#47 Abtauchen

Freitag, 16. September

Seit einiger Zeit treffe ich häufig Katrin und Uwe von Raute Records bei Tante Puttchen, wenn ich auf dem Weg ins Riptide bin. „Wusstest du das nicht? Wir wohnen jetzt hier“, sagt Katrin. Na ja, beim letzten Mal habe ich diese Information nicht erstgenommen – ab jetzt tu ich das. Haben die beiden denn schon dem Riptide gratuliert? Selbstverständlich habe sie, wie sie sofort betonen. Uwe sagt: „Du musst dich beeilen, wenn du nicht der Letzte sein willst.“ Okay, ich bemühe mich um den Platz des Vorletzten. Katrin verabredet sich mit mir der Form halber schon mal für Montag an gleicher Stelle.

Wie schön, dass wenigstens im September das Wetter nach so etwas wie Sommer aussieht: Im Achteck sitzen und stehen Gäste. Es ist dunkel, aber mild. Noch ist es in Braunschweigs attraktivster Partymeile vergleichsweise still, obwohl die meisten Tische besetzt sind. Aber noch läuft die aktuelle Ausgabe der Riptide-Filmreihe Sound On Screen im Universum-Kino, erst danach steigt die Geburtstagsparty: Das Riptide ist heute vier Jahre alt geworden. Noch sitzen also die Gäste im Kino und gucken „Soulboy“. Am Stehtisch unter dem Balkon an der Rip-Lounge entdecke ich bekannte Gesichter: Bassist Schepper, Stefan von der Einraum-Galerie nebenan und das halbe Riptide-Geburtstagskind André. Stefan hat sein Büro im Kingking Shop. Oder, wie einer der Einraum-Leute bei einer Vernissage einmal sagte: Kinkong Ship. Deshalb wirbt Stefan auch gleich für die Eröffnung des Kingking-Online-Shops im Oktober. „Mit Oktoberfest“, schiebt er nach. Der Onlineshop heißt dann „Kulturwarenladen“. Stefan erklärt: „Eine Mischung aus Kolonialwaren und VEB Kulturwaren.“ Wie Kingking-Chef Pott sich die Eröffnung vorstellt, hat jener mir schon erzählt. Stefan lacht: „Du weißt es?“ Ich nicke und frage zurück: „Pott macht das wirklich?“ Stefan bestätigt eingeschränkt: „Wenn er genug PCs bekommt.“ Alles Weitere soll eine Überraschung bleiben.

Auch Schepper glänzt mit Informationen: Er hat eine Kopie aus dem Magazin „Bassprofessor“ dabei, in dem der Herausgeber Scheppers Demo-CD „Schepper plus Bass“ rezensiert, und zwar ausgesprochen positiv. Hat er ja auch Recht mit. Und Schepper drückt Stefan eine seiner CDs in die Hand. Der dankt und berichtet von der Improtheatergruppe „Jetzt & Hier“, mit der er zusammenarbeitet. Da bin ich überrascht: Das Braunschweiger Kulturnetz ist doch deutlich feinmaschiger, als ich es ohnehin schon gedacht habe. „Bei ‚Jetzt & Hier’ ist der Einraum mit dabei“, wiederholt Stefan. „Wir haben ihnen einen Raum zur Verfügung gestellt und einen Künstler organisiert.“ À propos Einraum, da fällt Schepper die Mugshot-Ausstellung von Toddn ein, bei der Toddn uns für damals noch unbestimmte Kunstwerke fotografiert hat. Jetzt kann man die Kunstwerke sehen, und zwar im Schaufenster des neuen Krimi-Buchladens „Mord & Totschlag“ in der Karl-Marx-Straße. „Nach der Wahl bin ich in Richtung Park gefahren“, berichtet Schepper, „da habe ich mir gedacht, da war doch was.“ Und hat ein Foto von den mit Fotos beklebten Tabakdosen gemacht. Zwischen einigen inhaftierten Promis sind viele Braunschweiger, zumeist vom Silver Club, zu sehen. Am besten gefällt mir das von Klaus, von Toddn prominent ganz nach oben gesetzt: Der 61-Jährige hält nicht wie wir ein Schild mit persönlichen Daten vor sich, sondern eines, auf dem „Fußweg zum Friedhof“ steht.

