Samstag, 8. Januar
Überraschend unwinterlich zeigt sich diese Januartag. Die Sonne strahlt wie selbst im Sommer kaum, es sind über null Grad, die weiße Pracht aus Dezembertagen ist dahingeschmolzen, Winterdepressionen anlässlich er zuletzt grauen, pieseligen Tage sind weggespült, die Launen heben sich allenthalben. Überraschenderweise sitzt aber niemand im Achteck zwischen Café und Rip-Lounge, das lassen sich die Gäste doch sonst nicht nehmen. Dafür sind sowohl das Café als auch die Rip-Lounge bis auf den letzten Platz gefüllt. Chris, Jasmin und Lara haben gut zu tun, wirken aber gar nicht so. Die drei sind so entspannt und freundlich wie ihre Gäste.
Nach all den Jahresrückblicken ist jetzt mal ein Ausblick dran: „Ein paar schöne Veranstaltungen“ verspricht Chris. Er nennt ein Beispiel: „Das erste Highlight wird am 5. Februar die Lesung von Nagel.“ Der ja schon einmal im Riptide war, damals mit einem Buch über Tourneen seiner Ex-Band Muff Potter. „Er hat ein neues Buch geschrieben“, sagt Chris. Er freut sich, dass ihm Nagels Label einige administrative Arbeit abnimmt: „Der Vorverkauf läuft über Grand Hotel van Cleef, dann müssen wir uns nicht darum kümmern.“
Doch beschränken sich die Vorhaben der Riptide-Chefs Chris und André für 2011 nicht auf reine Veranstaltungsthemen. „Verändern, Verbessern, Umbauen in den nächsten drei Monaten, um mehr Möglichkeiten und mehr Platz zu haben“, sagt Chris. Mehr gibt er noch nicht preis, sondern zeigt mir stattdessen das neueste Quartett: „Wir haben seit heute ein Quartett mit Blechrollern für Scooter-Fans.“ Er holt eine Promokarte dazu aus seinem Bürobereich. Sofort habe ich eine Assoziation zu dem Film, der als nächstes bei der gemeinsamen Serie mit dem Universum-Kino läuft: Dem Mod-Film von The Who. „Das ist Zufall, dass es zusammenfällt“, sagt Chris. „Aber es passt dazu.“ Der Quartett-Produzent sei eine Firma aus Hamburg, erzählt Chris. „Die Quartette sind auf 500 Stück limitiert und werden nicht nachgedruckt, und 50 Cent gehen als Benefiz an eine Kinderhilfsorganisation in Hamburg.“ Er legt ein Anschauungsquartett auf den Tresen in die Reihe mit den Seuchen, den Tyrannen und dem Rauschgift sowie dem weiteren neuen: „WM-Legenden in Mannschaftsform“, zeigt Chris, „mit Fußballbildern von Tante Käthe und Rudi Völler.“ Jasmin, die um Chris herum Kaffee in Tassen füllt und Getränkeflachen entkorkt, wirft ein, dass sie von Fußball keine Ahnung habe, stutzt dann aber kurz und fügt hinzu: „Ist Rudi Völler nicht Tante Käthe?“ Chris nickt. „Du hast ja doch Ahnung von Fußball – ich meinte Tante Käthe und Toni Schumacher.“ Er grinst. „Das Quartett ist ein totaler Männertraum.“
À propos Sound On Screen. Den Titel des Mod-Films, den das Universum am 20. Januar zeigt, darf Chris aus rechtlichen Gründen nicht namentlich nennen, obwohl er bereits bekannt ist. „Das ist kein Witz“, erklärt Chris. Auf den Film freut er sich schon: „Das ist der erste Klassiker, den wir zeigen.“ Eine weitere Reihe, die regelmäßig im Riptide läuft, ist „Frank Schäfer proudly presents“. Doch dafür gibt es noch keine neuen Termine, so Chris: „Frank wird sich melden, es soll ja dreimal im Jahr sein und das letzte Mal war gerade erst.“ Stimmt, da lud Frank sich kurzerhand selbst mit ein, als Ensemblemitglied des Heavy-Metal-Literatentrios Read ’em All. Die Texte der drei Drachentöter sind ja schon immer klasse, doch mittlerweile entwickeln Frank, Axel Klingenberg und Till Burgwächter latente Kabarett-Eigenschaften. Fast noch witziger als das Gelesene sind die Einwürfe und Zwischendialoge, mit denen sich die drei schmerzfrei über sich selbst lustig machen. An dem Abend hatte Frank noch einen Extra-Gast: Micha-El Goehre aus Bielefeld, der Stadt, die es… Micha-El betrachtete die Welt, wie wir sie kennen, aus der Sicht und mit den typischen Vorstellungen eines Black-Metallers. So fuhr eine Black-Metal-Reisetruppe in einer Geschichte extra über Ostdeutschland nach Norderney, damit der Kilometerzähler bei der Fahrt auf die Fähre exakt 666 anzeigte. War alles im Sinne des Black Metal, war es „true“. Und witzig war es zudem auch noch. So gut kann Samstagabendunterhaltung sein.
