#92 Die Stadt ist eine Erbse

Mittwoch, 24. Juni 2015

Es wird jetzt meta, und zwar so meta, dass es eigentlich schon fast kubikmeta ist: Heute treffe ich mich im Café Riptide mit Toddn, weil der in seinem neuen Buchbauer-Verlag ein Buch mit Auszügen aus diesem von mir befüllten Café-Riptide-Blog herausbringen will, und er selbst kommt in diesem Buch auch vor, als zitierter Gast des Cafés. Möbius hätte seine wahre Freude daran gehabt. Gründen wir eine Möbius-Band. Als Toddn sich zu mir an die Theke gesellt, habe ich gerade die letzten Krümel der Tortilla-Chips im Mund, die Jasmin als Beilage zum wie immer sauleckeren Bonanzaburger an den Tellerrand gestapelt hatte. Toddn ist reichlich unentschieden, mit welchem Getränk aus der nicht unüppigen Getränkekarte er sich selbst jetzt einen großen Gefallen tun könnte, was André, der am PC steht und Schallplatten katalogisiert, während er auf Toddns Entscheidung lauert, sehr breit grinsen lässt. Umherschwankend entscheidet sich Toddn: „Ich nehme ein Mineralwasser.“ André spottet mit noch breiterem Grinsen: „Mehr nicht? Dafür nehme ich doch meine Hände nicht aus der Tasche!“ Dort hat er sie eh nicht, schließlich hat er alle Hände voll zu tun, und so ist es ihm ein Leichtes, Toddn ein Viva con Agua aus dem Kühlschrank zu holen.

Andrés Vorbereitungen beziehen sich auf den Sedan-Bazar, das Handelsweg-Straßenfest, das am Samstag wieder stattfindet. „Bei uns gibt es einen Diät-Diavortrag: ‚Ihr habt Rücken – wir haben Bauch’“, sagt André. „Danach wird gegrillt, es gibt ein großes Veggie-Barbecue bei uns, außerdem Live-Musik und einen Plattenflohmarkt.“ Davon hat mir Jogi erzählt, als ich ihm kürzlich einige Platten abkaufte, nachdem wir uns bei Serge nebenan getroffen hatten. „Jogi ist mit am Start“, bestätigt André. Und schränkt die Information über den Diavortrag etwas ein, ebenso wie die restlichen Programmpunkte, die ein neueres Braunschweiger Stadtmagazin in seiner aktuellen Ausgabe abdruckte: „Sie haben alles übernommen – außer dem Hinweis, dass das Programm sich ändern könnte.“ Aber die aufgelisteten Live-Musiker stimmen: „Schepper endlich mal wieder nach einem Jahr Pausieren“, freut sich André mit mir. Außerdem DeCheffen, Collaters und Silver-Club-Resident-Gitarrero Tom Hinze. „Auch bei Helmut in der Strohpinte gibt es Live-Musik, ab 20 Uhr Wild At Heart“, ergänzt André. Die Handelsweg-Anrainer beteiligen sich zudem mit Kunstflohmarkt, Kinderschminken und: „Ich weiß nicht, ob das einen Namen hat, wenn du aus Luftballons Pudel knotest?“ Hat es bestimmt; ich weiß auch nur, dass man bei dieser Aktivität immer sofort Pudel im Sinn hat. Und Serge wird mir später erzählen, dass bei ihm am Samstagmittag Tilmann Thiemig eine Lesung hält, als Ersatz zu der ursprünglich in dem zuvor erwähnten Magazin angekündigten Legastheniker-Lesung.

Seinen echten ersten Auftritt nach der Pause hatte Schepper kürzlich in Hannover im TAK, dem Theater am Küchengarten, bei der ausgesprochen sympathischen Lesebühne „Nachtbarden“. Mit seinem Musikerfreund Andreas begleitete ich Schepper auf seiner Exkursion dorthin. Kurz danach bestritt Schepper das Vorprogramm bei Andreas‘ eigener Band, der Ronnie Gaines Band, die zum Abschied ihres Schlagzeugers ein kleines Konzert im Magniviertel gab. Und nach dem Sedan-Bazar wiederum spielt Schepper als nächstes bei Woodys vierter Wasserschuh-Weltmeisterschaft am Heidbergsee, am 5. Juli. Auch daran ist mein künftiger Verleger Toddn beteiligt, als Moderator, zusammen mit Marc D. Die Stadt ist eine Erbse, werter Möbius.

