Donnerstag, 23. Oktober 2025
Über diesen Tagen liegt ein drückender schwerer Schatten. Ein Freund wurde aus dem Leben entfernt, einfach so, von jetzt auf eben, mit nur minimaler Vorankündigung. Für die, die bleiben, bleibt die Aufgabe, mit dem „nie wieder“ und dem „hätte ich doch“ weiterleben zu müssen. Aus der anfänglichen Beziehung zwischen Autor und Berichterstatter – seinerzeit ausgelöst durch die Aufführung seiner 13. Okergeschichte „Der Untergang“ mit Roland Kremer und Schepper, der mich überhaupt erst zu dieser nachhaltig eindrucksvollen Lesung im alten Das Kult motiviert hatte – wurde bei Hardy und mir bald eine Freundschaft, die sich zusehends intensivierte und vertiefte. Gemeinsame Erlebnisse hatten wir zu viele, um sie mal eben aufzulisten, ebenso hatten wir noch Pläne, die wir Verbliebenen jetzt in seinem Gedenken auszuführen gedenken. Ich werde seine Bücher mitnehmen, wenn unser gemeinsamer Freund Olli und ich nach Wolfenbüttel spazieren und auf den Brocken steigen. Bei unserem letzten Treffen drückte mir Hardy nicht nur sein gerade erst drei Tage altes neues Buch „Der Bootsmann“ in die Hand, sondern auch einen Stapel seiner allerersten Bücher aus den frühen Neunzigern, teilweise noch selbstkopiert und getackert; etwas davon oder von den anderen Büchern aus meiner Sammlung wird ins Gepäck wandern und mitwandern.
Zur Corona-Zeit hatte Deniz vom Treuen Husaren im Winter-Lockdown eine Glühwein-Ausgabe eingerichtet. Einen Abend versorgten uns Hardy und ich mit Deniz‘ Heißgetränken, verzogen uns irgendwo in den dunklen Park, stets auf Abstand, und holten uns nach Eintreten der Neige Nachschub. Ein andermal packten wir uns jeder einen Rucksack voll Bier, trafen uns am Bürgerpark, an der Bootsstation, von der aus er immer seine Oker-Krimi-Lesungen startete, setzten uns abermals mit Abstand auf eine Bank und versuchten, den Nieselregen zu ignorieren. Wir tauschten uns über unsere kulturelle Arbeit aus, arbeiteten miteinander und rückten einander näher. So auch im Riptide, in dem wir uns gelegentlich trafen, und es gehörte zu Hardys Gepflogenheiten, zum Abschluss eines solchen Aufenthaltes einen Kurzen zu sich zu nehmen. Zu Anfang war dies stets ein Jägermeister, bis uns unsere Riptide-Freunde den Turmgeist empfahlen und wir auf den umstiegen. Der besteht aus Wodka und Mangosaft und erinnert uns an ein Eis am Stiel aus den Achtzigern; Olli kennt das Rezept und braut den gelegentlich selbst nach. In der Woche nach Hardys Tod nahmen wir diese Gepflogenheit in mittelgroßer Runde auf. Auch Dennis, Dominik und Chris vom Riptide waren erschüttert, wir mussten uns darüber einfach austauschen, und das tut gut, sich in solchen Momenten gegenseitig Halt zu geben. Chris erzählte etwa, dass er sich gerade wenige Zeit zuvor noch mit Hardy darüber unterhalten hatte, wie sie als Mitglieder der Namenskommission fürs Nexus Listen erstellten mit Vorschlägen wie Krachpalast oder Zappelbude, und sich fragten, ob diese Liste noch irgendwo existierte.
