#59 Trio + Fäuste = Jahre

Sonntag, 16. September

Ausgerechnet heute hat das Café Riptide zu. Ausgerechnet! Denn ausgerechnet heute vor fünf Jahren feierten Chris und André die Eröffnung des Riptide, darauf hätte ich gerne ebendort mit jemandem, am liebsten mit den beiden, angestoßen. Vor fünf Jahren war es auch ein Sonntag, am Montag konnte man im Riptide erstmals Schallplatten kaufen. Nun nutze ich eben die Gelegenheit, zurückzublicken und festzustellen: Was hat sich im Riptide, in Braunschweig, in mir in den vergangenen fünf Jahren verändert?

Die erste Antwort ist eine Meta-Antwort, eine Möbius-Antwort; die erste Antwort kann ich nicht als Antwortsatz formulieren, sondern sie besteht aus der Feststellung, dass ich die drei Fragen nicht losgelöst voneinander beantworten kann, und dass diese Tatsache allein schon etwas Positives und damit eine Antwort ist. Aber es gibt ja auch Details.

In Braunschweig sah es bis vor fünf Jahren noch dunkelgrau aus, was bestimmte Gewohnheiten betrifft: Das FBZ als fantastischer Weggeh- und Konzerteort war geschlossen, den Second-Hand-CD- und -LP-Laden Ran7 gab es nicht mehr, gemütliche Cafés waren geometrischen In-Etablissements gewichen. Wenn man etwas erleben wollte, war man auf das Wenige angewiesen, das stattfand, musste es wahrnehmen, denn ansonsten hatte man eine lange Zeit zu warten, bis einem Vergleichbares widerfuhr. Es war vergleichsweise trostlos in Braunschweig. Stimmt natürlich nicht vollständig. Initiativen kamen aus dem privaten Bereich, städtische Einrichtungen halfen sie umzusetzen, etwa die Genrepartys im B58. Havanna, Gambit, Charlys Tiger, Brunsviga, LOT, Tegtmeyer, weggehen konnte man sehr wohl, ab und zu kam auch mal für deutlich mehr Geld als früher eine interessante Band ins Jolly Joker oder ins Meier. Das wunderbare Nexus öffnete. Olaf – nachdem Salzmann die Indieabteilung aufgab und ihn damit auf die Straße setzte – versuchte es danach im Plattenladen Silverfile im Bültenweg.

Jedoch leider nicht für lang. Internetrecherchen förderten mir einen Online-Plattenladen in Braunschweig zutage, der dieselbe internationale und bewährte Quelle anzapfte wie Olaf, mit dem Namen The Pleasure Syndicate. Und so lernte ich Chris kennen, per Email zunächst. Nebenbei: Über die krummsten Wege hatte ich zuvor Freundschaft mit Noge geschlossen, der in Weingarten bei Ravensburg einen Plattenladen betreibt, und in dessen Rundmails tauchten auch Infos über Chris auf, und Noge meinte nur, die Szene sei bundesweit so klein, dass man sich zwangsläufig kennenlernt. Bei einem Konzert im Nexus nun sah ich einen fröhlich grinsenden Typen mit LP-Kisten an einem Tisch stehen, und auf einer der Kisten stand „The Pleasure Syndicate“. Richtig: Das war Chris, und das damit meine erste Begegnung mit ihm. In der Folge organisierte mir Chris über seine Verbindungen so manchen Tonträgerdiamanten, und da traf mich dann seine Aussage wie ein Schlag, er wolle nach Berlin gehen. Da tut sich endlich etwas in der Stadt, ich sehe eine positive Entwicklung, und dann – Berlin?

Was freute ich mich da, als Chris mir später von seinen neuen Plänen erzählte, doch in Braunschweig einen Plattenladen zu eröffnen. Ein Wagnis, das war klar, schließlich konnte niemand mehr mit der Killerpreispolitik der Elektronikketten mithalten. Doch Chris hatte ohnehin ein anderes Repertoire im Sinn, André als Mitstreiter und die Idee, sich nicht auf Schallplatten zu beschränken, sondern den Kunden auch eine Kaffeeecke einzurichten. Fantastisch: Nicht ist schöner, als wie in „High Fidelity“ mit einen Pott Kaffee in der Hand mit Schallplattenladenbetreibern über Schallplatten und alles drumherum zu plaudern, zum Beispiel über „High Fidelity“, Buch oder Film.

Ich fand die Idee so fantastisch, dass ich liebend gerne dabei geholfen hätte, sie umzusetzen, etwa, indem ich mich beim Streichen nützlich gemacht hätte. Allein, mein Arbeitgeber ließ mir nicht die Zeit. Wahrhaftig über Nacht kam mir kurz nach der Eröffnung die Idee, es wie weiland die Bohèmiens zu machen, mich also ins Café Riptide zu setzen, mir von den Gästen Geschichten erzählen zu lassen, mitzuschreiben und die Geschichten online zu veröffentlichen. Gottlob gefiel auch André und Chris die Idee.

