#75 Alles Sense!

Freitag, 17. Januar

Was Braunschweig schon wieder für ein Glück hat. Eigentlich war es vom Verleih anscheinend gar nicht vorgesehen, den Film „Stop Making Sense“ im Kino wiederaufzuführen. Am 27. Februar erscheint Jonathan Demmes 1984 erstmals gezeigter Konzertfilm über die Talking Heads zwar als Neuauflage auf DVD und BluRay, aber nicht für den Kinobetrieb. Außer, man hat es mit dem Universum-Kino zu tun, genauer: mit Beate, die die Sound-On-Screen-Reihe mit dem Riptide organisiert. Für die Januar-Ausgabe der Reihe holte sie sich aus New York die Erlaubnis, „Stop Making Sense“ zum 30. Geburtstag des Films doch noch mal auf großer Leinwand zur vollen Entfaltung zu bringen. Und Braunschweig weiß diese Initiative zu würdigen: Schon Tage im Voraus ist der Film ausverkauft. Das ist erst das ungefähr fünfte Mal, dass ein Sound-On-Screen-Film bis zum letzten Platz belegt ist.

Schon im Vorfeld brennt die Luft, alle haben – mit Verlaub – einen tierischen Bock auf den Film. Interessant ist die wilde Mischung an Leuten, die „Stop Making Sense“ sehen wollen. Die Talking Heads machten eben keine Schubladenmusik. Als CBGB-Geburt würde man sie grob für Punk halten, schließlich, wie Beate in ihrer Anmoderation bemerkte, eröffneten sie seinerzeit in den 70ern mit ihrem ersten Live-Gig für die Ramones. Selbst mit New Wave wird man der Musik nicht gerecht. Funk, Disco, Pop – man findet viel in der Musik, und ebenso viel im Publikum wieder. Auch recherchierte Beate, dass die Opening Credits, wie die Schrift im Vorspann ja nun heißt, von demjenigen gestaltet wurden, der sie auch für „Dr. Stangelove“ von Stanley Kubrick angefertigt hatte. „Pablo Ferro, aber den kennt wahrscheinlich niemand“, stellt Beate wahrscheinlich korrekt fest. Auch ermittelte sie, dass es sich bei Regisseur Jonathan Demme um ebenjenen handelt, der auch „Das Schweigen der Lämmer“ dokumentierte.

Es knistert zwischen den Sitzreihen, der Film startet, die Leute sind gespannt. Und machen dann etwas, das man nun wirklich nicht erwartet: Nach jedem Song applaudieren und jubeln sie, als wäre die Band leibhaftig auf der Bühne. Die Stimmung ist unglaublich, mit dieser Rückmeldung quittieren die Gäste ein- und ausdrücklich, wie sehr sie sich auf den Film gefreut haben. Und über ihn freuen. Am Ende ertönen sogar vereinzelte „Zugabe“-Rufe. So ist Braunschweig!

Den Soundtrack zum Film habe ich seit Ewigkeiten, den Film indes noch nie gesehen. So geht es vielen, doch gibt es auch eine Menge Leute im Publikum, die schon dabei waren, als die Lupe den Film vor 30 Jahren zeigte. Oder sie waren bei einer der vielen Wiederaufführungen danach. Wie gesagt, ich kenne die Musik – und bin überrascht, welchen Dimensionszuwachs sie mit den Bildern erfährt. Die altvertrautren Songs sind nicht mehr länger einfach nur die altvertrauten Songs. Es stellen sich Aberdutzende von Aha-Effekten ein. Und das direkt von Anfang an: David Byrne geht auf die völlig leere Bühne, stellt einen Ghettoblaster neben den Mikroständer, nuschelt „ich mach mal eben ne Kassette an“ und justiert seine Akustikklampfe. Vom Tape ertönt der Beat zu „Psycho Killer“. Kenne ich, denke ich, und stelle fest, dass das gar nicht richtig stimmt. Natürlich ist mir der Song mehr als vertraut, doch war es mir nie bewusst, dass es sich dabei um so eine Art Techno handelt. Schon jetzt ist klar, dass ich den Soundtrack künftig sozusagen mit neuen Ohren hören werde. Byrne zappelt im grauen Anzug ungelenk über die Bühne; das wird sein Markenzeichen den ganzen Konzertfilm über sein. Eine Ausdauer hat der Mann! Und eine Qualität hat der Sound! Ist der wirklich schon 30 Jahre alt?