Für mich war es eine schwere Woche, nach Hardys Tod. Wir hatten am Wochenende darauf unsere Zehn-Jahres-Feier mit Rille Elf im Kufa-Haus, und da hatte ich große Schwierigkeiten, mich überhaupt auf die Partystimmung einzulassen. Diese Schwere wird mich auch noch eine ganze Weile begleiten; es gibt ja kaum einen Zentimeter Oker, an dem er nicht irgendeine kriminelle Geschichte erzählte, und das nicht nur in Braunschweig, sondern entlang der gesamten 128 Kilometer, vom Stausee im Harz bis nach Müden in der Heide. Ein Spaziergang im Bürgerpark etwa führt an lauter Schauplätzen vorbei, an der Hoheworthbrücke las Hardy bei der vorletzten Kulturnacht aus „Der Flussmann“, in dem jene Okerquerung eine wesentliche Rolle spielt. Man sollte die Oker umbenennen in Hardy-Crueger-Fluss.
So ist es jetzt auch nicht einfach, einen Übergang zu finden. Mit „immer schön weiterleben“ zitierte Stefan von der Buchhandlung Benno Goeritz einen Stammkunden, als ich ihm die Nachricht über Hardy überbringen wollte und doch auf einen bereits Informierten traf. In der Buchhandlung hatte Hardy eigentlich immer seine Premierenlesungen, „Der Bootsmann“ hätte dort nachgereicht ebenfalls folgen sollen. Und schon bin ich doch wieder am Ausgangspunkt.
Mit dem thematisch passenden Wetter kehre ich heute ins Riptide ein: Es stürmt, der wildgewordene Wind reißt wütend Blätter von den Bäumen, vereinzelte Tropfen reihen sich ein. Trotzdem finden sich selbst heute Leute, die draußen auf dem Magnikirchplatz sitzen, vor einer der vielen Gastronomieeinrichtungen, die diese Freifläche säumen, teils in Decken gehüllt. Respekt! Mit dem MokkaBär-Stammtisch treffen wir uns drinnen, das ist sicher. Unser üblicher Platz unten ist besetzt, und während ich noch überlege, wie ich vorgehen soll, spricht mich einer der Besetzenden an: André, mit dem ich vor 35, 40 Jahren in Hankensbüttel zur Schule ging, nur kurz, weil er auf Stippvisite in der Südheide war und temporär im selben Dorf wohnte wie ich, bis er mit seinen Eltern nach Braunschweig zurückzog. „Wie lang wohnst du jetzt in Braunschweig?“, fragt er. 26 Jahre. „Und wir sind uns hier noch nie zufällig begegnet.“ In der Tat, wenn überhaupt, dann bei Abi-Treffen oder gemeinsamen Freunden in der Heide.
Im Riptide sitzt André mit Frank, seinem ehemaligen Vorgesetzten – Frank war Leiter der Schule, an der André nach dem Studium eingesetzt wurde. André als junger Wilder traf genau den Stil von Frank, der ihn und einige weitere unkonventionelle Kollegen gewähren ließ. Was dazu führte, dass sich daraus eine Freundschaft entwickelte, die auch dann noch Bestand hat, obwohl beide längst an unterschiedlichen Schulen unterrichten. Üblicherweise trafen sie sich bisher abends, erzählen sie, stellten dann aber fest, dass der nächste Morgen dann etwas anstrengend werden konnte, und entschieden sich heute erstmals dazu, es mal nachmittags in einem Café zu versuchen. So landeten sie – Premiere – im Riptide. Auf dem Weg durchs Viertel steuerten sie direkt drauf zu: „Die Tür stand offen“, sagt Frank schulterzuckend.
