Donnerstag, 4. September 2025
Wenn der Juli durchregnet und man die Übergangsjacke unter den Wintermantel zieht, um nicht durchzuweichen und zu erfrieren, freut man sich, dass man in den zurückliegenden Jahren des klimagewandelten Sommers erfahren durfte, dass es im September nochmal Sommer wird. Ganz richtig ist das alles nicht, aber nun, bereiten wir uns eben darauf vor, im T-Shirt draußen zu sitzen. Auf dem Magnikirchplatz, der so vollgestellt ist mit … äh: Bierwagen, Absperrgittern, Buden, mobilen Toiletten, Bühnen … ? Ach ja: Dies ist der Vorabend zum Magnifest, das am Wochenende startet und das zuletzt bei einigen Anrainern für Unmut sorgte, weil diese in die Gestaltung dieses Altstadtfestes gar nicht eingebunden waren. Dieses Mal soll alles anders werden, mit gewechselten Veranstaltern und breiterer Einflussnahme. Muss ich nachher mal Chris fragen, wie es aussieht; der ist zurzeit noch im Büro beschäftigt, erzählen mir Dominik und Dennis, die mir an der Cafétür begegnen. Eine Verbesserung zum Vorjahr kann ich schon selbst ausmachen: War es den Gastronomen zuletzt untersagt, in der Magnifestwoche ihre eigenen Außenflächen überhaupt zu benutzen, ist die des Riptides immerhin zur Hälfte ausgebracht, und auch bei den anderen Bars und Cafés am Platz schimmert Mobiliar durch die Bierbuden hindurch. Das geht schon mal. Und wird genutzt, alle Tische sind voll besetzt.
Auch ich nehme draußen Platz. Und packe erstmal mein Buch aus, ich bin früher da als die anderen. Mein Buch, das ist zurzeit noch „Als Mutti unser Kanzler war“, ein Sammelsurium an Glossen von Dietmar Wischmeyer, die er vor drei Jahren über damals aktuelle Themen zusammentrug; einige veralteten schneller, als einem so bewusst ist. Den ffn-Frühstyxradio-Veteranen sah ich einige Male live, aber so richtig zu schätzen lernte ich ihn tatsächlich erst mit seinem 2023er Debütroman „Begrabt meinen rechten Fuß auf der linken Spur“. Nun also seine Kolumnen; da muss ich ihm nicht in allem Punkten beipflichten, um Freude an seinen Auslassungen zu haben, und Freude hab ich daran eine Menge. Im Vorbeigehen wirft Dominik einen Blick auf den Titel und bemerkt, dass er sich mit deutschsprachigem Humor zumeist schwertut und die massenhafte Bewunderung für Vertreter wie Nuhr oder Barth nicht nachvollziehen kann. Geht mir auch so. Schwarzer Humor britischer Art sei eher seins, sagt Dominik, und ich bestätige mit dem Verweis auf Monty Python. „Little Britain“ führt Dominik noch an; da hab ich nie reingeguckt, als Kaum-Fernsehender nahm ich mir die Zeit bisher schlichtweg nicht.
Dominik wendet sich anderen Tischen zu, Stefan setzt sich zu mir, enttäuscht davon, dass der Wochenmarkt dem Magnifesttreiben zum Opfer fiel, weil er sich hier ein Brot kaufen zu können hoffte. Auch er wirft einen Blick auf meinen Wischmeyer, ich zeige ihm das Foto von Putin und Schröder mit der Unterzeile „Zwei Enden einer Pipeline“ und gestehe, dass ich bei der Lektüre oft laut loslachen musste. „Lautlos lachen“, sagt Stefan verständnisvoll nickend. Als dritter setzt sich Uwe zu uns. Stefans Wunsch nach einer Fritz-Orange hatte Dominik bereits korrekt erraten, Uwes nach einem Cappuccino nun ebenfalls. Ich hätte gern ein weiteres Wolters und sage Dominik, er könne sich ruhig Zeit lassen. Der zuckt fragend mit den Schultern: „ … Okay!“ Uwe bestätigt meine empfohlene Entschleunigung: „Aber mach hin!“
Bevor ich ins Riptide kam, verschwand ich hinter der Magnikirche, denn dort befindet sich das Kinder- und Jugendzentrum Magni, Hinter der Magnikirche 6b, in einem Fachwerkhaus mit Stockrosen und riesigen Sonnenblumen an der Mauer. Drinnen war ordentlich was los, Mitarbeitende und Minderjährige verbrachten ihre Zeit miteinander an Tischen. Zum Gespräch lotste mich Joe nach draußen, eine Kollegin brachte mir einen selbstgebackenen Brownie an den Tisch im Hinterhof, unter dem Ahorn, an dem eine Schaukel baumelt, sonnendurchflutet wie das Paradies. Zuletzt sah ich diesen Hof, als ich den Kinderschutzbund im Nachbarhaus besucht hatte. Eine Verbindung zum Riptide hatte Joe direkt parat: „Wir bestellen da immer mal Pommes.“ Außerdem verbringe sein Chef Dieter viel Zeit im Café, was ich bestätigen konnte, den hatte ich dort nämlich selbst bereits getroffen.
