#80 Theatertrainer

Samstag, 14. Juni

Was ist denn heute noch alles: Tag der Altstadt, Straßenfest am Frankfurter Platz, Festival Theaterformen, Sommerfest der Kunstmühle, Fußball-Weltmeisterschaft… Am frühen Nachmittag bauen Leute am Frankfurter Platz noch ihre Pagoden auf, Cem stellt mit Helfern einen schweren Grill vors Gambit. Also auf in den Handelsweg, vorbei am Altstadtmarkt, wo gerade gegenteilige Aktivitäten zu beobachten sind, denn die Marktbeschicker bauen ihre Stände nach verrichteter Verkaufsarbeit schon wieder ab.

Das Segeltuch über dem Achteck zwischen Café Riptide und der Rip-Lounge birgt heute das Versprechen auf Regenschutz, das lassen die grauen Wolken zumindest erhoffen, die die Leute auch in festeres Schuhwerk und wärmere Kleidung zwingen. Ich setze mich zu Dani, die ich vom Silver Club kenne und der ich erst am Vormittag auf dem Heimweg vom Wochenmarkt begegnete. Da war sie auf dem Weg zu einem Workshop, und der macht just nun Mittagspause, daher sitzen vier Teilnehmerinnen mit Bagels, Fladenbroten, Kaffeekreationen und vollen Aschenbechern zwischen sich beim Riptide. Sie müssen gleich wieder zurück ins FamS, zu ihrem Workshop: Marte Meo. Das ist eine Methode zur Erziehungsberatung: „Wir nehmen die Kinder auf Video auf und machen videobasierende Entwicklungsarbeit“, erklärt mir Dani. „Wir filmen uns dabei, wie wir Kindern unter drei Jahren Worte geben für das, was sie tun.“ Oder wie sie die Kinder erzieherisch in ihrem Tun unterstützen, indem sie nicht etwa ein Auto, mit dem ein Mädchen spielt, wegnehmen und es gegen eine „Püppi“, so Dani, austauschen. Kern ist für diesen Workshop aber: „Kindern, die noch nicht im Fluss sind mit der Sprache, Worte geben.“ Sie nennt ein Anwendungsbeispiel: Ein Kind klopft mit einer Masse Knetgummi auf den Tisch. Dann sagt man nicht: „Oh, du klopfst mit der gelben Knete auf den Tisch“, sondern nähert sich über das, was auch das Kind wahrnimmt: „Tock tock tock“. „Man muss das Vokabular aufbauen“, sagt Dani. Erst später sagt man das, was tatsächlich passiert. Man solle auch dem Kind keine Fragen stellen, wie „Ist das Auto blau?“, denn das Kind könne diese Frage noch gar nicht für sich beantworten. Stattdessen solle man konkret sein: „Das ist ein blaues Auto.“

André bringt mir die Fritz-Kola mit Kaffee, Dani isst ihr Fladenbrot, während sie weitererzählt. Im Rahmen von Marte Meo nun schauen sich die Teilnehmer nach solchen Auseinandersetzungen mit Kindern die dabei entstandenen Videos an. Sie werten dann aus, wie sie ein Kind besser stärken und seine Ressourcen nutzen können. „Und ich kann mich selber analysieren: Gehe ich auf das Kind ein? Ich kann aus Kinderaugen gucken: bin ich abgelenkt, habe ich einen falschen Eindruck?“ Dani erläutert, dass Kinder erst ab einem Jahr damit beginnen, Worte zu finden, und dass sie Wörter mindestens 100 Mal gehört haben müssen, bis sie sie wiederholen können: „In einer wortlosen Eltern-Kind-Beziehung können Kinder nichts lernen.“ Manchmal sei es auch bei mehrsprachig aufgewachsenen Kindern erforderlich, für bestimmte Dinge die deutschen Wörter zu finden, für die sie in anderen Sprachen selbstverständlich schon Wörter haben. Eine Kritik am multilingualen Aufwachsen sei diese Feststellung mitnichten: „Das ist super, das ist das Beste, was man Kindern mitgeben kann.“ Es gebe schlichtweg natürliche Lücken, die es zu füllen gelte. Sie selbst habe etwa als Kind eine Strandmatte ausschließlich im Griechenlandurlaub benutzt und deshalb ganz selbstverständlich auch nur das griechische Wort dafür gekannt: „Zassa.“ In Deutschland wunderte sie sich dann später, als sie das Wort erstmals brauchte und sie niemand verstand.

