#37 Am anderen Ende der Leine

Mittwoch, 17. November

Zum ersten Mal bin ich mit dem Hund unterwegs. Allein. Zum ersten Mal deshalb, weil es nicht mein Hund ist: Meine Nachbarin besucht heute jemanden im Krankenhaus und braucht daher einen Aufpasser. Der bin ich gerne, der Hund ist klasse. Er heißt Leopold, weil seine Besitzerin so gerne in Braunschweig wohnt: in der Nähe der Leopoldstraße. Außerdem steht Leo für den Braunschweiger Löwen. „Leo“ wird er auch eher genant als „Leopold“, meistens aber „Poldi“. Und weil ich nun mal kurz ins Riptide will und wir ohnehin auf Gassirunde sind, muss Poldi eben mit. Heute Abend spielen Müller & die Platemeiercombo im LOT, bis dahin ist meine Nachbarin wohl wieder zu Hause.

Es riecht lecker nach Curry im Café. Und es ist schön warm, wärmer als draußen, was nicht schwer ist. Andererseits haben wir mit dem Wetter ja wohl Glück: Seit Juli unverändert, und das will im November schon was heißen. Der Curryduft kommt von Leifs Teller. Zu sehen ist dort aber nicht mehr viel, das Salatblatt ist das Letzte, was von der Mahlzeit übrig ist, mit einem Stück Brot schiebt Leif die offenbar sehr gute Sauce zusammen. Seit es früher dunkel wird, gibt es im Riptide auch wieder die Suppen der Woche. Eine davon widmete sich kürzlich dem Mann am Tisch: „Zwiebelsuppe for L(e)if(e)“. Heute stehen Schilder mit der Aufschrift „Bauer Power“ auf allen Tischen. Ich setze mich zu Leif und will die automatische Leine arretieren, damit Poldi nicht im Riptide umherläuft, weiß aber nicht, wie das geht, wenn ich es will, denn bislang ist es mir lediglich passiert, wenn ich es nicht brauchte, und ich hab die Arretierung nur per Zufall und mit Müh und Not entriegelt bekommen. Leif weiß bescheid. „Hier einfach hochschieben“, zeigt er mir und schiebt dort einfach hoch. In der Tat, so geht’s. „Bei meinem Hund würde die Leine nicht funktionieren“, sagt Leif. „Ich habe einen Pitbull.“ Zerreißt der die Leine? „Nee, der kennt einfach keine.“