Auch Joe naschte von einem Brownie, während er mir von der Einrichtung vorschwärmte, vom Zusammenleben mit der Magni-Kirchengemeinde als Trägerin der Einrichtung und dem Kinderschutzbund als Hinterhofteilhaber. „Wir nutzen den Platz vorne für Sportgeschichten“, setzte er fort, also den zwischen Kirche und Juze, „für Fußball, Basketball, Volleyball“. Zudem nutze das Juze die Kirche für Ferienangebote wie Kletteraktionen. Moment: in der Kirche? „Ja, es gibt da große Säulen, dazwischen werden Slacklines aufgespannt, dazu Führungsseile“, erklärte Joe. Zudem würden an einer Wand Kletterelemente und Sicherung befestigt: „Da kann man acht, neun, zehn Meter hochklettern und wird wieder abgeseilt.“
Diese Magnikirche hat immer Überraschungen parat. Mir gefällt ja schon, dass Robert da jederzeit Dudelsack üben darf. Joe nickte, führte einen seit jüngerer Zeit erst zu hörenden Orgelspieler an und verwies auf seine eigene Band Arjomi, mit der er dort nächste Woche ein Gong-Konzert ausrichtet, „mit Hutkasse und zehn Prozent für die Kirche“. Am Donnerstag, 11. September, ab 20 Uhr findet das statt. Joe strahlt: „Ich fühle mich hier megawohl.“ Seit fünf Jahren ist er hier angestellt, „das ist eine richtig coole Gemeinde“, betonte er. „Der Pfarrer macht einen guten Job, er ist engagiert“, fuhr er fort, und zählte so unterschiedliche Betätigungsfelder wie die Flüchtlings-Seenotrettung und den Apfeltag auf. Der findet am Sonntag, 28. September, statt – Eltern und Kinder bringen von Streuobstwiesen gesammeltes Obst mit, ein Nachbar von Joe kommt mir einer Saftpresse, Kartoffelpuffer werden gebacken, „man kann selber Äpfel herbringen und bestimmen lassen“, denn ein „Fachkundler“ sei zugegen. Und wenn das wiederkehrende Programm Vesperkirche stattfindet, sei das Juze mit den Kindern auch immer dabei, so Joe.
„Aus der Umgebung bis zum Hagenmarkt kommen Kinder und Jugendliche her und haben Spaß“, erklärte Joe. Mit dem Beginn eines neuen Erst-Schuljahres starten im Juze auch die neuen Gruppen, also jetzt gerade erst war es wieder losgegangen. „Unser Ältester ist gerade 17 geworden“, fuhr er fort. Aber auch Nachbarn spreche seine Einrichtung an: Freitags ab 14 Uhr gebe es den offenen Mittagstisch, „da kann jeder kommen und sich umsonst dazusetzen, gesellig sein, was essen, netzwerken“.
