#61 Spirotonal Ratiotap

Dienstag, 13. November

Wie herrlich: Der Himmel ist blau, die Sonne strahlt, es ist gar nicht so kalt, wie es eigentlich im November sein sollte, und das ist auch gut so. Ich mag die morgendliche Aufbruchstimmung in Städten, wenn Geschäftsleute ihre Läden öffnen, Schilder herausstellen, Wimpel ausfahren, die Kasse öffnen. Vereinzelte Kunden gesellen sich dazu, manche flitzen durch die Innenstadt, um noch schnell vor dem eigenen Arbeitsbeginn etwas zu erledigen, sich vielleicht ein Brötchen zu kaufen. Wenn in diese Geschäftigkeit die Sonne hineinstrahlt und ich selbst nichts zu tun habe, entspannt mich das, da strahle ich mit der Sonne um die Wette. Eine Stadt sieht in genau dem Moment auch besonders gut aus. Braunschweig nicht minder, der Kohlmarkt insbesondere, oder die Friedrich-Wilhelm-Straße vor der früheren Hauptpost, an der Straßenbahnhaltestelle, wenn die Sonne genau die Straße entlangscheint, auf das frühere City-Kino, das jetzt einen Supermarkt birgt, der den Namen dankenswerterweise beibehalten hat: „Görge City“.

Im Handelsweg ist André scheinbar der einzig Beschäftigte, er stellt ein Tablett mit Muffins in die Vitrine, als ich grüßend ins Café komme. Das Riptide ist bereits geöffnet, die Nachbarn nehmen wohl erst später den Betrieb auf. „Ich mach mir erstmal einen Kaffee“, sagt André. Guter Gedanke, ich nehme auch einen. Während die Maschine faucht, tauscht André bei den Teelichtgläsern die Papiermäntel aus. Er stellt mir und sich einen Kaffee vor die Nase. „Ich muss die Stühle aufschließen“, sagt er dann und geht ins Achteck. „Moin“, höre ich ihn rufen, und herein kommt Micha, direkt von gegenüber, der Einraumgalerie, wo er eben Flyer vorbeibrachte. Micha legt eine Rolle Plakate vor die Theke und André macht ihm zwischendurch einen Kaffee. Dieses Mal zerkleinert André einen Karton, bis die Maschine fertiggefaucht hat, reicht Micha den Kaffee und klimpert dann wieder draußen mit dem Schlüssel zwischen den Stühlen herum.

Erst vor einer Woche trafen Micha und ich uns beim Filmfest. Ich konnte leider nur zwei Filme sehen, wie eine Klammer um das Filmfest herum: die erste Vorstellung am Eröffnungsdienstag und die letzte Vorstellung am Schlusssonntag. „Camera Shy“ war mein erster Film, und ich wunderte mich, dass ich danach im C1-Foyer keinen Bekannten traf. Also ging ich zum Universum, irgendwo musste Micha schließlich sein. Und richtig, da stand er, wie im vergangenen Jahr nicht, um einen Film zu sehen, sondern um zu gucken, ob er Bekannte trifft. Das hatte ich geahnt, das war also im Grunde eine indirekte Verabredung. Bei „Camera Shy“ hatte ich neben einem Ensemble-Mitglied der großartigen Impro-Theater-Gruppe „Jetzt & Hier“ gesessen, das erzählte ich Micha, der in Erinnerung daran jetzt aus seiner Tasche gleich deren neuesten Flyer zückt, für die Auftritte am 17. November in der KaufBar und am 15. Dezember im LOT. Mein zweiter Filmfest-Film war dann „Inuk“.

„Ich habe auch zwei Filme gesehen“, berichtet Micha. Er sah beide am Sonntag, den ersten am Vormittag, „Marina Abramović: The Artist Is Present“ über die Aktion im Museum Of Modern Art, als sich Marina Abramović an einen Tisch setzte die Museumsbesucher ihr gegenüber Platz nehmen konnten. Der Film dokumentiert die Reaktionen, die bis hin zum spontanen Weinen reichten. „Das war für mich der Film des Filmfests schlechthin“, sagt Micha. „Es war, als würde man ihre Präsenz über den Kinosaal wahrnehmen.“ Der Film habe ihn emotional stark berührt. Einziger Wermutstropfen: „Es muss nicht jede Szene in einem Film mit Musik unterlegt sein.“ Das sehe ich auch so, das nervt, bei „Inuk“ ging es mir streckenweise auch so. Hans Zimmer, nichts ist schlimmer. Draußen spannt André gerade die Sonnenschirme auf, und man hört, wie er Bänke übers Pflaster schiebt. „Für mich war das das Highlight des Festivals“, schwärmt Micha weiter. Sein zweiter Film sei da nicht mitgekommen: „Parked“, „ein schottischer Film, der war gut, aber vorhersehbar“, findet Micha.

