton auspackt, und zwar die Hülle einer CD von Kleberesten. Den Kragen auf dem Cover erkenne ich aus diversen Musikmagazinen: James Blake, das selbstbetitelte Album mit dem verwischten Gesicht. Chris hält es hoch: „Auch die Singles sehen so aus, man muss genau hinsehen.“ Und „Meds“ von Placebo auch, das ist aber fünf Jahre älter. Gleichalt hingegen sind die neuen Alben von Mia („Tacheles“) und dem einen Kalkbrenner („Suol Mates“ von Fritz, nur echt mit dem Buchstabendreher) – und die haben beide den identischen optischen Effekt auf dem Cover: Eine Mischung aus Profil und Frontansicht des jeweiligen Musikers. Ein Berlin-Zufall?

Ein leises zweifaches elektronisches Klingeln lässt Sina wissen, dass ein Gast in der Riplounge gegenüber einen Wunsch hat. Sie geht herüber. Jasmin befasst sich derweil mit dem Dienstplan für Mai und die Pläne für das anstehende Wochenende. Meines verbringe ich mit früheren Mitschülern, wir haben Abi-Treffen, hoch droben und tief drunten in der Heide. Abi-Treffen sind nichts für Jasmin: „Ich habe schon nach kurzer Zeit viele Leute vergessen.“ Das war bei uns am Anfang nicht so, und der Anfang hat einige Jahre gedauert. Aber mit der Zeit gingen die Lebensentwürfe dann doch auseinander, zum Beispiel in Sachen Kinderplanung, da stecke ich als einer, der keine Kinder haben will, in einer anderen Alltagsstruktur als die, die welche haben. Sina kommt nach der aufgenommenen und erfüllten Bestellung dazu. „Magst du die Lions?“, fragt er mich. Da habe ich gar kein Interesse dran, es ist also weder so, dass ich sie mag, noch dass ich sie nicht mag. Samstag spielen sie, sagt Chris. Da muss ich ihn enttäuschen, da würde ich aber schon wegen des Abi-Treffens nicht mitkommen, und wenn ich dort nicht hinginge, dann nach Dortmund, das ist der Ärgerliche Teil an dem Treffen: Am selben Tag findet das Festival „Rock in den Ruinen“ statt, mit zehn Bands – darunter Killing Joke, Phillip Boa – zu Hause! – und Saxon. Als wär das nicht geil genug, kostet das Ticket schlappe zwölf Euro. Für so ein günstiges Paket ist Dortmund mal ganz schön um die Ecke. Und mit der Meisterschaft ist da wahrscheinlich dann doppelte Party angesagt. Auch Jasmin und Sina sind nicht an den Lions interessiert: „Was euch an Kinderwunsch fehlt, fehlt mir an Sportbegeisterung“, sagt Sina. Jasmin stellt fest: „Das ist doch American Football, da verstehe ich die Regeln nicht.“ Chris erklärt sie: „Es gibt keine – einfach auf die Fresse.“ Nach einem schnell nachgeschobenen „nee“ grinst er. „Auf die Fresse?“, grübelt Jasmin. „Ist das nicht Rugby?“

Robin kommt ins Café. Er stutzt und zögert, die Tür wieder zu schließen. Wir gucken ihn erwartungsvoll an. „Soll ich die Tür auflassen?“, fragt er unschlüssig. Sina fragt: „Ist es denn notwendig?“ Robin hat die Türklinke noch immer in der Hand und bemerkt: „Draußen ist die Luft frisch.“ Dabei sieht es gar nicht danach aus, so dräuend-grau. „Nee, die Luft ist gut, bisschen warm, aber gut“, insistiert Robin. Er lässt die Tür halboffen stehen und nähert sich der Theke. „Eine Mate“, bestellt er, und sein durch die halboffene Tür tretender Begleiter auch, deshalb korrigiert sich Robin auf „zwei Mate“. Sina reicht sie rüber und fragt: „Wo sitzt ihr? Drüben?“ Robin zeigt ins Achteck und sagt: „Ja, drüben, aber nicht im Raucherbereich, sondern draußen.“ Sie schließen die Tür von außen und setzen sich an den Tisch vor dem Fenster mit den Reinhörplattenspielern.

„Hast du die Ausstellung schon gesehen?“, fragt Jasmin. Habe ich noch nicht. „Komm, wir gucken mal“, sagt sie und wir gehen und gucken mal. Durch die Glastür sehen wir gegenüber am Fenster in der Riplounge Sina sitzen. Sie raucht und winkt uns zurück. Ums Rauchen geht es auch bei Nagels Linoleumdrucken. Das Bild mit dem Zitat aus „Waiting Room“ von Fugazi kenne ich von der Werbung zur Ausstellung. Nach einer Runde durch die Schau kehren wir zeitgleich mit Sina an die Theke zurück. Sina entdeckt, dass die Hotelglocke auf dem Tresen etwas schräg geworden ist, und versucht, sie zu reparieren. „Die ist schief“, stellt sie fest. Und Chris, der frisch ausgepackte Tonträger etikettiert, weiß, warum: „Weil manche Leute zu doll draufhauen.“ Vielleicht hilft’s ja, wenn er einen der „Platte bitte nicht öffnen“-Sticker auf die Klingel klebt. Ähnlich passend: Zurzeit läuft jemand durch Braunschweig und hinterlässt überall Aufkleber mit dem Wort „Nicht.“ Das ergibt oft witzige Konstellationen, etwa an einer Supermarkttür: „Drücken“ – „Nicht.“ Kürzlich sah ich an einem Mehrfachbriefkasten eines Wohnblocks unter all den „Bitte keine Werbung“-Stickern einen Briefkasten mit der Aufschrift „Keine Früchte“.

Es wird Zeit für mehr Sonne. Vielleicht hilft ja die Nyan Cat gegen die graue, schwere Wolkendecke. Irgendjemand hat eine 100-Stunden-Version bei Youtube hochgeladen. Wer davon keine gute Laune bekommt, ist zweifelsfrei normal.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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