Jetzt müsste Schepper es nur noch schaffen, auch mal in Roskilde zu spielen. Das ist gar nicht so abwegig, schließlich lebt seine Schwester dort, und in Roskilde gibt es ja mehr Auftrittsmöglichkeiten als nur das Festival. Nächste Woche beginnt dieses wieder, und Scheppers Schwester ist natürlich dabei: Sie wohnt nur „1 fahrbierlänge mit dem radl“ davon entfernt, wie sie mir textete. Seit 2001 war ich selbst nicht mehr bei dem Festival, damals hatte ich eine Pressekarte und zeltete mit anderen Pressevertretern auf einem Sportplatz. Ich war allein da, aber auf dem Roskilde Festival ist man nie lange allein. Das war ein nachhaltiges Erlebnis. Natürlich waren die Besuche im Rudel 1994, 1995 und 1997 auch geil, aber dieses Losgelöste, Freie, Ungebundene und trotzdem Gemeinschaftliche beim Alleinereisen hat eine ganz eigene, wichtige Qualität, die ich gerne erfahren habe. Bei allen vier Festivalteilnahmen erlebte ich eine unüberblickbare Menge eindrucksvoller Geschichten. Auch abseits des Festivalplatzes: 2001 hatte ich am Montag und Dienstag nach dem Festival noch frei und verbrachte die Zeit in Dänemark. So erlebte ich den berühmten kotzenden Drachen im Dom zu Roskilde, schwamm mit einem Wikingerboot als Kulisse im Roskilde Fjord, lernte dabei einen Typen kennen, der Hausmeister eines Wikinger-Reenactment-Theatergeländes in Frederikssund war, ließ mir jenes von ihm zeigen und cruiste zum Abschluss bei geilstem Sonnenwetter mit heruntergelassenen Autofenstern zum Donauwalzer durchs lebendige und lebensfrohe und strahlende Kopenhagen. Auch 14 Jahre später wirkt diese Etappe nach. Allein, mein Dänisch will sich nicht wie mein Kleines Italianum wie nebenbei vergrößern. Da bewundere ich Scheppers Schwester, der das offensichtlich gelingen muss. „Ich verstehe auch nicht alles“, wiegelte sie jedoch ab, als ich sie letztens besuchte. Das wundert mich nicht wirklich, vielmehr bin ich erstaunt, dass die Dänen sich mit ihrer seltsamen Sprache überhaupt verstehen. Doch da widersprach sie mir: „Die Dänen verstehen sich nicht“, sagte sie zu meiner großen Verwunderung. „Deshalb sind sie auch das glücklichste Volk der Welt“, setzte sie nach. „Meine Theorie.“ Klingt einleuchtend.

Mein Kleines Italianum erwarb ich seinerzeit bei VW in Wolfsburg am Band, schließlich ist Bandarbeit nicht so Konzentrationsfordernd und Wolfsburg nach Eigenaussage die größte Italienerkolonie nördlich der Alpen. So ließ ich mir von meinen italienischen Kollegen Grundzüge ihrer Sprache beibringen. Die ist vergleichsweise einfach, im Vokabular und in der Aussprache, und so macht es mir einen Heidenspaß, sie auch in ihren Rudimenten nur anzuwenden. Dabei erfuhr ich übrigens von zwei Kollegen, von denen einer aus dem Norden und der andere aus dem Süden des Landes stammte, dass deren Dialekte so gravierend unterschiedlich waren, dass sie sich, um sich überhaupt zu verstehen, auf Deutsch unterhielten. So geht’s mir in Bayern. À propos Nord und Süd: Als wir kürzlich bedauerlicherweise wegen sehr harter Lärmschutzauflagen das nicht zu verwirklichende soziokulturelle Zentrum K67 ausräumten, besorgte ich das Mittagessen in einer nahegelegenen Pizzeria. Deren Inhaber freute sich über meine Italienischrudimente und erzählte freimütig aus seinem Land. Er schimpfte auf Berlusconi und wartete mit abenteuerlichen Theorien auf. Er selbst stamme aus Süditalien, und die Norditaliener seien auf die Süditaliener sauer, weil die denen die Frauen wegnähmen, was wiederum kein Wunder sei, schließlich seien 90 Prozent der norditalienischen Männer schwul: „Im Süden sind es nur 40 Prozent.“ Er zuckte mit den Schultern: „Questa la vita, das ist das Leben.“ Verwegen! Aber unterhaltsam. Und die Pizza war gut.