Allmählich dürstet es mich, besonders, weil ich den anderen beim Getränkeeinnehmen zusehen muss. Im völlig leergeräumten Riptide erfüllen Kathi und Benno alle Kundenwünsche, meiner ist der nach einem Wolters. Das Riptide sieht erstaunlich gut aus, wie es so frei und offen auf Tanzvergnügte wartet. Northern Soul ist das zum Sound-On-Screen-Film passende Motto heute Abend. Lukas gehört nicht mehr zu den Kundenwunscherfüllern: Er hat schon Feierabend und stellt sich mit mir an den Stehtisch draußen. „Na, ihr Muttis?“, begrüßt er die Runde. Stefan erzählt gerade etwas von sozialen Netzwerken und erwähnt „Fatzebuck“. Schepper und ich gehören zu denen, die da keinen Account haben. Stefan und Lukas ja. „Hat mir schon zwei, drei Mal geholfen“, sagt Stefan. „Wegen Weiber?“, mutmaßt Schepper. „Nee, die hab ich schon im VZ kennen gelernt“, sagt Stefan. Lukas nickt: „Im Schüler-VZ.“ Stefan lacht: „Ich hab mich angemeldet mit 38 – ich mach Abendgymnasium, hallo?“

Aus dem dunklen Handelsweg kommt Chris ins hellere Achteck. Endlich kann ich meine Glückwünsche aus André und Chris gleichermaßen verteilen. Der Film ist noch gar nicht aus: Chris bereitet die Party vor. Sein DJ-Pult steht im Café in der Ecke mit den Vorhör-Plattenspielern.

An diesem Wochenende läuft im Westen wieder das Kulturschaufenster 38118, dieses Mal nicht am Frankfurter Platz, sondern am Westbahnhof. „Da haben wir auch einen Stand“, sagt Stefan. „Sonntag soll’s regnen, das ist nicht gut – Bücher mit Regen ist wie Milchreis mit Curry.“ Dann schon lieber mit Chili, meint Lukas. Die Luftfeuchtigkeit sei sehr hoch prognostiziert, sagt Stefan: „Da ist ein Reclamheft so dick wie die Bibel.“ Schepper schlägt vor: „Verkauf sie doch nach Gewicht.“

Mit einem großen roten runden Aufkleber mit dem Gesicht einer aggressiven schwarzen Katze darauf auf seinem weißen Hemd kommt Benno zum Rauchen zu uns an den Tisch. Was hat es damit auf sich, ist das heute Riptide-Personal-Erkennungszeichen? „Kennst du nicht ‚Thundercats’?“, fragt Benno, und ich verneine. „Du bist doch älter als ich.“ Das mag sogar der Grund sein, da hab ich mich dafür wohl nicht mehr interessiert. Scheppers Assoziationsmaschine bringt einen Gibson-Bass und die Serie „Thunderbirds“ hervor. „Das war eine englische Marionetten-Serie“, sagt Schepper. „Die kenne ich auch“, sagt Lukas. Ich nicht. Benno erklärt: „‚Thundercats’ war eine Comic-Serie im ‚Sabre-Rider’-Stil, von der Zeichenart her, das lief nach ‚He-Man’ – oder vor ‚He-Man’?“ Hab ich auch alles nie gesehen. „Das lief bei ‚Bim-Bam-Bino’ im Privatfernsehen“, fährt Benno fort. Ah, das war definitiv nach meiner Zeit, ich kenne gerade noch „Spaß am Dienstag“ mit Werner und Zini oder, wie es vorher hieß, „Montagsspaß“ mit Thomas und Zini. Benno erklärt weiter: „‚Bim Bam Bino’, das war eine Handpuppe, die die Moderation gemacht hat zwischen den Filmen.“ Lukas bestätigt. Hm. Wieder Marionetten, wie bei „Thunderbirds“? Schepper wehrt ab: „Das war eine Handpuppe, bei Marionetten sitzt der Arsch oben.“