Ein As hat Chris noch im Ärmel: „Ende Februar haben wir hier wahrscheinlich ein Konzert – aber da gibt es noch nichts Konkretes.“ Einen Namen will er deshalb auch noch nicht nennen. Verständlich. Ansonsten sei die Riptide-Mannschaft gerade bei der „Neufindung“, so Chris. „Ich freue mich auf das vierte Jahr.“
Mit einer CD-Hülle aus dem Fach kommt Carsten an den Tresen und fragt Chris: „Kann ich da mal reinhören?“ Chris bejaht, sucht die CD aus seiner Schublade heraus und reicht sie ihm. Nach einer Weile kommt Carsten zurück und sagt: „Ich dachte, das wäre eine Leatherface-Best-Of.“ Doch tatsächlich lautete der groß geschriebene Titel des Albums „Leather Face“, die Band hieß „Lawrence Arms.“ Carsten hält kurz inne und sagt nachdrücklich zu Chris: „Das ist ein Klasseladen, das muss ich mal sagen, und ich wünsche Euch, dass es so weitergeht.“ Chris freut sich, bedankt sich und wendet sich wieder dem vorherigen Thema zu. „Stand die in dem Leatherface-Fach?“, fragt er, und Carsten bejaht. „Sorry, die war dann falsch sortiert, das werden wir ändern.“ Chris umrundet den Tresen und erklärt: „Lawrence Arms ist eine amerikanische Punkrock-Band.“ Carsten fand die CD auch nicht schlecht, aber: „Ich bin auf Leatherface aus.“ Chris guckt im CD-Kasten und stellt fest: „Es sind noch welche da.“ Er zeigt Carsten einen der beiden Funde und grinst: „Das ist das hässlichste Cover, da hat Frankie Stubbs seinen Hund fotografiert und das Album einfach ‚Dog Disco’ genannt – willst Du mal reinhören?“ Carsten will. Chris kehrt zum Tresen zurück, sucht die passende CD aus der Schublade aus, sagt „das wäre die ‚Dog Disco’“, während er sie Carsten herüberreicht. „Danke“, sagt der und geht an die CD-Spieler.
Eine Neuerung fällt mir auf, als ich mich den Vinyl-Neuheiten zuwende: Die sind mit Trennpappen alphabetisch sortiert. Chris bestätigt: „Die Singles sind auch sortiert, damit es übersichtlicher ist, und wenn das kommt, was ich vorhin gesagt habe, wird es noch übersichtlicher.“ Der Mann macht neugierig.