Was André und Frank neben progressiver Lehrmethoden noch eint, ist Musik. Frank erinnert an ein Fortbildungs-Wochenende in Weinheim, in dem zufällig ein Honky-Tonk-Festival stattfand und in dessen Zuge sie eine Teenagerin bestaunten, die auf ihrer viel zu groß wirkenden E-Gitarre zauberte, begleitet von einer Band. In Bands spielte André selbst in den Neunzigern, solchen wie Headjunk, Alienation oder Trial E.M.; immerhin von letzteren hab ich das Album. Headjunk, erzählt André, war seinerzeit eines der ersten Signings der frischen Knesebecker Konzertagentur Undercover, gegründet von den damaligen Mitschülern Micha und Dirk, die zudem in der Band Royal M Parade spielten. Und das Unternehmen nach kurzer Zeit nach Braunschweig verlegten. Über Kontakte aus dem Tonstudio von Headjunk gelangte die Band regelmäßig ins Subway, und André lacht: „Wir waren ‘ne Punk-Band!“ Eine Musikrichtung, die dem zehn Jahre älteren Frank verschlossen blieb, als sie aufkam: „Wir hatten gerade Status Quo und The Sweet überlebt, da kam funkiger Jazz-Rock.“ Das Zerstörerische am Punk habe ihm gar nicht zugesagt. André empfiehlt ihm eine Arte-Doku über die Ursprünge des Punk, die ihm möglicherweise neue Erkenntnisse liefern könnte.
Wir könnten noch ewig weiterquatschen, doch meine Stammtischbelegung ist inzwischen nahezu vollzählig eingetroffen, also verabschieden wir uns, ich begebe mich an unseren Ausweichplatz im gemütlichen Obergeschoss. Chris begab sich in den Feierabend, Josie und Dennis übernehmen die Thekendienste. Wir haben den Tisch hinten links, gegenüber vom Sofa, vor den Butzenfenstern. Uwe, Ulle, Ute und Stefan sind schon da, heute hat sich Micha zusätzlich angekündigt, und nach ihm treffen Henning und Stoni ein. Für Micha hab ich das neue Filmfest-Journal dabei, quasi druckfrisch, Andrea brachte es mir mit. Wir haben auch schon einen Film herausgefiltert, den wir beide sehen wollen: „Therapie für Wikinger“ von Thomas Anders Jensen.
Josie bringt und Getränke und Speisen, die Runde labt und labert. Etwa über Veganismus und Vegetarismus: „Ich bin Sekundärvegetarier“, sagt Stefan. Er isst nur Tiere, die Pflanzen fressen. Tertiärvegetarier möchte er nicht sein, dann müsste er ja Löwen essen. Micha meint, dass die ihm sicherlich zuvorkommen würden, und verweist auf Siegfried & Roy, die da einige Erfahrungen haben. Zwar waren das bei den beiden Tiger, ungestreifte zumal, und die Vorstellung, diese Raubkatzen extra mit Domestos zu bleichen, um diesen Effekt hinzubekommen, gefällt Micha nicht. Möglicherweise waren das aber auch die bekannten Grönlandtiger, wende ich ein. „Mit denen muss Trump sich rumplagen“, sagt Stefan, und erinnert daran, dass Tiger als Katzenartige mit ihrem Essen gern spielen. „Trump auch“, glaubt Micha. „Kommt darauf an, was“, wendet Stefan ein, und Micha sagt: „Halma.“
Micha und ich kennen uns jetzt seit 18 Jahren – genauer: Am 16. September wurden es 18 Jahre, als wir uns bei der Eröffnung des Riptide an der Theke begegneten. Dieses Jahr wurde das Riptide also volljährig und feierte dies, doch konnte ich an den Festivitäten bedauerlicherweise reisebedingt nicht teilnehmen. Wie ich auch zu den Riptide-Sonderaktionen beim Magnifest nicht kommen konnte, und das nicht etwa, weil ich stattdessen bei der Müller-Verschwörung in Harrys Bierhaus oder bei Fly Cat Fly im Kufa-Haus war, nein, das hab ich auch beides verpasst. Abermals war eine Reise der Grund: Stattdessen war ich nämlich in Kopenhagen und hatte dort so einige musikalische Erlebnisse.