Für kommenden Sonntag war eigentlich eine Bombenentschärfung angesetzt, für die die Innenstadt weiträumig evakuiert werden sollte. Die Idee, die Zeit der lebensbedrohlichen Kampfmittelbeseitigung im Riptide zu verbringen, erwies sich als hinfällig, weil das ebenfalls in den Evakuierungsradius fiel. Drei Tage vor der Explosion jedoch blies die Stadt die Aktion wieder ab: Die Fliegerbombe in der Wolfenbütteler Straße hatte sich als Gussrohr entpuppt. Im Riptide kleben dennoch überall Zettel, dass am Sonntag dicht ist. Und dabei bleibt es auch, sagt André. „Wir haben die Arbeiten auch gar nicht eingeteilt“, erklärt Lukas. André muss schon los und kann gar nicht weiter mitfeiern: „Morgen ist ein Vegan-Fest hinterm Schloss, wir haben einen Stand und grillen.“ Zu Scheppers Freude: Er arbeitet dort – „ich komme dich besuchen“. Wegen der frühen Arbeit morgen muss auch Schepper los. Er freut sich vor allem auf den Abend: „Ich sehe Birthcontrol.“ Die Manfred-Birth-Kontrolle? Ist doch gar nicht nötig, der ist doch bald nicht mehr Bürgermeister von Gifhorn. Auf Schlagzeuger und Sänger Nossi freut sich Schepper besonders, „den Erfinder der Noisette-Schokolade“. Den habe ich mal in Wolfsburg interviewt, da hat er im Sommer mit Birthcontrol beim Jembker-Hof-Revival der DJs Olli und Hansi gespielt. Den Song „Gamma Ray“ kennt jeder, auch den Umstand, dass Hugo Egon Balder mal bei der Band dabei war, bis seine Eltern meinten, er solle etwas Vernünftiges machen. Weil mir das an Vorwissen nicht reichte, hatte ich ein bisschen recherchiert, bevor ich Nossi traf: Was musste man noch über Birthcontrol wissen? Wikipedia verriet, dass Bernd „Nossi“ Noske zwar am längsten von allen aktuellen Bandmitgliedern dabei, aber kein Gründungsmitglied ist. Den Hinweis fand Nossi dann aber gar nicht gut. Das Konzert indes war geil: mittendrin 25 Minuten „Gamma Ray“.

Und à propos Rockstars in Wolfsburg: Vorgestern habe ich die beiden Wingenfelder-Brüder von Fury In The Slaughterhouse getroffen. Sehr sympathisch, zugänglich, lustig und voll von Anekdoten. Zwei von deren aktuellen Bandmitgliedern spielen übrigens bei der Braunschweiger Band Moteko: Volker Rechin und Lutz Sauerbier. Eine Anekdote der Wingelfelders war, als sie mit Fury im Vorprogramm von a-ha in Wolfsburg die Volkswagenarena eröffneten, bei minus zehn Grad, „und auf einmal sprengt uns einer weg“, sagte Thorsten Wingenfelder. Durch die Erschütterung war die Pyrotechnik des Hauptacts losgegangen. Ein Musiker hatte sich die Haare angesengt, ein anderer nichts mehr sehen können, aber die Band hatte weitergespielt. Mit gutem Grund, wie Kai Wingenfelder lakonisch feststellte: „Wir mussten ja noch ‚Time To Wonder’ spielen.“ Nicht erzählt hingegen habe ich den beiden, dass wir früher, wenn Fury in Knesebeck gespielt haben, Anti-Fury-Partys im Exil in Bodenteich gefeiert haben. Eigentlich gar nicht so sehr wegen der Musik, sondern eher, um uns von dem Bohei abzugrenzen, denn natürlich pfiffen wir die Songs gerne mit. Ebenfalls nicht erzählt habe ich ihnen die Geschichte, wie ich mit einem Rudel Fury-Fans 1992 in Dortmund in der Westfalenhalle U2 sehen wollte. Vor den geschlossenen Toren hatte sich eine riesige Menschentraube angesammelt. Die Leute um mich herum meinten nun, inmitten der Menge den Sänger von Fury ausgemacht zu haben, und meinten außerdem, mich dazu bringen zu müssen, ihn zu fragen, ob er es sei. Ausgerechnet, ich war derjenige von uns, den das am wenigsten interessierte. Als sie noch überlegten, ob er’s war oder nicht, gingen die Tore auf und wir strömten in die Halle. Da stand ich nun plötzlich genau hinter dem vermeintlich prominenten Mann. Ich sprach ihn an: „Meine Freunde sagen, du siehst aus wie der Sänger von Fury – bist du’s?“ Er schüttelte den Kopf: „Nein.“ Ich sagte, dass ich mir das dachte. „Nein“, wiederholte er, „ich bin der Gitarrist, der Sänger ist mein Bruder.“

Und dann kommt der Bus, wie es irgendjemand ausdrückt. Der Film ist ganz offensichtlich zuende. Plötzlich füllt sich der Handelsweg, die Schlangen an der Riptide-Theke werden länger, Chris macht die Musik etwas lauter, überall ist Gespräch und Gelächter. Trotz der vielen Abschiede füllt sich unser Tisch wieder: mit Pott und Kathrin, mit Frank Schäfer und seinem Cousin Helge alias Monsieur le Supersexuel. Stefan zeigt Pott die Gemeinschaftsflyer von Sound On Screen und dem Kingking Shop, Helge hält seinen Flyer für die Dynamite-Release-Party am 23. September in der Gearbox daneben. Dem Theken-Team gelingt es, die Getränkewünsche trotz vermeintlich langer Schlangen schnell zu erfüllen. Mit Bieren in den Händen stehen die Gäste im Achteck und schwärmen von dem Film. „Gut, vor allem wegen der Musik – aber eine Schmonzette, das muss man schon so sagen“, meint etwa Frank.