Gut ist auch das Essen im „Sultana“, dem neuen syrischen Restaurant in der früheren Krabbenkuppel, in der seinerzeit der vierte Silver Club stattfand. Kurz nach der Eröffnung war ich mit einer Freundin dort, zum Antesten, und der ausgesprochen freundliche arabische Inhaber zeigte uns großherzig den neu gestalteten Gewölbekeller. Außerdem bereitete er uns äußerst schmackhafte arabische Speisen zu, mit dem Hinweis, dass er Veganern auf der Speisekarte viel Raum gebe. Er erzählte uns so einiges aus dem arabischen Alltag, über Kaffeekultur und Gastfreundschaft. Die Freundin bestellte einen vegetarischen Teller, und er kommentierte: „Wenn es Ihnen nicht reicht, sagen Sie bitte Bescheid – auf Arabisch sagt man: Wir reparieren Ihnen dann den Teller.“ Bei meinem zweiten Besuch saß am Nachbartisch eine Familie vom Bodensee. „Vom Bodensee?“, hakte der arabische Restaurantchef erfreut nach. „Da ist mein Sohn geboren.“ Und fortan unterhielten sie sich allesamt in einer Mischung aus Schwäbisch und Badisch.

Komplett vegetarisch ist das neue „Herr Tegtmeyer“, das Nachtleben-Instanz Timo vor wenigen Wochen in der Kreuzstraße eröffnete, mit Restaurant und Partykeller, bestehend aus Kickerraum, geplanter Bühne, kleiner Tanzfläche und obskurerweise Kegelbahn. Zu meiner großen Ehre bat mich Timo, den Keller musikalisch mit meinen Konserven zu beschallen, und dabei offenbarte sich einmal mehr die Erbsenhaftigkeit nicht nur der Stadt, sondern der ganzen Welt. Nur sechs Tage zuvor traf ich nämlich auf dem Mittelaltermarkt eine Freundin, die vier Jahre zuvor nach Frankfurt zurückgezogen war und die ich seitdem nicht gesprochen hatte. Wir holten diverse Informationen nach, und so fragte sie mich irgendwann auch nach Dina, die sie einst in einem Frauenfitnessstudio kennen gelernt hatte und die später im originalen „Herr Tegtmeyer“ die Sandwiches zubereitet hatte. Die lebt jetzt in Neuseeland, wusste ich, nur einen Gruß würde ich ihr wohl nicht ausrichten können, da ich nur indirekten Kontakt zu ihr habe, über Anke nämlich, die mal Barfrau im „Herr Tegtmeyer“ war. Sechs Tage nur dauerte das vermeintliche Nichts. Ebenjene Anke stand nun bei der Neueröffnung des „Herr Tegtmeyer“ plötzlich vor mir und sagte: „Schau mal, wen ich mitgebracht habe.“ Keine Woche später richtete ich also Dina doch noch den Gruß aus. Ein fröhliches Wiedersehen. Der Absurditäten Krönchen: Ich traf Dina in genau dem Moment, als ich gerade „Invocation“ von Killing Joke auflegte, deren durchgeschossener Sänger Jaz Coleman mehrmals mit Neuseeländischen Orchestern zusammenarbeitete, womöglich auch bei dem Stück. Und als übernächsten Track hatte ich „Alive“ von der neuseeländischen Band Shihad vorbereitet. Definitiv, da liegt etwas Erbsenhaftes im Weltengeist.

„Die Stadt ist eine Erbse“ ist auch zunächst der Arbeitstitel für das Buch, das Toddn herausbringen will. Vermutlich wird es dabei bleiben, nichts ist schließlich so dauerhaft wie ein Provisorium. Am Sedan-Bazar will sich Toddn übrigens ebenfalls beteiligen, mit einer Aktion, die er als Kritik am Kunstmarkt verstanden wissen will: Er verkauft 40 „Schnitzelwerke“, wie er sie nennt, im Gesamtwert von einer Million Euro. „Nur an diesem Tage“, wie er betont, veräußert er jedes Werk für 25 Euro pro Stück, inklusive einem Zertifikat, das belegt, dass das Objekt im Moment der Übergabe sofort 25.000 Euro wert ist. Dafür müssen die Kunden nur ihrerseits wieder einen Käufer finden, dann schlagen sie Kapital aus dem Kunsterwerb. Toddn und ich vereinbaren noch die nächsten Schritte in Bezug auf unser Buch, dann verschwindet er, um sein Auto aus dem Strafzetteleinzugsgebiet zu entfernen.