Tina Weymouth gesellt sich zu Byrne auf die Bühne, mit ihrem Bass. Sie performen zu zweit und ohne Beats die Ode an die Kneipe „Heaven“. Nach und nach schieben schwarzgekleidete Roadies weitere Instrumente auf die Bühne, mit ihnen die dem Ur-Quartett angehörenden Chris Frantz und Jerry Harrison, aber auch noch schwarze Percussionisten, Keyboarder, Gitarristen, Sängerinnen, genau gesagt: Lynn Mabry, Edna Holt, Bernie Worrell (von Parliament und Funcadelic), Steve Scales und Alex Weir, die den zackigen Weiße-Leute-Funk um soulig-groovenden schwarzen Funk anreichern. Auch das ist eine Erkenntnis, die mir einen neuen Zugang zur alten Musik erzwingt. Aus dem New Wave und dem Art Pop wird so Funk und Disco, inklusive „Genius Of Love“ in der Inkarnation als Tom Tom Club, dem Lied, in dem sie ihre Vorbilder aufzählen, wie Kurtis Blow, Hamilton Bohannon und James Brown, also reinrassigen Punkrock, natürlich. Wenn man sich das so ansieht und anhört, weiß man außerdem, wo zeitgenössische handgespielte Tanzmusikkapellen wie !!! oder LCD Soundsystem den Most herholen. Holten, LCD Soundsystem gibt es ja nicht mehr, und die Doku „Shut Up And Play The Hits“ lief vor exakt einem Jahr bei Sound On Screen.

Noch eine Erkenntnis, auf die ich eigentlich auch alleine hätte kommen können, ohne „Stop Making Sense“ gesehen zu haben: Eine meiner Lieblingsszenen in Paolo Sorrentinos „Cheyenne“, der im Original „This Must Be The Place“ heißt, weil David Byrne mitspielt und Hauptfigur Cheyenne in der Mitte des Filmes auf einem Konzert des Musikers ebenjenen titelgebenden Song hört, ist genau diese mit dem Konzert. Man sieht: Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und manikürt sich schunkelnd die Finger, während ein Haufen Musiker den Song spielt. Die Leinwand mit der Projektion von der Frau schwingt vor die Band, David Byrne taucht im Blickfeld der Kamera auf, als sei er Eddie von Iron Maiden knapp vor der Verwesung. Großartig. In „Stop Making Sense“ spielen die Talking Heads den Song wie in einem Wohnzimmer, Byrne tanzt akrobatisch mit einer Stehlampe. Rückblickend wirkt es, als habe Sorrentino die Sequenz auf eine moderne Ebene heben wollen. Ebenso großartig. Was beim besten Willen nicht heißt, dass „Stop Making Sense“ unmodern wäre.

Für jeden, der den Soundtrack kennt, ist der ganze Film voller Hits. Natürlich freut man sich besonders über die, die auch in echt Hits sind, wie „Burning Down The House“ und „Once In A Lifetime“, aber selbstverständlich ist es jeder Song wert, ihn stürmisch applaudierend gutzuheißen. „Girlfriend Is Better“ ist, wie auch Beate eingangs erwähnte, das Stück, aus dem die Zeile „Stop Making Sense“ stammt. Natürlich, es gibt keine Atempause, „Take Me To The River“, „Life During Wartime“, man glaubt gar nicht, dass die Talking Heads zum Ende des Films noch furioser werden, als man sie von Anfang an wahrnimmt. Nur schwer hält es uns in den Sitzen. „Ich hätte am liebsten jetzt schon getanzt“, sagt eine Zuschauerin zwei Plätze neben mir.

Erstaunlich ist für einen Musikfilm, dass er nicht in der hektischen MTV-Schnittfolge zusammengesetzt ist. Demme lässt sich Zeit für einzelne Musiker und Impressionen. Bisweilen führt das zu dem Phänomen, dass er Leute fokussiert, die irgendetwas tun, und die Musik gerade Kapriolen schlägt, von denen man sich als Zuschauer wünscht, Demme würde die Kamera auf den Kapriolen-Erzeuger halten. In der Regel aber zeigt er sehr wohl, was man sehen muss, etwa das breite Grinsen auf den Gesichtern der Mitmusiker, die Action, die die beiden Sängerinnen veranstalten, und auch den Umstand, dass Byrne und Weymouth keinen Augenkontakt haben. Das fällt besonders mit dem Wissen um das fragwürdige Ende der Band acht Jahre später auf, als Byrne sie auf eine Art und Weise zu den Akten legte, die die übrigen drei Musiker etwas verschnupft reagieren ließ, etwa damit, unter dem Namen „The Heads“ das Album „No Talking, Just Head“ mit unzähligen Gastsängern herauszubringen. Das war leider nicht besonders gut, Byrnes Stimme fehlte einfach. Und auch sein Bühnengebaren, das er in „Stop Making Sense“ im allseits bekannten übergroßen Sakko darbot. Auch eigenwillig für einen Konzertfilm übrigens: Erst zum Schluss sieht man das bunt zusammengewürfelte glücklich grinsende Publikum wie entrückt mitgrooven. Nun, auf der Leinwand wie vor der Leinwand.