Ich bezahle meine Platten und drehe mich um. Hinter mir steht Obst in der Reihe, ebenfalls mit einem Stapel Platten in der Hand, „quer durchs Beet“, wie er sagt, und obenauf Mariachi El Bronx. „Die habe ich auf dem Groezrock-Festival in Belgien gesehen, die sind großartig“, schwärmt er. „Das Groezrock ist eines der besten Festivals, vom Line-Up her, die man sich angucken kann.“ Hardcore- und Punkrock-Bands spielen da, „alles, was Rang und Namen hat.“ Obst erzählt von den Zirkuszelten, in denen die Bühnen aufgebaut sind. „Das Blöde ist nur, dass es immer im April stattfindet, es ist immer kalt nachts.“ Nachts ist man ja ohnehin bei den Konzerten, außerdem habe man doch sicher Frostschutzmittel im Blut, werfe ich ein. Doch reiche das nicht, so Obst: „Wir sind einmal vom Konzert gekommen, da lag Eis auf dem Zelt, der Tau war gefroren, weil es so bitterkalt war.“ Wie es sich für einen überzeugten Festivalgänger gehört, grinst er bei der Erinnerung.
Obst spielt beim Akustik-Ska-Trio Splandit. Bis vor anderthalb Jahren wohnten wir noch in einem Haus, dann zog er zu seiner Freundin. Schon damals fand ich den Werdegang des Trios bemerkenswert. Obst berichtete im Treppenhaus strahlend von Touren nach Irland und England oder auch mal quer durch Deutschland. „Braunschweig ist jetzt unser Heimpflaster“, sagt er über den Status, den sich das Trio inzwischen erspielt hat. „Gerade das B58, es ist immer wieder schön, dort zu spielen.“ Doch mitten im Sprung gibt es ein Jahr Zwangspause: „Unser Sänger geht nach England.“ Seine Vorgängerband Blissplease hatte seinerzeit unter ähnlichen Umständen zu leiden, als ein Musiker für längere Zeit in Neuseeland war. „Aber wir versuchen, mit Splandit ein Abschlusskonzert zu machen, Ende Februar, das müssen wir aber noch abkaspern“, kündigt Obst an. Er schwärmt vom letzten Splandit-Auftritt mit Loudog im B58, zu Weihnachten: „Das war der Hammer, für Loudog war es das erste Unplugged-Konzert, für die passte es, dass sie uns vorher spielen ließen.“ Das letzte Splandit-Album ist auch schon fast wieder ein Jahr alt, „das davor nehmen wir noch mal neu auf, wir hatten nur 250 Stück und die sind weggegangen.“ Doch Blissplease erfahren demnächst eine kurzzeitige Renaissance, wie Obst berichtet: „Ein Kumpel studiert an den SAE-Tonstudios in Hamburg, die sind in einem Bunker in St. Pauli untergebracht.“ Das ist der Bunker mit dem Uebel & Gefaehrlich oben drüber. „Im Februar sind wir da, er muss als Abschlussarbeit einen Song aufnehmen, der muss über vier Minuten lang sein, den muss er aufnehmen, abmischen und einen Radio-Edit erstellen“, sagt Obst. „Und weil er Blissplease cool findet, fragte er, ob wir noch mal einen Song für ihn spielen wollen.“ So ganz Reunion wird es aber doch nicht: „Er spielt Schlagzeug, weil wir zu unserem Schlagzeuger keinen Kontakt mehr haben.“ Obst selbst freue sich auch darüber: „Mal noch mal einen alten Song neu hören.“ Schon beim Proben habe die Band überrascht festgestellt, dass sie die meisten Songs noch draufhabe. „Mal sehen, was wir mit dem Song dann machen.“ Vielleicht kommt er auf die alte Myspace-Seite von Blissplease.
Obst wendet sich Chris zu, um seinen Vinylstapel zu bezahlen, und sagt: „Ein Superladen, ich bin oft hier, ich bin auch von CD auf Vinyl umgestiegen.“ Er fragt Chris noch nach der neuen Smoke Of Fire, von der Chris sagt, dass sie weg sei, wenn sie nicht mehr im Fach stehe. Ich nehme Abschied von den beiden. Ein „prächtiges Wochenende“ wünscht Chris dem Gast hinterher, der zufrieden ins sonnige Achteck tritt.
Matze Bosenick
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