Von Leif weiß ich, dass er sich mit Street Art auskennt, also frage ich ihn, ob er „Banksy: Exit Through The Gift Shop“ schon gesehen hat, damit ich von einem Bescheidwisser erfahre, wie er den Film einschätzt, den ich so lustig fand. An drei Abenden läuft der gerade im Universum. Nur drei Tage deshalb, weil an den vier Tagen der Kinowoche, die diesen drei Tagen vorangingen, noch das Filmfest lief. Und ich hab’s nicht einmal zum Filmfest geschafft, so ein Ärger. Dabei hätte ich so gerne den neuen Mike Leigh gesehen, „Another Year“. Selbst die Abschlussparty im Riptide habe ich verpassen müssen. Heute läuft „Banksy“ im Universum zum letzten Mal, aber ich hab ihn am Montag schon gesehen, weil heute Abend ja Müller & die Platemeiercombo im LOT spielen. Von Banksy halte ich viel, seit ich zufällig von ihm gehört hab, als er zusammen mit DJ Dangermouse die Paris-Hilton-CD verbesserte. 500 Stück hat er in englischen Plattenketten gegen seine Version ausgetauscht, kein Kunde hat sie returniert – dafür aber für teuer Geld bei Ebay eingestellt. Kürzlich wieder jemand: 5000 Pfund wollte der haben. Ein paar Klicks hätten ihm offenbart, dass die CDs bei Amazon Marketplace wochenlang selbst für 150 Euro nicht weggehen. Bei Discogs kosten sie so um die 50 Pfund und stehen trotzdem immer eine Weile dort im Bestand. Inzwischen hat der Verkäufer die CD zum zweiten Mal für 5000 Pfund bei Ebay eingestellt, und weil das nicht klappte, auf 750 Pfund reduziert, wie gehabt ohne Erfolg. Vielleicht schlage ich eines Tages bei Discogs zu und investiere in einen originalen Banksy. Es lohnt sich, das weiß ich, denn den Mix kann man sich legal herunterladen. Ein schicker Beat, 40 Minuten lang, mit einigen Samples, die so inhaltsreich sind wie ihre Urheberin Frau Hilton selbst. In der Mitte verwirrt ein Sirtaki. Das Booklet zieren Sprüche wie „Jede CD, die Du von mir kaufst, entfernen Dich ein Stück mehr von mir“. Den Humor mag ich. In seinem Buch „Wall And Piece“, das ich mir daraufhin zugelegt habe, zählt der anonyme Straßenkünstler Banksy diverse seiner Aktionen auf, wie die illegal in renommierte Museen geschmuggelten eigenen Werke oder die Straßenschilder ohne Sinn. Seine Graffiti haben sehr oft gesellschaftskritische und politische Botschaften, was ja der Spruch in der Hilton-CD schon belegt. Trotz allem bleibt Banksy ein Phantom, und das ist der größte Witz daran. Wer weiß, wer dahinter steckt – womöglich die Residents. Der Film offenbart nicht viel mehr über Banksy, er bestätigt lediglich dessen kritischen Humor. Ja, Leif hat den Film bereits gesehen. „Auf Russisch“, wie er berichtet. „Ich verstehe fließend Russisch.“ Meine Befürchtungen, dass ein Street-Art-Insider den Film vielleicht als Anbiederung oder wenig authentisch auffassen könnte, wischt Leifs Begeisterung vom Tisch. „Die beste Szene ist die, wo dem Typen der Farbeimer im Auto umkippt, die rosa Farbe läuft aus dem Auto, und er fährt weg – und zieht dabei eine Spur Farbe hinter sich her.“ Leif lacht. Er muss los, ich ja eigentlich auch, der Hund drängt. Ich will mich mit ihm für Samstag auf dem Markt am Altstadtrathaus verabreden, wo ich ihn fast immer treffe, aber: „Ich bin an diesem Samstag nicht da.“ Es wird einen nächsten Samstag geben. Und außerdem das Riptide.