Los ging es bereits in Puttgarden in der Warteschlange vor der Fähre. Zwei Vehikel vor mir hielt ein weißer Van ohne Fenster, dafür mit italienischem Kennzeichen an. Aus stiegen sechs Männer, fünf langhaarig, alle in Schwarz gekleidet, Metal-Shirts an. Ganz klar: Eine Band spielte an dem Abend in Kopenhagen. Musste ich natürlich anquatschen, und es stellte sich heraus, dass ich richtig lag, das Pumpehuset war das Ziel. Da hatte ich mal Gojira gesehen, und die Venezianer nickten auch ehrfürchtig vor dem riesigen Venue, das sie bespielen sollten. Auf meine Frage nach dem Namen ihrer Band deutete einer stolz auf sein T-Shirt, und zum Glück war allen in dem Moment vollkommen klar, wie absurd diese Geste war, denn natürlich konnte ich den typischen Krickelkrackel-Schriftzug nicht lesen, und wir lachten laut los. Miscreance, Oldschool-Death-Metal, erzählten sie noch, dann mussten wir uns sputen, um noch auf die Fähre zu kommen.
Dort parkten wir zwar direkt hintereinander, verloren uns aber auf dem Weg an Deck aus den Augen. Naja, guckte ich halt mal bei Instagram, Facebook und Bandcamp nach den Jungs. Die hatten mit „Convergence“ bisher erst eine Platte veröffentlicht, und ich nahm mal so ganz aus der Hüfte heraus an, dass sie davon einige Exemplare dabeihaben würden. An Deck traf ich sie wieder und bekam meine Annahme bestätigt. Kurzerhand zahlte ich den Betrag via Paypal und wir vereinbarten, unter Deck die Warenübergabe zu arrangieren. Was auch geschah. Dabei erzählten Miscreance mir, dass sie nur zehn Tage zuvor das zweite Album aufgenommen hatten, das im Januar, Februar erscheinen soll, und wir verabredeten uns zur Veröffentlichung hier an der Fähre für die nächste Übergabe. Wir quatschten noch herzlich, bis die Fähre anlegte und sich unsere Wege wahrhaftig trennen mussten.
Oldschool-Death-Metal, soso. Noch ungehört dachte ich, dass das womöglich eine Empfehlung für Steffen sein könnte, der ja in Wolfsburg nicht nur selbst in Death-Metal-Bands spielt – Cryptic Brood und Repulsive Feast beispielsweise –, sondern auch ein Label hat und Konzerte veranstaltet, dann als Lycantropic Chants. Da müssten Miscreance doch in sein Portfolio passen. Den Hinweis an ihn nahm ich mir für nach der Reise vor. Am nächsten Tag dann scrollte ich zum Frühstück durch Instagram und erblickte auf einem Foto meine Jungs von der Fähre auf der Fähre. Mit dem Zusatz: „Danke an Steffen für den schönen Abend gestern in Wolfsburg.“ Ah. Hatte sich meine Empfehlung also erledigt. Und die Wahrscheinlichkeitsrechnung bekam einen Schluckauf. Im Chat auf das Konzert angesprochen, erzählten Miscreance, dass sie über einen so kleinen Laden wie den Sauna-Club staunten – definitiv ein Gegenstück zum Pumpehuset.