Für das Juze habe Joe, selbst zurzeit im Berufsanerkennungsjahr, eine Menge Ideen, sagte er. „Partizipation ist ein großes Stichwort“, führte er an. „Was brauchen sie, welche Regeln wollen sie umgesetzt haben“, so in der Art. Also zusätzlich zu dem Angebot, das es bereits gibt, und das ist üppig. Die Jugendlichen können im Juze „auf Sofas chillen, klettern, kickern“, listete Joe auf, „es gibt einen Bastel- und Werkraum, da können sie eine Kleinigkeit für einen Geburtstag basteln, im Winter schmeißen wir das Lagerfeuer an, es gibt Stockbrot“, er deutete auf einen Feuerplatz seitlich meines Sitzplatzes. „Spiel, Spaß und chillen“, fasste Joe zusammen, „kurz reinkommen, hallo sagen, zum Kiosk gehen.“ Ein Braunschweiger Alleinstellungsmerkmal des Magni-Juzes sei zudem, dass es montags bis einschließlich samstags geöffnet sei.
Ab nächster Woche beginne das „Weltreiseprogramm“, setzte Joe fort. „Wir ziehen ein Land, es wird gekocht, es gibt Geschichten, es wird gebastelt, und wir zeigen einen Film dazu aus dem Land, wenn es einen gibt.“ Mit Ecuador beginne die Aktion, Joe kocht, eine Kollegin schreibt stellvertretend den Brief einer Jugendlichen aus Ecuador, in dem sie sich und das Land vorstellt. Die Weltkarte zur Aktion hängt im Innenraum des Juzes, Joe warf im Gespräch immer wieder durch die offene Tür Blicke darauf.
Ach ja, ein „Mini-Gartenprojekt“ gebe es auch noch, „hier wachsen unsere Tomaten noch“, so Joe. Das Hochbeet leide dieses Jahr unter einer Schneckenplage, „chinesische Nacktschnecken, die braunen, da gibt’s keine natürlichen Feinde hier“, erklärte er. Und die Fahrradreperaturwerkstatt gibt es ja auch noch, „die mache ich mit“, sagte Joe und lehnte sich auf die Bank zurück, unter der eine schwarze Katze herumhuschte und an deren Seite „Kein Platz für Rassismus“ stand, mit dem Hinweis darauf, dass die Freiwilligenagentur dahinter steckte. Joe nickte: „Das Jugendzentrum ist für alle, die akzeptieren, dass das Jugendzentrum für alle ist.“ Er deutete auf die aufgrund ausbleibenden Windes schlaffe bunte Fahne hinter sich: „Diversität ist auch auf unserem Programm.“
Wir kehrten zurück zu Arjomi, der Band, über die ich Joe bereits kenne, also über seinen Mitmusiker Jogi. Mit dem macht Joe seit 2006 Musik, seinerzeit in der Irish-Folk-Band Culture Pub, mit Antimo und Henk, den wir beide seit Ewigkeiten nicht mehr in der Stadt singen hörten, wie uns auffiel. Ein Gong-Konzert richten Arjomi zum bereits dritten Mal in der Magnikirche aus, das letzte Mal im November, „da haben wir in die Dunkelheit reingespielt und mit Licht gearbeitet“. Das will die Band intensivieren, indem sich nächste Woche Andreas Lichtblau das Konzert ansieht und daraus ein Konzept für Diaprojektionen erarbeitet, mit denen er Arjomi fürderhin ergänzen will. Autodidakt Joe spielt bei dem Konzert Flöten, Gongs und Klangschalen: „Das wird spannend, ich freue mich riesig.“ Live gesehen habe ich Arjomi unter anderem beim Silver Club und auf einem Okerfloß; letztere Aktion müsse die Band indes künftig neu ausarbeiten, bemerkte Joe.
Genug theoretisch geplaudert, Joe führte mich nun durchs Gebäude, zunächst in den bunten Bastelraum mit der Werkbank im Erdgeschoss, deutete auf das „Konzept Malort“, initiiert von Franziska vom Yoga-Studio Mandala, das sie dienstags hier ausrichtet und ansonsten in Riddagshausen, und führte mich danach die Treppe hinauf ins Obergeschoss, während er von der Wii erzählte, einer recht in die Jahre gekommenen Spielkonsole, wie ich feststellte. „Wir sind im Begriff, auf eine Playstation zu sparen“, bestätigte Joe und bemerkte, dass das Juze da für Spenden sehr dankbar sei. Im oberen Raum deutete Joe auf die ebenfalls über Spenden angeschaffte Kletterwand im Aktivraum. Auch Kicker und Sofaecke fanden sich hier, zudem ein Billardtisch, der laut Joe so alt war wie die Einrichtung, also „mindestens 30 Jahre“. Der Blick aus dem Fenster auf den Platz vor der Kirche, auf dem die Sportspiele stattfinden, beeindruckte mich. Für Joe hieß es nun, mit seiner Hauptbeschäftigung fortzufahren, obgleich wir uns kaum voneinander lösen konnten. Trotzdem verabschiedeten wir uns und waren uns sicher, dass wir unsere Gespräche demnächst fortsetzen würden.