André kehrt mit drei Schülern im Gefolge zurück in Café. Er stellt sich hinter die Theke, die drei davor. „Ich möchte Karten abholen für den Poetry Slam“, sagt Julius. André holt die entsprechende Tasche hervor und blättert in den Tickets. „Habt ihr schon welche zurückgelegt?“, fragt er. Haben sie, für den 30. November im LOT, nicht für den 23. November in der Neustadtmühle. André wird fündig. Julius zahlt und nimmt seine Karten entgegen. Die drei gehen an die Ricarda-Huch-Schule und nutzen eine Freistunde für diesen Ausflug in die Stadt. „Poetry Slams sind gut gemischt, da ist alles drin, verschiedene Geschichten, das inspiriert“, findet Julius. Sehe ich auch so, eine bessere Abendunterhaltung als „Wetten dass..?“. „Und die Eintrittspreise sind fair“, sagt Julius. Den Vorverkauf im Riptide nutzt er seit langem, „das ist mein Standardladen, ich bin hier fast seit der Gründung“, sagt er. Er nahm zwar selbst noch an keinem Slam teil, aber Lukas, der neben ihm steht: „Ich habe beim Beat Box Contest mitgemacht.“ Bei einem Poetry Slam auch, aber nicht öffentlich. Julius meint: „Ich müsste mich ein bisschen aufraffen, dann würde ich das auch mal.“ Lukas sagt: „Wir schreiben zu Hause Texte, machen auch Musik – aber nicht konsequent.“ Deswegen heiße seine Band auch „Inkonsequent“: „Wenn wir uns konsequent hinsetzen würden…“ Dabei hatten sie in den vergangenen fast drei Jahren schon diverse Auftritte, den nächsten am 29. November in der Aula der Gauß-Schule.

Auch Julius beschäftigt sich mit Musik, aber anders, er produziert mit einem Freund Hip-Hop-Musik für einen Rapper und hat auch sein eigenes Label, und: „Wir machen House- und Party-Musik.“ Der Rapper, den sie fördern, heißt „Saze“, das Party-Projekt „BeatsBrüder“. „Ich suche Rapper, die etwas aussagen wollen“, sagt Julius. „Die aber auch Spaß verstehen, wie Cro – aber das ist nicht einfach.“ Auch Lukas war schon dabei, als Rapper: „Das macht Spaß, einfach rauslassen und die Seele baumeln lassen“, sagt er. Beide überlegen, ob sie am Freitag zu Sound On Screen gehen, wenn im Universum der Film „Beats, Rhymes & Life“ über A Tribe Called Quest läuft. Rap und Poetry Slam, das sind Brüder.

In der nächsten Staffel von Sound On Screen laufen gleich zwei Pflichtfilme für mich. Einer davon erfüllt wahrscheinlich unzähligen Braunschweigern einen Traum, Organisatorin Beate eingeschlossen: „Heima“ von Sigur Rós kommt im Januar, nach langen Verhandlungen. Und am Nikolaustag „Shut Up And Play The Hits“, der Film über das Ende von LCD Soundsystem, einer der wenigen Nullerjahrebands, die ich persönlich umfassend gut finde. Vor anderthalb Wochen war ich mal wieder in Kopenhagen, direkt zum Beginn des Dokumentarfilmfestivals CPH:DOX, und da haben sie den Film auch gezeigt, allerdings, nachdem ich leider schon wieder weg war. Anschließend hat Bandchef James Murphy aufgelegt, zumindest laut Programmplan. Nach der Braunschweiger Filmvorführung gibt es aber auch Livemusik, und zwar spielen „Atari Collage“ im Riptide. In die Sound-On-Screen-Reihe würde „Fraktus“ auch gut passen, sind uns Micha und ich einig. Die Doppel-LP zu dem Film steht im Riptide-Regal. Nachdem André die Tische und Stühle draußen mit Karten, Zuckerstreuern, Decken und Kissen ausgestattet hat und hinter die Theke zurückkehrt, teilen wir ihm unseren Vorschlag mit. „Fraktus“ hatte vergangene Woche Bundesstart und müsste längst regulär laufen, auch in Braunschweig. Micha fürchtet, dass das aber nicht passieren wird. Dabei lief auch „Dorfpunks“ im C1, den hat ebenfalls Lars Jessen gedreht, nach einer Vorlage von Rocko Schamoni, einem der drei Studio-Braun-Mitglieder, die sich jetzt eben „Fraktus“ nennen und über diese fiktive 80er-Jahre-Band eine Mockumentary herausbrachten. Die norddeutsche Version von „Spinal Tap“, quasi Spirotonal Ratiotap.