Zurück zum Vorabend, an dem ich nach dem Einchecken am Enghave Plads in Vesterbro erstmal durch Nørrebro schlenderte. Der Abend war bereits fortgeschritten, und doch hörte ich von irgendwoher Livemusik herüberwehen. Also schlug ich den Weg in die Stengade ein, vorbei am Ungdomshuset, in dem Steffen mit Cryptic Brood erst im vergangenen Jahr spielte, und erreichte den Folkets Park, auf dem gerade eine Gruppe junger Leute elektronisch grundierte Partymusik im Offbeat und mit Live-Gesang darbot. In dieser Ecke gibt’s eine afrikanische Community, dort gehe ich gern eritreisch-äthiopisch essen, und so wunderte ich mich nicht, dass den Leuten auf der Bühne die Zugehörigkeit zu dieser Community anzusehen war. Vor der Bühne zappelte die buntestmögliche Mischung an Jugendlichen zur Mucke ab. Drumherum gab es Stände mit afrikanischen Speisen, bei denen ich mich eindeckte, mir ein Bier holte und dann mitwippend den Leuten beim Feiern zuguckte. Die Google-Musikerkennung ergab einen Treffer, den ich als Tab im Browser geöffnet ließ und mir vornahm, mich später mal damit zu befassen. Nachdem die Party um 22 Uhr der Nachbarn wegen ins Folkets Hus verlagert wurde – da ist Kopenhagen also genau so eingeschränkt wie Braunschweig –, suchte ich wenige Meter weiter Blågårds Apotek auf, die als Kneipe eingerichtete ehemalige Apotheke, in der einmal mehr spontaner Live-Jazz stattfand. Allerdings so begehrt, dass drinnen kein Platz für mich und mein Bier war. Draußen indes hörte ich von der Musik nur dann etwas, wenn jemand die Tür kurz öffnete. Egal, irgendwann dünnte es sich aus und ich kam noch gerade rechtzeitig wieder ins Innere, um zu erleben, wie die zuvor noch frei jazzende Band plötzlich dazu übergegangen war, in der Rockszene zu wildern und etwa Led Zeppelin abzufeuern. Und wie geil das war.
Da ich mir dieses Mal Tagestickets für die Öffis besorgt hatte und herausfand, dass die nicht nur die Metro abdeckten, sondern auch die Busse, die Wasserbusse und die S-Züge, kam ich wesentlich weiter in der Stadt herum als sonst schon immer. Nur deshalb nahm ich auch den Weg auf mich, um – neben dem sehr entlegenen Street-Food-Areal Reffen auf der früheren Werft- und Marine-Halbinsel Refshaleøen – im zerklüfteten Gewerbegebiet Nordhavn endlich mal Nordsø Records zu erkunden. Ein Troll von Thomas Dambo sollte dort auch sein, aber den fand ich nicht. Dafür den Plattenladen. Der eigentlich eine Vinyl-Manufaktur mit Verkauf ist.
Also echt: Irgendwo im botanischen Nirgendwo, durch das lediglich gelegentlich irgendwelche LKWs brettern und den einsamen Fußgänger zustauben, steht gerade mal eine kleine unscheinbare Butze. Im Fenster fand ich Vinylgranulatproben in diversen Farben in Gläsern abgefüllt sowie entsprechende Schallplatten ausgestellt, also wusste ich, dass ich richtig war. Drinnen verwies mich jemand, der gerade orangene Schallplatten einer Presse entnahm, während sein Kollege andere Platten in die Schutzhüllen schob, in den Nachbarraum, in dem der Chef am Schreibtisch saß und in dem einige Produkte aus hauseigener Manufaktur zum Verkauf ausgestellt waren. Dort entdeckte ich eine 10“ von Steen Jørgensen und Marina Botes, „Dråberne Part 1 & 2“, die wollte ich haben; er ist der Sänger von Sort Sol, sie kannte ich nicht. Nordsø-Chef Henrik händigte mir eine Kopie aus dem Lager aus und erwähnte, dass diese Exemplare außerhalb der offiziellen Handnummerierung geführt wurden, da es sich um eine Sonder-Auflage seines Betriebes handelte; deshalb stand da keine Zahl bei der Auflage, sondern NR.