Mit Poldi an der Leine hatte ich heute leider nicht die Gelegenheit, vor dem Riptide bei Raute einzukehren. Dabei hat Uwe extra die „Meddle“ von Pink Floyd für mich da, wie er mir vor einiger Zeit verriet. Und bestimmt auch wieder einen Kaffee. Im Prinzip hat das Riptide eine schöne Tradition auf die Spitze getrieben: Als Kunde eines ernstzunehmenden Plattenladens bekommt man eine Tasse Kaffee, wenn man sich anschickt, eine Weile in den Tonträgern herumzustöbern, und bereit ist, sich die fundierten Empfehlungen des Menschen hinter der Theke anzuhören. Vor kurzem war ich in Kopenhagen unterwegs, wie ich es regelmäßig gerne mache. Die Bob-Dylan-Ausstellung stand auf dem nicht sonderlich geplanten Programm, das sich dennoch wie von selbst um eine David-Lynch- und eine Picasso-Ausstellung erweiterte. Ein Tag ist aber immer für Cafés und Plattenläden reserviert. Es gibt eben einige Sachen nur dort: D-A-D immer etwas früher als in Deutschland, oder, wie im Falle von „Behind The Seen“, der gelungenen Raritäten-Compilation, auf Vinyl außerhalb Dänemarks gar nicht. Oder Red Warszawa, die prollige Metal-Band. Oder Dizzy Mizz Lizzy, die gerade ihr Reunion-Konzert als CD und DVD veröffentlichten. Oder Under Byen, die einen Wimpernschlag lang auch in Deutschland kurz an die Oberfläche schwappten. Die hatten zu all ihren Alben bislang immer Remix-LPs veröffentlicht, auch die gab es außerhalb Dänemarks nicht. Über deren Label habe ich aber vor einigen Jahren zwei davon bekommen: „Remix 1“ und „Remix 3“. Letztere jedoch mit bitterbösem Kommentar des Labelchefs. Denn bei „Remix 3“ handelte es sich, wie er erklärte, um die letzte Chance für den Künstler Goodiepal, sein erheblich angeschlagenes Renommee zu sanieren. Goodiepal, auch Gæoudjiparl, eigentlich Kristian Vester, Halb-Grönländer und Halb-Färöer, Ex-Schweinehirte, ist ein interdisziplinät tätiger kulturkritischer Kulturschaffender. Daher presste Goodiepal für Under Byen einfach einen alten eigenen Track auf 12“. Dazu zerkratzte und beklebte er die A-Seite bis zur Unabspielbarkeit. Als Cover recyclete er die Promo-Hülle einer anderen Produktion. Fertig – und vollkommen unhörbar, selbst die heile Seite. Für Aktionen wie diese sei Goodiepal auch von der Königlichen Musikakademie geflogen, sagte der Labelchef. Der „Under Byen In The Flip Flop Mix“, wie Goodiepal ihn nannte, war für den Labelmann Müll, den er fast gratis der „Remix 1“ beilegte. Ich fand die Aktion lustig, außerdem wüsste ich nicht, dass ich dergestalt entstelltes Vinyl andernorts je zuvor gesehen hätte. Etches, okay, Shapes, klar, aber absichtliche Kratzer, Aussetzer, Aufkleber? Nö. Vor einem Jahr jedenfalls landete ich auf meinem Weg durch die Platten- und Comicläden in Nørrebro bei „Route 66“, wo sie ausschließlich Vinyl haben. Unter anderem steht da eine große Kiste nur mit Goodiepal-Sachen, die alle so ähnlich aussehen wie der Under-Byen-Mix. „Das ist ein Bekannter von mir“, erzählte der Mann hinterm Tresen. Und er erzählte noch viel mehr: Goodiepal habe mit seinem Mix nur dem Establishment eins draufgeben wollen. Under Byen und Establishment, das müsste einem hier mal mit, sagen wir, Lali Puna passieren. Aber davon abgesehen schwärmte der Plattenhändler in den höchsten Tönen von Goodiepal und dessen Humor. Ein Jahr später, also vor wenigen Tagen, entdeckte ich zufällig nach einem Cafébesuch in Nørrebro das Schild „Æter“ mit dem Zusatz, dass es sich dabei um einen Plattenladen handelte. Der Eigentümer reichte mir eine Tasse Kaffee, die er aus seiner Bodum-Stempelkanne eingoss. Auf dem Plattenteller drehte sich das neue Album von Lali Puna. Er hatte gerade einige neue Platten aus Deutschland bekommen, darunter – er wechselte kurz die LP – „Mimikry“ von ANBB, dem gemeinsamen Projekt von Carsten Nikolai alias Alva Noto und Blixa Bargeld. Auch bei ihm entdeckte ich eine Kiste mit Vinyl, das so ähnlich aussah wie das von Goodiepal. Doch das war sein eigenes Zeugs, er betrieb nämlich auch ein Label. Aber er kannte neue Geschichten von Goodiepal. Der Rausschmiss bei der Königlichen Musikakademie hatte noch einen anderen Hintergrund, erzählte er. Und zwar klaute Goodiepal das teuerste Effektgerät der Akademie, 50.000 Kronen kostete das. Goodiepal lackierte das Gerät rosa und verkaufte es für 250.000 Kronen weiter. Außerdem nahm er von der Ukrainischen Mafia einen Kredit über weitere 250.000 Kronen auf, den er jedoch nicht zurückzahlte. Von all dem Geld produzierte er ein Album, das er für etwas über 300 Kronen bei „Route 66“ verkauft. Jedem Exemplar liegt ein 500-Kronen-Schein bei. Der „Æter“-Chef wusste zwar nicht, ob Goodiepal den Schein bearbeitet hatte, aber: „Du weißt als Käufer also nicht, ob das Geld aus dem Verkauf von Diebesgut stammt oder von der Ukrainischen Mafia.“ Goodiepal ist mein Mann. Ich entdeckte außerdem „Æsjo”, eine Compilation des Escho-Labels, betrieben von Ex-Düreforsög-Mitgliedern, die leider als Düreforsög keine Musik mehr machen. „Denen schulde ich noch Geld“, sagte der Schallplattenverkäufer. Kopenhagen ist klein. Und der Kaffee war gut.