Tja, und nach „Stop Making Sense“ war dann „Road To Nowhere“, für viele Fans der Anfang vom Ende. Ich hingegen lernte sie damals als Radiohörender genau damit erst kennen und mögen. Wie selbstverständlich kaufte ich mir dann auch ältere Alben und wunderte mich gar nicht, dass die so deutlich anders klangen und komponiert waren als die Radiohits von später, zu denen auch der Song gehört, der einer anderen Band den Namen gab: „Radiohead“. So war es für mich zum Beispiel auch bei OMD und den Simple Minds: Ausgehend von ihren Mittachzigerhits, legte ich mir die düsteren, monotonen frühen Alben zu und nahm das, was ich da hörte, als selbstverständlich hin, ohne zu bemerken, dass es sich dabei um keinerlei Chartsmusik mehr handelte. Das waren Zeiten! Denn in die Charts kam solche Musik trotzdem.

Nach dem Film ist vor dem Riptide, wie immer bei Sound On Screen. In dem Café laufen kenntnisreich ausgewählte New-Wave-, Post-Punk- und Indie-Hits, aber die Leute sind zum Reden da, gefeiert wird später. Und es sind, weil der Film ausverkauft war, so viele Leute, dass sich die Party auch im gerade nichtsokalten Januar draußen im Achteck fortsetzt. Ausverkauft ist ein Stichwort, denn Beate gelingt es, den Film ein zweites mal aufführen zu lassen, und zwar am Montag, 27. Januar, ab 21 Uhr. Auch das ist nicht der erste Sound-On-Screen-Film, der eine zweite Chance bekommt. Sogar dritte Chancen gab es schon. Und es gibt schon jetzt das nachfolgende Programm: Am Donnerstag, 6. Februar, zeigt das Universum im Rahmen des Warmen Winters den Film „And You Belong: Scream Club“ über das Hip-Hop-Duo Scream Club. Regie führte Julia Ostertag, frühere HBK-Studentin. Scream-Club-Mitglied Sarah Adorable legt anschließend im Riptide auf. Am 20. Februar folgt dann der nächste reguläre Beitrag: „Scott Walker – 30 Century Man“.

Epilog

Wem habe ich es zu verdanken, dass ich in den proppevollen Saal überhaupt hineingekommen bin? Micha natürlich, er besorgte mir kurz vor knapp ein Ticket. Wie es sich gehört, trafen wir uns zur Ticketübergabe im Riptide, tags darauf auch im Kino, nach dem Film im Riptide und am Samstag erneut ebendort. Dann aber stieß er zu einer bestehenden Runde dazu. Samstag im Riptide, es ist Winter – es hängen viele Leute bei Serge in der Lounge herum. Er hat seinen Laden im Blick, obwohl Jakob „Nathan, der Weise“ lesend darauf aufpasst. Neben Serge bildet Markus wie immer mit ihm eine Laptopgemeinschaft. Kamila erfüllt uns unsere sehnsüchtigsten Getränke- und Speisewünsche und ist dabei mindestens so charmant wie ihr Chef André, der uns durch die Scheibe zuwinkt und seinen Charme dieses Mal nur optisch wirken lässt. Die Runde um Serge pulsiert. Niclas ist da, Philipp kommt und geht und kommt und geht und bleibt das nächste Mal bei uns, nachdem er in Serges Laden ein Buch fand und es bei ihm erstand. Micha tritt in die Runde, Carsten und Iris stoßen dazu, Carsten hat noch einen Auftritt in der Funzel, Dorothea gesellt sich kurzzeitig zu uns. Wir sind immerzu in tiefen Gesprächen versunken, und auch bei abweichender oder gegensätzlicher Haltung eint uns, dass wir einander zugetan sind. Ja, es geht in die Tiefe, ist existentiell. Was macht das Leben aus? Serge hat die radikalste Haltung gefunden, aus Sicht derer zumindest, die sie nicht – oder noch nicht? – haben. Niclas erzählt mir, dass ihm Serge essentielle Denkanstöße gab, sein Leben zu ändern. Niclas wagt einschneidende Schritte, das ist mutig. Ich kann ihn verstehen, und ich sehe auch, welche Wirkung jemand wie Serge auf junge Leute hat; dazu zählen Menschen zwischen 15 und 45, Gleichaltrige bleiben kaum bei dem 68-Jährigen hängen. „Ich sehe einen seidenen Faden in deiner Argumentation“, sagt Serge zu mir gegen Ende des mehrstündigen Beisammenseins. „Denk mal drüber nach.“ Er muss es mir dann doch verraten, weil ich nicht darauf komme, und ich bestätige, dass er tatsächlich eines meiner persönlichen Themen entdeckt hat, was ich in dem Zusammenhang selbst gar nicht ausgemacht hätte. Daraus kann ich wieder eine Menge für mich und über mich ableiten. Die Samstagnachmittage im Riptide. Hör nicht auf, einen Sinn zu machen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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