Dann fragte ich, ob ich mit der Vinyl-Maschine als Kulisse Fotos von dem Flyer zu unserer Party zum zehnten Geburtstag von Rille Elf machen durfte. Durfte ich, indes so, dass man das Etikett der Platte im Presswerk nicht erkennen konnte, da die entsprechende Band diese Veröffentlichung selbst noch gar nicht publiziert hatte. Kein Ding. Und während ich also Fotos machte, stellte ich dem Manufakteur so diese und jene Frage. Die er mir samt und sonders beantwortete, und noch einige, die ich gar nicht zu stellen gewusst hätte. Keine Ahnung, wie lang – bestimmt über eine Stunde hielt er mir detaillierte Vorträge von der Aufnahme bis zum Verkauf, von den Master-Matrizen bis zum Material, von Auflagenhöhen bis zur Stapelweise. Irre. Er interessierte sich auch für den Flyer und bot uns an, mit Rille Elf auch mal im Laden aufzulegen – DJ-Pult und Bühne waren vorhanden, gelegentlich präsentieren Bands dort live ihre dort gepressten Veröffentlichungen oder er selbst legt zum Tanz auf. Er war davon ausgegangen, dass wir ein lokales DJ-Team seien. Als er Feierabend hatte und vom Kollegen abgelöst wurde, bot er mir sogar noch an, mich mit dem Auto zur nächsten Metro-Station zu bringen; ja, der Laden ist extrem entlegen, alle halbe Stunde mal ein Bus, da wunderte ich mich schon, warum man ihn ausgerechnet in dieser Einöde errichtet hatte. In seinem Auto lief zeitgenössische psychedelische Rockmusik aus Deutschland, sein Lieblingsgenre. Wir verabschiedeten uns herzlich und gönnten uns den Luxus, keine Kontaktdaten auszutauschen, geschweige denn, uns überhaupt unsere Namen genannt zu haben.
Solche wunderbar herzlichen zufälligen Begegnungen hatte ich noch einige, mit Michael am Nørrebro Runddel oder mit Lampendesigner Andreas und Antiquitätenhändler in spe Carsten in der Jazzkneipe Kind Of Blue etwa. Aber auch geplante Treffen, wie mit Leif in Malmö, ehedem bei der Postpunk-Band Unter den Linden, heute mit seiner Frau Birgitta als Perma-F aktiv, unter anderem als Remixer für Blinky Blinky Computerband, daher kenne ich ihn. Er präsentierte mir in der Lilla Kafferosteriet einige Demos von neuen Songs, die er mit einem befreundeten Musiker aus Stockholm erstellt hatte. Oder später mit Märry und Henrik in Roskilde, bei denen ich mich seit jeher zu Hause fühle. Henrik präsentierte mir in der Vinloungen hinter dem Haus seine neue Soundanlage, und weil ich ihm erzählte, dass mir seine Musik-Empfehlung Balstyrko tatsächlich gefiel, suchte er eine dazu passende Dancehall-Playlist für die Präsentation aus. „Kennst du Pharfar?“, fragte er, und machte Pharfar an. Kannte ich nicht, speicherte aber einen Tab für später, ebenso wie einen zu seiner nächsten Empfehlung Kaka, dem tansanischen Dancehall-Sänger aus Dänemark, der auch mal mit Pharfar Songs aufgenommen hatte und den zu kennen ich ebenfalls verneinte. Zu Hause dann, als ich die Tabs am Desktop-PC öffnete, stellte ich fest: Jener Kaka war es, den ich am Samstag im Folkets Park beim „Bonanza Festival“ der Afrobeat Vibration live erlebt hatte, zusammen mit Azhar und Lulu Safia. Ich möchte also meine Aussage korrigieren, Henrik!