Mein Getränk hat die Neige erreicht, ich schiebe mich an die Theke. Chris in seiner DJ-Ecke hüpft fröhlich zu den ansteckenden Soul-Takten. „Gänsehaut“, sagt er über den Film. „War geil, ich musste aber nach der Hälfte gehen – den Rest muss ich noch mal gucken.“ Nur den Rest hingegen hat Clemens gesehen, der zum ehrenamtlichen Filmfest-Team gehört. „Vorher hatte ich ein Gespräch“, erzählt er an der Theke. Zurzeit laufen nämlich die heißen Vorbereitungen für das Filmfest im November. „In der Reihe ‚Musik und Film’ geht es dieses Mal um elektronische Musik im Film“, sagt Clemens. Er lässt Namen fallen wie „Ohm Sweet Ohm 2.5“, „Insects“ aus Brüssel und „Fall On Your Sword, Captain Kirk is Climbing a mountain, why is he climbing a mountain?“, macht damit mächtig neugierig und verschwindet getränkebepackt in der Menge.

In der Menge treffe ich auf Beate, die Vertreterin vom Filmfest, die auch den Sound-On-Screen-Film „Soulboy“ organisiert hat. Was gar nicht so einfach und einer Reihe von Zufällen zu verdanken war, wie sie sagt. „Den Film gibt es in Deutschland im Kino wohl nicht mehr zu sehen“, stellt sie klar. Sie fand den Film gut. „Die Riptides wollten ihn“, sagt sie. Da machte sie sich auf die Suche: In England gibt es den bereits auf DVD, in Deutschland erst im Oktober, und fürs Kino hat sich kein Verleih gefunden. „Original ohne Untertitel wollten wir den nicht zeigen, der spielt in Nordengland“, sagt Beate. Und dann half ihr eine Zufallsentdeckung: Der Name des Regisseurs nämlich, Shimmy Marcus. „Da fiel mir ein, mit dem habe ich mich doch in Braunschweig schon mal unterhalten, vor fünf Jahren, da hat er für eine Krimikomödie überraschend den Publikumspreis Heinrich bekommen.“ Also setzte sie sich mit dem Mann in Kontakt und erhielt über den Produzenten eine Blue-Ray-Version des Films mit deutschen Untertiteln. Sie strahlt. Wir schwärmen vom Filmfest, von den vielen Erlebnissen, davon, dass manche sich Urlaub nehmen und sechs Tage lang in drei bis fünf Filmen täglich sitzen, und das bei der zumeist schweren Kost. Ich habe einmal beobachtet, wie in der Reihe vor mir jemand vor Filmstart Lunchbox und Thermoskanne auspackte. Nach Filmschluss treffen sich die Gäste mit ihren um den Hals hängenden Dauerkarten vor dem Kino und tauschen sich aus: „Was, du hast erst drei Filme gesehen heute?“ Beate freut sich mit mir auf den neuen Film von Lars von Trier, der bald im Universum läuft, und empfiehlt außerdem „The Guard“. Ich schwärme von tollen Filmfest-Beiträgen wie dem aberwitzigen, im fiktiven Groland spielenden „Louise-Michel“, „Niceland“ von Friðrik Þór Friðriksson sowie den ganzen vielen Filmen von Mike Leigh und Ken Loach. „Hast du ‚Sweet Sixteen’ gesehen?“, fragt Beate. Habe ich. „Der Hauptdarsteller, Martin Compston, spielt auch bei ‚Soulboy’ die Hauptrolle.“ Und in „Niceland“, wie das Internet verrät. Beate berichtet von einem Filmfest in Karlovy Vary, Karlsbad, in Tschechien, dem Kviff, „Karlovy Vary International Film Festival“. Hier in Braunschweig kann sie das Filmfest nicht so intensiv wahrnehmen, sagt sie, weil sie an der Organisation beteiligt ist, aber in Karlovy Vary gelingt ihr das, was sie von Braunschweigern hört: „Abtauchen.“

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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