Diese Idee fiel für mich in eine Zeit der Umbrüche, ich veränderte einiges in meinem Leben. Der Riptide-Blog war eine von vielen Neuerungen – und bis heute ist es für mich eine der besten, der wichtigsten, der umwälzendsten. Denn damit ließ ich neues Leben in mein Leben. Und Euch alle, die ihr Gäste im Riptide seid, die ihr dort arbeitet, die ihr Veranstaltungen macht, Kunst ausstellt, auflegt, auftretet, lest, Pause macht, lernt, sitzt, Euch trefft, das Wochenende einläutet, Kontakte knüpft, Platten kauft, mir die unvorstellbarsten Geschichten erzählt. Gottlob bin ich nicht nur der monatliche Chronist, sondern auch selbst der Gast, der Pause macht, liest, sitzt, sich mit Leuten trifft, das Wochenende einläutet, Platten kauft. Eine Ausstellung macht: Als wäre der Blog nicht schon Geschenk genug, gestatteten mir Chris und André 2008, im Café meine Fotografien auszustellen, unter dem Titel „Freunde kommen“. Kontakte knüpft: Viele im Riptide geschlossene Bekannt- und Freundschaften veränderten mein Leben zusätzlich; so traf ich Skapino erstmals dort, nachdem ich ihm gemailt hatte, mir gefalle der Silver Club so gut, dass ich gern mitmachen würde. Seitdem mache ich auch mit, eine weitere unsagbar bereichernd umwälzende Veränderung für mich. Gelegentliche, viel zu seltene Feierabendbiere mit Claudy Soundschwester führten dazu, dass sie mich einmal als Gast in ihre begnadete Sendung „Zimmerservice“ bei Radio Okerwelle als Gast einlud; auch das eine mächtige Erfahrung, die ich gern vertiefen würde. Das Riptide, ein Geschenk, nein: ein Füllhorn.

Ein Impulsgeber. Was hat sich nicht alles getan in der Stadt, seit André und Chris das Riptide öffneten. Im Handelsweg: Schnell hatte die kleine maurisch anmutende Passage für mich den Geist des kleinen Schanzenviertels. Nebenan gab es bereits den Comicladen und Serge mit seinem Antiquitätenladen, vor dessen Tür es sich mit Getränken aus dem Riptide vortrefflich mit ihm diskutieren lässt, möglicherweise ab sofort über seine neue Hörbuch-CD „Leseprobe 1“. Drumherum alteingesessene Kneipen, aus denen am Wochenende die Eintracht-Spielstände herüberschallen. Nach und nach kam mehr dazu, Passendes: Piou und die Einraumgalerie etwa. Über den Handelsweg hinaus: Kulturtreibende traten wieder auf Bühnen, das Riptide war längst nicht mehr allein da, ein Bedarf war geweckt, Leute kamen, ihn zu erfüllen, indem sie Orte schufen, wie die KaufBar oder das Troja, Initiativen, wie den Eiko-Verein oder das Kulturschaufenster, Programme, wie die Bumsdorfer Auslese, Read ‚em All oder Jetzt & Hier, neue Läden, wie Raute Records, den Kingking Shop, Erna & Käthe, ach!, Braunschweig blüht auf, Braunschweig ist wieder lebenswert, liebenswert, und: Man kann mitmachen, überall.

Das Riptide selbst startete am Sonntag, 16. September 2007, mit einem Raum und den Toiletten schräg gegenüber, mit einer auf Kaffee basierenden Getränkekarte und alsbald mit den ersten Veranstaltungen. Recht schnell wuchs die Karte an, um alkoholische Getränke, vegane Speisen, Skurrilitäten. Gegenüber richteten Chris und André die Rip-Lounge ein, als Raucherraum, inklusive hauseigenen Toiletten. Sie ließen mehr und mehr Kulturschaffende Kultur schaffen, veranstalteten Lesebühnen, gründeten mit dem vom Filmfest wiedereröffneten Universum-Kino die Film- und Partyreihe Sound On Screen. Deren neueste Errungenschaft ist übrigens ein eigener Blog, www.sound-on-screen.de. Der Schwerpunkt verlagerte sich: Hieß es zunächst noch unter Braunschweigern, ein neuer Plattenladen habe in der Stadt eröffnet, hörte man bald, es gebe ein neues Café. Leute kommen von weither, weil das Riptide vegane Speisen anbietet. Und es hört nicht auf.

Und das ist nur ein Ausschnitt. Braunschweig ist viel mehr, das Riptide ist viel mehr. Ihr wisst das, und ihr tragt dazu bei. Macht weiter so, nehmt die Angebote wahr, steuert eigene dazu bei.

Allzeit eine Handbreit Wasser unterm Kiel, André und Chris!

Matze Bosenick
www.krautnick.de

1 Kommentare

  1. Moin Matze! Schöner Text, aber mit einem Fehler! Silverfile war nicht mein Laden! Ich war nur angestellt! Der Online Shop „Static Silence“ war meiner. Als Besitzer von Silverfile genannt zu werden ist im Nachhinein eher Antiwerbung wenn man (oder ich) drüber nachdenkt, wie die „Geschäftsleitung“ den Laden geführt hat! Gruß Olaf

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