So hatte ich also das Magnifest verpasst, und zwei Wochen später auch den 18. Geburtstag des Café Riptide. Da war ich nämlich mit Guido in Tübingen, zur zweiten Wiederaufnahme unserer jährlichen „Tour irgendwohin in Deutschland, wo wir beide noch nie waren“, die wir vor 30 Jahren initiiert und nach 16, 17 Ausgaben der Lebensumstände wegen pausiert hatten. Wir hatten ein Zimmer in einem Hotel im zu Fuß 30 Minuten von der Altstadt entfernt gelegenen Stadtteil Lustnau, das noch den Charme der Siebziger ausstrahlte, mich echten Schlüsseln statt Pincodes und mit dunkelgrünen Nassraumfliesen. Wir hatten indes nur die erste Nacht vorgebucht und mussten am nächsten Morgen erfahren, dass Tübingen wegen zweier Veranstaltungen – ein Lauf und der Umbrisch-provenzalische Markt – komplett ausgebucht war. Daher musste die Wirtin uns zu ihrem eigenen Bedauern beim Frühstück eine Anschlussbuchung absagen. Ich scherzte, dass wir dann einfach zwei Nächte im Auto verbringen würden, und sie, ungefähr gleich alt, entgegnete ungerührt, dass sie und ihr Mann das bei Festivals auch gelegentlich machten. Das ließ ich erstmal so stehen und machte mich auf ins Zimmer, um das Auschecken anzugehen. Unten am Empfang traf ich Guido, der bei der Wirtin zahlen wollte, als ihr Mann von hinten aus den geheimen Räumen des Hotels an uns vorbeiströmte – bekleidet mit einem Rock-Harz-T-Shirt aus dem Jahr 2024. Wir staunten und bemerkten, dass wir ja aus der Gegend kämen, Guido als Clausthal-Zellerfelder ja noch mehr als ich. Die Wirtin nickte, „diese Art von Festival meinte ich vorhin“, und empfahl uns eine Heavy-Metal-Kneipe in der Altstadt. So geht Zuhause.
Aufgrund fehlender Unterkunftsmöglichkeiten in Tübingen also wählten wir für die folgenden beiden Nächte die Nachbarstadt Reutlingen aus, von der es heißt, sie sei nicht so schön wie Tübingen, aber dennoch liebenswert – womit die Stadt sogar in selbstironischen Kampagnen wirbt –, und das können wir bestätigen. Gleich am ersten Abend gerieten wir in die Reutlinger Musiknacht und genossen im Sperrfeuer zweier sich abwechselnder Coverbands zwischen dem Dublin Irish Pub und dem gegenüber gelegenen Alexandre unser Guinness. Wir saßen noch bis nachts im T-Shirt draußen, Ende September, und freuten uns des Klimawandels. Der Regen setzte erst am nächsten Abend ein, kein Ding.
Diese Reise also hielt mich davon ab, auf den 18. Riptide-Geburtstag vor Ort anzustoßen. Die Woche darauf war ich dann aber selbstredend wieder da. So gerieten wir mit dem MokkaBär-Stammtisch jüngst in die Album-Release-Veranstaltung der Band The RiBS. Auch da saßen wir oben, weil unten bereits die Bühne errichtet war. Wir hörten den Soundcheck und freuten uns über den schnellen Punk. „Entspannend“, nickte Ulle beifällig. „Gimme The RiBS“ heißt das Album, es ist selbstverständlich hier im Riptide erhältlich.
Was ich Chris eigentlich auch noch fragen wollte, ist, was es mit dem Audiowalk vom XWeiss-Theater auf sich hat, der seit vergangener Woche am Riptide startet und bis zum 30. November zu erleben ist. Aber vielleicht treffe ich ja Theaterleiter Christian mal wieder beim Einkaufen in meiner Hood, dann frage ich ihn einfach. Das hat im vergangenen Jahr in Bezug auf das Sticker-Sammelalbum zu Fritz Bauer, das ebenfalls von seiner Produktionsfirma initiiert wurde, ja auch schon mal geklappt. Oder ich vertröste mich auf nächste Woche.
Denn für heute löst sich unsere Runde nun auf. Den Turmgeist auf Hardy lasse ich mir von Dennis einschenken. Auf einem Tisch bei den Platten liegt ein ganzer Stapel Filmfest-Journale; sieh an, da war jemand schnell. Auf dem beleuchteten Magnikirchplatz tummeln sich haufenweise Leute, als Nachfolge des inzwischen wieder abgebauten Wochenmarktes – allerdings nicht wie winters üblich die Boule-Spieler, sondern Menschen, die einander gegenüberstehend mit Bällen versuchen, in der Mitte aufgestellte Flaschen zu treffen.