Zurück an der Theke, lasse ich mir eine Kaffee-Kola kredenzen. Chris sortiert CDs für den Sedan-Bazar, mit einem besonderen Grund: „Es gibt unsere allseits beliebte Aktion ‚Fünf CDs für fünf Euro‘.“ Er verpackt dafür Neuheiten, Promos und andere Tonträger. „Die Aktion ist so beliebt, die haben wir zu einem Jubiläum mal gemacht“, staunt Chris selbst. Die Maßnahme hat viele Vorteile: „Wir wollen Platz schaffen und den Leuten etwas Gutes geben.“ Wichtig sei, dass dabei auch musikalische Perlen in die Pakete wandern, kein Ausschuss. Und erstmals gibt es die Aktion auch mit Vinyl: „Drei für zehn Euro aus dem aktuellen Ladenbestand.“ Einen Blick auf die Auswahl erhasche ich und kann bestätigen: Wer die Überraschungspakete erwirbt, findet darin einige Schätze. „Das hat so eingeschlagen“, freut sich Chris, und das wird es sicherlich wieder.

Eingeschlagen hat nicht nur bundesweit der Kinofilm „Victoria“ von Sebastian Schipper, sondern auch bei Chris und mir. „Das war kein Film über einen Bankraub – das war ein Bankraub“, sagt Chris energisch. In der Tat, der Film ist ein wahres Kunststück, wie man es heutzutage selten noch findet. Über zwei Stunden an einem Stück gedreht, und man vergisst genau diesen Umstand irgendwann, weil die Geschichte dahinter einfach stimmt. Ein Film, der nachhaltig im Bewusstsein bleibt.

Chris ist heute etwas in Eile bei seinen Aktivitäten, er will nämlich noch mit Marcus nach Berlin fahren. Nachher geben Faith No More ein exklusives kostenloses Clubkonzert für den TV-Sender Arte, für das man sich allerdings online registrieren muss, und Chris hat die Bestätigung für seine Registrierung erhalten. „Ich bin kein Faith-No-More-Fan“, stellt Chris klar, „aber von Mike Patton!“ Wir bestellten uns kürzlich beide die LP von dessen Parallelprojekt Tētēma. „Die steht noch ungehört bei mir“, gibt Chris zu. Bei mir nicht: Sie ist der akustische Gegenentwurf zum kommerziellen Comeback-Album „Sol Invictus“ von Faith No More, so viel ist mal sicher. Als Referenz an Chris‘ Ausflug nehme ich mir die „Sol Invictus“-LP gleich mal mit. Chris schreibt mir nachts, das Konzert sei „kurios und famos“ gewesen. Auf seinen Bericht bin ich gespannt. Gegensätzlicher könnte es kaum sein: Parallel schickt mir eine Freundin Fotos vom Roxette-Konzert in Köln, und sie ist nicht minder beeindruckt.

Den Rest des Tages verbringe ich ungeplant, aber wie immer gerne bei Serge und seinem Kreis bei tiefstphilosophischen und höchstaufschlussreichen Gesprächen. Wir sitzen so lange vor seinem Laden, dass selbst Uwe und Katrin von Raute Records längst Feierabend haben und wie üblich auf dem Weg zum Tante Puttchen bei Serge vorbeikommen. Uwe hat eine Tüte mit einer LP in der Hand, er nimmt offenbar etwas Arbeit mit nach Hause. Doch weit gefehlt: „Immer, wenn Lukas arbeitet, bringe ich ihm eine Platte aus der Ein-Euro-Kiste mit“, erklärt Uwe. „Er muss erst bezahlen und darf dann gucken.“ Serge und ich dürfen schon vorher einen Blick werfen: Es ist eine Greatest-Hits-Zusammenstellung von Dionne Warwick. „Gute Platte“, findet Serge. Wir setzen uns flugs zu Uwe und Katrin, denn die beiden haben wie immer Geschichten zu erzählen. Etwa von ihrem ersten Date, damals in Celle. Dabei fällt trotz aller sommerlicher Kälte endlich etwas Sonnenlicht durch den Handelsweg auf uns. Ein schöner Abschluss für diesen Tag. Hoffen wir, dass es am Samstag zum Sedan-Bazar endlich warm und trocken wird.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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