Carsten gesellt sich zu uns. André begrüßt ihn mit einer hohen Fünf und bereitet ihm ebenfalls einen Kaffee zu. Carsten ist Mitbegründer des Eiko-Vereins, „der ist in Svens und meinem Übungsraum entstanden“, berichtet er. Dann ist er bestimmt auch Mitglied bei Fossajar? Ist er. „Und ich bin Schlagzeuger bei Agapornis.“ Von denen schwärmt Schepper immer, der wiederum die Eiko-Shows in der KaufBar moderiert. „Mit Schepper haben Agapornis in Goslar im Gecko gespielt“, erzählt Carsten. Stimmt, davon berichtete Schepper auch schon. Carsten lobt das Etablissement in den höchsten Tönen: „Wer mal nach Goslar fährt und eine gute Kneipe besuchen will, sollte ins Gecko gehen.“ Auch aus anderen Gründen: „Wir machen dort jede zweite Woche am Sonntag Session, jetzt am Sonntag wieder, seit zwei Jahren schon.“ Schlagzeuger war Carsten außerdem auch bei Murder At The Registry, direkt nach Boris, der jetzt bei Maxx Reebo trommelt. Koinszidenz: Murder At The Registry feiern am 24. November im LOT Wiederauferstehung. Als Carsten dort trommelte, war Martin Krause Gitarrist, und der stammt aus demselben Heidedorf wie ich. Die beiden wohnten sogar zusammen, erzählt Carsten. Die Welt, eine Erbse. Martin kannte ich besser aus dem Exil als aus dem Dorf, und, wieder ein Zufall, am Murder-Reuinion-Abend findet gleichzeitig in der alten Heimat, im früheren Nachbardorf, eine Exil-Revival-Party statt. Zweiteilen müsste man sich können.

„Furchtbar, Westernhagen“, ruft Nora angesichts des Albums „Die Sonne so rot“, das aus dem Second-Hand-LP-Kasten lugt. „Den habe ich gerade erst im Radio gehört“, ächzt sie angewidert. Verständlich, so etwas wie „Sexy“ ist echt übel, und außerdem macht er Werbung für die Bild. „Ich mag den“, sagt Flo, der neben ihr ebenfalls in Schallplatten blättert. „Er hatte ein paar gute Lieder.“ Nora entdeckt ein Album von Foreigner: „Sind das nicht die mit ‚Africa‘?“, fragt sie und weiß dann selbst: „Ach nee, das waren Toto.“ Wie schrecklich: Die beiden sind erst 19 und 25 Jahre alt, hätten also die Chance, wenn sie schon erfreulicherweise die ältere Musik aufarbeiten, sich dann auf die guten Sachen zu konzentrieren – aber doch nicht auf Foreigner und Toto? „Ich kenn die alle noch von früher“, lacht Flo. Und Nora sagt: „Ich mag Billy Idol, nach dem gucke ich immer mal, und wenn ich jetzt eine LP von ihm finde, nehme ich die sofort mit.“ Mit dem Stöbern hören sie auf, als ihnen André die bestellten Getränke an ihren Platz auf dem Sofa bringt.

Zurück an der Theke, holt André ein Foto aus einem Umschlag und zeigt es uns. „Das ist ein Foto vom Handelsweg nach der Bombardierung“, sagt er. „Das habe ich auf einem Flohmarkt gefunden.“ Das Besondere: „Die Kuppel ist noch zu sehen.“ André und Chris schauen regelmäßig nach alten Dokumenten vom Handelsweg, aber eines mit intakter Kuppel haben sie noch nicht gefunden. Auf dem Foto sind zerstörte Gebäude in hellem Backstein zu sehen. Ein Mann mit schwarzem Mantel und Hut geht genau in der Mitte vom Betrachter weg. Er steht inmitten des Achtecks. Über seinen Kopf hinweg kann man die Turmspitzen des Doms erkennen. Und über ihm das Gerippe der Kuppel, die bis dahin das maurische Achteck überspannte. Die Gebäudereste vorn sind geschlossen und zeigen noch nichts von der offenen Schaufensterfassade, die der Handelsweg heute hat.

Und André macht uns auf eine Premiere aufmerksam: „Es gibt im Dezember einen Lebendigen Adventskalender im Handelsweg und drumherum.“ Los geht es am 1. in der Magniküche, das Riptide ist am 3. und 22. dran. „Am 3. eröffnen wir die Glühwein-Saison und am 22. spielen ‚You & Me‘ bei uns.“ Die kenne ich, die waren bei Sibylle Schreiber in Wolfsburg schon mal in zu Gast. Sie etabliert dort zurzeit je eine Literatur- und Kleinkunst-Bühne im Café Extrem und kündigte das Duo dafür an. Am 7. Dezember tritt Till Seifert bei ihr auf. Die genauen Adventskalender-Termine werde es als Plakate und Flyer geben, sagt André, und jedes Geschäft hat das entsprechende Türchen als Klappe in der Eingangstür hängen. Seltsam: Das ist schon bald. Und gerade jetzt scheint so schön die Sonne. Carsten muss weiter, Micha auch, Flyer verteilen, André bedient in der Rip-Lounge lernende Schüler, und ich gehe auch, die Sonne genießen, wenn sie schon mal da ist.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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