An diesem Workshop nun nehmen Vertreter unterschiedlichster Pädagogik-Spielarten teil. Dani gegenüber erhebt sich gerade mit ihr und den anderen Anja von der Bank, und Anja ist Spezialistin in Zwergensprache. Das lässt mich stutzen. Sie erklärt: „Das ist im Grunde das, was jeder mit Kindern macht“, winkt mit der Hand und sagt: „Winkewinke.“ In der Zwergensprache bediene man sich nun der Gebärdensprache und verbinde sie mit dem gesprochenen Wort: „So verknüpfen sich die Synapsen schneller.“ Das Winken galt mir auch im direkten Sinne, die vier eilen zurück zum FamS, dem Familien-Service-Büro.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Achtecks sitzen Nina, Jogi und Steffi, ich geselle mich dazu. Sie haben ebenfalls Aschenbecher und Getränke, aber auch Kirschen und Erdbeeren zwischen sich. Die brachte Steffi vom Markt mit, daher kenne ich sie nämlich auch, sie verkauft dort Obst. Über den Weg läuft sie mir ansonsten auch beim Filmfest als Kartenabreißerin. Und jetzt im Riptide. Der Job als Verkäuferin auf dem Wochenmarkt sei ein Psychologiestudium, sagt Steffi. Kirschkerne und Stiele fallen in die Asche. Heute sei viel los gewesen, sie waren zu sechst und hatten trotzdem kaum Luft. Neben ihr stand Anton, den ich auch aus der Galerie auf Zeit kenne. Ein richtiger Kulturstand, an dem sie da arbeitet. Wir teilen unsere fragwürdigen Beobachtungen von Kunden, die nicht einmal Standards wie Anreden oder Grußformeln beherrschen. „Aber 90 Prozent sind nett“, sagt Steffi. Sonst würde sie den Job auch nicht machen. Vergleichbares erlebe sie bisweilen auch bei ihrem anderen Job in der HBK-Bibliothek, wenn Kunden grundlos unfreundlich sind: „Dann bin ich extra-freundlich“, grinst sie. Jogi stimmt zu: „Zu Tode lieben.“

Außerdem ist Steffi im Kunstverein Jahnstraße aktiv. Sie verteilt uns Flyer von Malte Bartsch und seiner Ausstellung „Warm Up“. „Der hat bei Ólafur Elíasson studiert“, erklärt sie. Vom Kunstverein Jahnstraße sei sie zwar kein Gründungsmitglied, aber damals zur zweiten Ausstellung eingestiegen. „Es macht Spaß, wenn man sich verwirklichen kann“, sagt Steffi. Es entwickelt sich zwischen Steffi, Jogi, Nina und mir ein Ping-Pong aus „Den kenne ich auch, hat der nicht mit jener zusammengearbeitet?“ – „Ja, kenne ich von auch dort.“ Wir stellen fest, dass Braunschweig für uns genau die richtige Größe hat: Jeder, so Steffi, habe sein Metier, in dem er unterwegs sei, aber an den Kanten gebe es Schnittmengen. „Dabei komme ich nicht mal von hier, sondern aus Karlsruhe“, sagt sie. „Ich auch nicht, aus Bremen“, sagt Jogi. „Ich liebe Bremen“, sagt Steffi, und beide geraten ins Schwärmen. Jogi schränkt ein, dass er nicht direkt aus der Hansestadt stamme, sondern aus einem Dorf in der Nähe. „Ich komme auch aus einem Dorf“, sagt Nina. „Winsen an der Aller.“ Nur wenige Kilometer von dem Dorf entfernt, aus dem ich stamme. Auch Steffi kommt eigentlich aus einem Dorf bei Karlsruhe: Rheinstetten, direkt am Rhein, wie der Name schon verrät. Auch Jogis Dorf lag an irgendeinem Fluss, Ninas an der Aller – nur meines knochentrocken irgendwo in der Heide. Immerhin, hier in Braunschweig haben wir die Oker. „Seid ihr schon mal in der Oker geschwommen?“, fragt Steffi. Ich nicht, nicht mal unfreiwillig. Steffi ja, 2010, beim letzten Lichtparcours, nach dem HBK-Sommerfest, weil alle völlig durchgeschwitzt waren und sich nach Abkühlung sehnten. „Ich ja, aber angezogen“, berichtet Nina grinsend. „Ich auch, aber nicht in Braunschweig, sondern im Harz“, sagt Jogi. Wir stellen uns vor, wie er zwischen Eiswürfeln geschwommen sein muss.