Für einen Kaffee im Riptide habe ich heute leider keine Zeit, Poldi wird unruhig an diesem für ihn fremden Ort und ohne seine vertraute Bezugsperson. Aber für ein kurzes Schwätzchen mit André und Chris ist immer Zeit. Lukas ist heute gar nicht da, erstaunlich, denn bei meinen letzten Besuchen im Riptide schwirrte er immer höchst galant herum und brachte mich mit den unglaublichsten Äußerungen zum Lachen. Sei es damit, dass er vermeintlich genervt stöhnte, als er mich mit Leuten im Schlepptau durch die Tür kommen sah. Das war auch der Tag, an dem meine Schwester erzählte: „Ein Kundinnenkind von mir heißt Thekla. Ich kann das Kind nicht anfassen. Ich habe eine Spinnenphobie.“ Einmal kam ich in die Rip-Lounge und sah Lukas am vollbesetzten Tisch sitzen. Es war nicht sofort erkennbar, dass er nicht als Gast da war. „Interessante Perspektive“, stellte er daraufhin fest, „ich bediene im Sitzen und die Gäste dürfen stehen.“ André jedenfalls hat schon die nächsten drei Themen für die „Sound On Screen“-Reihe mit dem Universum parat. Da habe ich es ja auch noch nie hingeschafft. Nicht komplett jedenfalls. Nach dem Black-Metal-Film „Until The Light Takes Us“ immerhin erlebte ich die Anschlussshow im Riptide, als nämlich die beiden Salem’s-Law-Musiker Frank und Volker Metal-Musikvideos auf Großleinwand zeigten und kommentierten. Die Experten verlegten sich auf einen eher akademischen Stil als darauf, über die Clips platt zu lästern. Dabei hätten es die meisten Clips mehr als verdient. Im Dezember also läuft „Nowhere Boy“ bei „Sound On Screen“, ein biografischer Film über die Jugend von John Lennon, gedreht von Modeschöpfer Sam Taylor-Wood, der auch schon mit den Pet Shop Boys sang. Im Januar schließt sich eine Mod-Party an „Quadrophenia“ an. „Der Film ist jetzt 30 Jahre alt“, sagt André, das sei eine gute Gelegenheit, den wieder zu zeigen. Und im Februar gibt’s Prog Rock: „Beyond The Lighted Stage“, die neue Dokumentation über Rush. „Das wird interessant“, sagt André, „die sind ähnlich unbekannt und sympathisch wie Anvil.“ Stimmt, seit ich die „Rush In Rio“-DVD gesehen habe, bin ich auch Fan, also sehr spät im Leben erst. Davor dachte ich nämlich, dass Rush peinlich wären, bis ich merkte, dass eigentlich eher die Leute peinlich waren, die mir das einreden wollten, und dass viele Leute, die ich ernstnahm, von Rush schwärmten. Seit knapp 20 Jahren etwa höre ich Primus, aber erst seit kurzem weiß ich, dass auf der „Suck On This“ das Intro zu „John The Fisherman“ eigentlich „YYZ“ von Rush ist. Und André hat recht, Geddy Lee, Alex Lifeson und Neil Peart wirken wirklich sympathisch.

Poldi fiept und mahnt mich zum Aufbruch. „Nein, ins LOT gehe ich heute Abend nicht, ich habe ein anderes kulturelles Highlight im Kalender“, sagt Chris von seinem Aktenstapel aus. „Heute ist Premiere von Harry Potter“. Stimmt, ausnahmsweise an einem Mittwoch. Immer, wenn ich „Harry Potter“ schreiben will, vertippe ich mich zu „Happy Rotter“. Ich frage Chris, was es sonst so Neues gibt, und er sagt: „Neues? Johnny Cash ist tot.” Das muss ich erstmal verdauen. Dabei dachte ich, der sei zusammen mit Elvis, Kurt Cobain und Jimi Hendrix bei den Residents. Und führe eine Zweitkarriere als Banksy. „Sie haben in seinen Archiven ein unbekanntes Duett gefunden“, berichtet Chris. „Ich hoffe, dass sie das veröffentlichen, aber es wird sicherlich noch Hunderte von ‚American Recordings’ geben.“ Stimmt, ein Drittel der Serie ist posthum erschienen. „Sie haben ein Duett mit Ray Charles entdeckt“, deckt Chris endlich auf. Wir sind uns beide sicher, dass es das bald als Tonträger geben wird. Poldi zerrt an der Leine, ich muss los. My master’s voice ist stumm, aber willensstark. Ins LOT zu Müller & die Platemeiercombo werde ich ihn nachher aber nicht mitnehmen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

2 Kommentare

  1. isabel kühlborn

    hallo,

    könnt ihr mich bitte in den verteiler aufnehmen und mir die aktuellen veranstaltugen mailen?

    vielen dank

    isabel

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