Während nun Uwe, Stefan und ich unsere Getränke einnehmen, setzt sich Chris zu uns, um vom nahenden Magnifest und des Riptides Beitrag zu berichten. „Wir haben einen Bierwagen vor der Tür“, deutet Chris auf eines der Thekengefährte neben uns. Und fährt fort: „Neu ist, dass wir Freitag und Samstag ab 19 Uhr drinnen öffnen – die Rip-Lounge, eine Reminiszenz an früher.“ Dann gebe es „gute Drinks, gute Leute, gute Musik drinnen“, die Chris selbst bereits als Playlist vorbereitete. Fünf Euro Eintritt seien für den Zugang zu entrichten, um „auf zwei Etagen feiern“ zu können, mit „Punk, Northern Soul, Indierock, Mod“, so Chris. Am Sonntag öffnet das Riptide als Lounge bereits um 12 Uhr und ohne Eintritt, weil dann erfahrungsgemäß Familien mit Kindern im Magniviertel unterwegs seien. Seine allgemeine Ansicht zum neuen Magnifest drückt Chris so aus: „Veränderungen wurden versprochen, ich bin gespannt, wie es wird.“ Mit Blick auf die weitläufige Nachbarschaft im Magniviertel fügt er an: „Ich will einfach nur, dass wir in friedlicher Coexistenz etwas zusammen auf die Beine stellen.“ Er schließt: „Ich bin gespannt, was diese Neuerungen für uns bringen.“
Während wir uns unterhalten, tritt Josie für Bestellungen an unseren Tisch. Uwe hätte gern „eine Schale Pommes mit allem“. Josie hakt nach: „Mit allem?“ Chris lacht: „Sag lieber Rot-Weiß!“ Uwe hängt abwinkend ein „mit scharf“ an, was nach „mit Schaf“ klingt, also für ein vegetarisches Etablissement eher unangemessen. Als Josie die Schale mit Pommes und zwei kleineren Schälchen mit Mayo und Ketchup bringt, schließt sich Stefan der Bestellung an: „Noch eine für mich.“ Josie fragt: „Rot-Weiß?“, und Trainspotter Stefan nickt: „Pommes Bahnschranke.“ Bekommt er, aber erst, nachdem sich Chris von uns in seinen Feierabend verabschiedete.
Dackel Rudi schnürt über den Platz. Das macht er oft. Seine Besitzerin wohnt in der Nähe, und immer, wenn sie die gastronomischen Einrichtungen kreuzt, hat sie Rudi dabei, der sich überall bemerkbar macht. „Gleich wird’s laut“, ahnt Dominik und behält Recht: Rudi kläfft und läuft kläffend hinter Dominik hinterher, der im Café verschwindet und ruhestiftende Maßnahmen – also ein Leckerli – mitbringt. Das wirkt insofern, als dass Rudi von Dominik ablässt, sich aber neue Zuwendungen sucht. Die Besitzerin klemmt ihn nun an die Leine: „Rudi ist online“, stellt Uwe fest.
Stefan hat sich bereits auf den Heimweg gemacht, Uwe und ich trinken noch aus und verabschieden uns dann ebenfalls. Sobald ich den Wischmeyer durchhabe, kommt das neue Buch von Hardy Crueger an die Reihe: Er drückte mir vorgestern den frisch eingetroffenen Thriller „Der Bootsmann“ in die Hand, die Fortsetzung von „Der Flussmann“. Da sickert sicher wieder Blut in die Oker!
Matthias Bosenick