Und dann werfen sich Jogi, Nina und Steffi nur so die anstehenden Termine um die Ohren. Morgen Mittag ein Spray-Event mit DJ vom The-Bridge-Verein unter der Brücke am Fireabend. Morgen Abend das Konzert von Automat beim Festival Theaterformen. Morgen Nachmittag die dritte Wasserschuh-WM von Wood am Heidbergsee. Jogi und Nina schwärmen vom Drecksclub am 17. Juli im LOT, das sagt mir gar nichts, es fallen Erklärungen wie „theaterperformativ“, „Projekt“ und „skurril“, für das man zwingen Karten vorkaufen müsse, weil sie so begehrt seien. Am 24. Juni spielen „Kreis“ im Nexus, die eigentlich o heißen. Oder umgekehrt. „Die kommen aus dem Dreiländereck“, sagt Jogi, „und erscheinen auf Antenna Records.“ Das Label kenne ich, von dem bekomme ich immer die Rundmails. „Das macht Timo“, sagt Jogi, „ein Gitarrenschüler von mir – der ist sehr nett.“ Steffi und ich verabreden, dass wir uns heute Abend beim Sommerfest in der Kunstmühle treffen, das Elke und Martin von blackhole-factory organisieren.

Wir müssen umziehen, mahnt André, denn er braucht unseren Platz als Bühne für die Bands, die hier gleich spielen sollten. Eine offene Bühne war angekündigt, aber außer Arjomi hat sich niemand angemeldet. Und Jogi spielt bei Arjomi. Also ziehen wir zurück an den Tisch, an dem ich vorhin startete. Vor dem Auftritt muss Jogi kurz nach Hause, er beauftragt Nina damit, seine Bandkollegen abzufangen. Ein bisschen Regen setzt ein, Nina, Steffi und ich rücken weiter ins Achteck, unter das Segeltuch, das seinen angedrohten Zweck nun tatsächlich erfüllen kann. Lars kommt mit Frau und zwei Kindern durch den vollbesetzten Handelsweg auf Nina und mich zu. Er kennt uns, weil wir mit dem Silver Club schon zweimal bei ihm zu Gast waren – er ist Braunschweigs Jugendpastor und damit Hausherr der Jugendkirche. Zwischen dem Silver Club und ihm war es Liebe auf den ersten Blick: Wir fühlten uns mit dem Club beide Male pudelwohl mit ihm und seinem extrem engagierten Team, und er schätzte, dass wir das Programm in seinem Haus kreativ erweiterten. „Ich mache eine selbstgestaltete Altstadtführung“, sagt Lars mit Blick auf seine Familie. Die Kinder tragen Luftballons und Faltblätter: Sie gehen im Rahmen des Tages der Altstadt von Laden zu Laden. Dort bekommen sie Fragen beantwortet, die sie dann in dem Faltblatt per Aufkleber bestätigt bekommen, sowie die nächste Frage gestellt, für deren Beantwortung sie dann in den nächsten Laden gehen müssen. „Hier müssen wir auch noch rein“, sagt Lars mit Schulterblick und Fingerzeig auf das entsprechende Banner, das auch vor dem Riptide hängt. Nina und ich erzählen ihm, dass Arjomi noch spielen werden. Die kennt er, weil sie bei unserem ersten Silver Club in der Jugendkirche von der Empore herab spielten und beim folgenden Club im Eiskeller Ankes Feuershow untermalten. „Dann müssen wir wiederkommen“, sagt Lars und folgt seiner Familie und dem Faltplan, der sie zur nächsten Station führt.