Meine Neue-Nachbarschaft-Entdeckung mache ich heute mal mit Begleitung, denn Micha kommt mit zum Magnitorwächter, Am Magnitor 9. Vorhin war ich schon hier, da vertrösteten mich aber zwei Gäste und der Bierleitungsreiniger darauf, später zurückzukehren und Melli anzusprechen. Das tu ich jetzt, Melli ist tatsächlich im Einsatz in dieser gemütlichen Raucherkneipe, die mit Holz ausgestattet ist, in der es Wolters vom Fass gibt und die schon draußen mit Sitzmöbeln und freundlichen Lichtern einlädt. Melli schwärmt gleich vom Magniviertel los: „Wir stehen hier in Verbindung, helfen uns gegenseitig aus“, beginnt sie. „Eiswürfel, alles, was wir brauchen, von Barnaby’s, Friedrich, Anders, bis zum Kiosk“, indes bis ins am anderen Ende des Platzes gelegene Riptide reicht der Radius noch nicht.
Seit 28 Jahren existiert der Magnitorwächter in dieser Form. „Ihn gab es vorher schon“, erzählt Melli, damals indes mit dem jetzigen Pächter vom Anders, „aber wir haben ihn 28 seit Jahren“. Wir, das sind ihr Chef Lenno und das Team. „Ich persönlich bin nur acht Jahre hier“, sagt Melli, und lacht: „Aber man erlebt so einiges!“ Gast Frank wirft ein: „Früher hattest du hier jedes Wochenende Magnifest.“ 25.000 in Braunschweig stationierte Soldaten trugen dazu bei, dass das Viertel stets kaum passierbar war. „Da brauchteste keine Bestellung aufzunehmen, nur Tablett voll und rausgehen“, sagt Frank. Ausgelassenere Stimmung habe man hier regelmäßig nach Spielen der Eintracht, erzählt Melli, „besonders, wenn sie gewonnen hat“, was die Umsitzenden angesichts der jüngeren Niederlagenserie zum Lachen bringt. Aber gerade am vergangenen Wochenende, werfe ich ein, war es ja mal wieder der Fall, und alle nicken.
Neue Gäste treffen ein, Melli hat zu tun, Micha und ich danken und verabschieden uns. Nebenan brennt in zwei Ladenzeilen Licht – in einer sind in Folie verhüllte Lampen und Möbel zu sehen, am anderen prangen Werbe-Schilder, drinnen sind Tische und Stühle aufgestellt. Draußen beendet Lily ein Telefonat und erklärt Micha und mir, dass der Matcha-Store ein Po-Up-Store sei und somit temporär. Für wie lang, ist noch unklar: „Das wird ein Café“, sagt Lily und deutet auf den Nachbarraum, „mehr wird nicht verraten – das wird cool!“ Der jetzige Matcha-Store „wird dann der Gastraum sein von dem Konzept hier“, kündigt Lily an. Wir kommen wieder, versprechen Micha und ich, und lassen uns vom Sturm nach Hause wehen.
Dort erfahre ich dann aus dem Internet, dass Helmut von der Strohpinte gestorben ist. Die Kneipe im Handelsweg, neben der bis vor fünf Jahren das Riptide untergebracht war, gab er ja schon vor einer Weile auf, fast 50 Jahre nach seiner Übernahme 1974, und immer, wenn ich ihn danach traf, wirkte er wie aufgeblüht. Zuletzt begegneten wir uns gelegentlich an dem Honig-und-Eier-Stand von Iris und Jörn auf dem Wochenmarkt, erst vor wenigen Wochen wieder. Wie üblich frotzelten wir uns freundlich an und scherzten, und Iris fragte: „Ach, ihr kennt euch?“ Helmut nickte und guckte mich grinsend an: „Ja, leider!“
Schon muss ich wieder schlucken. Draußen tobt ein Sturm. Es ist Herbst. Halloween naht. Im Dachgeschoss heult ein Turmgeist.