Jetzt wird der Regen aber immer schlimmer. Eigentlich wollte Steffi mit ihren Erdbeeren nach Hause, kommt aber doch wieder zu uns zurückgewetzt. Durchnässt treffen Falko und Flo ein und setzen sich zu uns: Falko ist der von Jogi erwartete Mitmusiker, und außerdem der Sohn von dem Klaus, der beim Silver Club immer mit seinem Kaffeewagen die Gäste beglückt, und daher kennen wir uns, denn Falko war schon einige Male selbst als Kaffeewart dabei. „Jogi hat gehört, dass hier heute offene Bühne ist“, erklärt Falko den Grund für den Auftritt der Band. „Riptide, nie gehört“, sagt Falko, denn er kommt aus dem Landkreis Peine. Er spielt Darbuka, eine orientalische Blechtrommel. Flo und er haben zudem Flowersticks dabei, die aussehen wie überdimensionierte Wattestäbchen und mit denen sie jonglieren und herumspielen. „Die haben wir selber gebastelt“, sagt Flo und lässt das Gerät über seinen Arm rollen, während es Falko wie einen ausgiebigst gebrauchten Drumstick durch seine Finger rotiert. Der Stick klebt an der Haut: „Das ist Badezimmersilikon, das hilft am besten“, verrät Flo. Jogi setzt sich nun zu uns und erklärt, dass das Konzert wegen des Regens im Café stattfindet. Falko holt einen Umschlag aus seiner Tasche und überreicht Jogi einen bunt bedruckten Papierstreifen. Jogi gerät aus dem Häuschen: Es ist ein Ticket zu „Ancient Trance“, einem Maultrommel- und Weltmusik-Festival in Taucha bei Leipzig Anfang Juli. Was es nicht alles gibt. Für den heutigen Abend sind Falko und Flo zudem fürs UJZ in Peine verbucht: Dort findet eine Psytrance-Veranstaltung statt.

Nina und Steffi bekommen ihr geordertes Essen und stillen damit sofort ihren Hunger. „Die Sonne kommt“, sagt Steffi und beißt in ihr Fladenbrot. Ich blicke in den nur zaghaft nachlassenden Regen und bin verwundert. „Und ein Regenbogen“, sagt Steffi. „Gibt’s auch Regenbögen bei Vollmond?“ Flo sagt ja: „Aber nur ganz selten.“ Ich berichte, dass wir uns kürzlich mit ein paar Leuten fragten, ob der Blitz auch in einen Regenbogen einschlagen kann. Steffi nickt kauend: „So werden Einhörner geboren.“

Arjomi bauen ihre Gerätschaften auf, wir siedeln mit ihnen ins Café-Innere um. Nina, Flo und ich sitzen am Tisch, da kommen Micha und eine andere Dani zu uns. Micha war beim Flohmarkt in der Stadtbibliothek und hat einen Stapel Filme und Bücher unterm Arm, für die er nur wenig Geld bezahlte. Er berichtet vom neuen Film von Jean-Pierre Jeunet, berühmt für „Amélie“, der da heißt „Die Karte meiner Träume“ und den es im Juli auch in 3D geben soll. „Wollen wir den zusammen gucken?“, fragt er mich. Aber sicher!

Arjomi legen los. Mit mehrstimmigem Meditations-Gesang. Die inzwischen vier Musiker benutzen Klangschalen, Akustikgitarren, gedrehte Didgeridoos, Flöten, Regenmacher, Gong. Es klingt indianisch und ist repetetiv und tanzbar. Nina tanzt prompt dazu, wie sie es immer tut, wenn Arjomi spielen. Sie bleibt nicht allein damit. Wie es langsam anbrandete, ebbt das erste Stück auch wieder ab. Die Leute klatschen, und einer der Musiker fragt: „Kann man uns hier hören?“ Flo ruft laut zurück: „Nee. Wir haben einfach mal gehofft, dass es gut war.“

Irgendwann steht dann doch der Rest des Tages an, ich bezahle bei André meine bestellte LP von Numb. Er hat heute Hilfe von der zweiten Nina und Shabnam. Das dritte „12×12“-Heft liegt auf dem Tresen, ich habe es schon, weil Eileen, die mit Marcel die Agentur „Katze Bullshit“ unterhält, die für das Projekt „12×12“ verantwortlich ist, es mir in Wolfsburg zur Verfügung stellte. Normalerweise erscheint „12×12“ immer zum 12. Dezember, dieses Mal, weil’s im letzten Jahr aus organisatorischen Gründen ausfiel, zur Halbzeit, am 6. Juni. Aber nicht halb so groß deshalb, es bleiben zwölf mal zwölf Zentimeter voll mit Texten und Bildern lokaler Künstler.

Micha begleitet mich heraus, wir kommen bei Serge vorbei, oder besser: kommen wir nicht, weil er uns mit Fußballthemen bremst. Erstaunlich: Da sitzen wir am Anfang der Fußball-WM stundenlang im Riptde in wechselnden Personalarrangements beieinander, und wo wird der Proletensport Thema? Beim intellektuellen Philosophen nebenan. Serge sieht darin „L’art pour l’art“, wie er sagt: „Ich bin Regisseur, und Regisseur ist der nächstgelegene Beruf zum Trainer.“ Er bringt Theaterensemble und Fußballmannschaft auf einen Nenner: „Alle sind Künstler – es ist identisch.“

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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