Samstag, 13. Oktober
Meine Erkältung klingt allmählich ab, Zeit, mal wieder unter Leute zu kommen, also ins Riptide zu gehen. Wohin auch sonst, zur Genesung. Es ist ja mal ganz nett, seine Zeit ausschließlich in Betten und auf Sofas zu verbringen und Hörspiele und Musik zu hören, aber es wächst bei mir doch bald der Bedarf nach echten Menschen. Deshalb komme ich an diesem sonnenhellen Oktobertag auch nicht in den üblichen fünf Minuten bis in mein zweites Wohnzimmer im Handelsweg, sondern brauche eine Stunde; der BIBS-Stand auf dem Kohlmarkt ist ein schöner Treffpunkt und die Zahl der zu diskutierenden Themen groß. Ein neues soziokulturelles Zentrum in Braunschweig ist nur eines von vielen, aber eines für viele. Die Sonne lacht, wir auch, trotz allem, wegen allem, und die Zahl der Lachenden wächst außerdem. Nun aber mal los.
Hinter dem Tunnel, der durch Möbel Sander in den Handelsweg führt, sitzt Serge mit drei Gästen vor seinem Laden. Das sieht wieder nach den lehrreichen und konstruktiv-streitbaren Gesprächen aus, die sich vor Serges Tür immerzu von allein einzustellen scheinen. Man kann nicht anders als mit ihm philosophieren, und er kann nicht anders als Haltung zeigen, inzwischen ja auch für jeden greifbar: Vor wenigen Wochen veröffentlichte Serge seinen Hörbuch-Buch-Hybriden „Leseprobe 1“, selbstverfasst und selbstgesprochen, überraschend offen und autobiografisch, wie er es als Person inzwischen ja auch ist. Vom Riptide-Nachbarn, über den nur wenig und doch mehr bekannt war als von ihm selbst, zum Mitgestalter in allen Gassen. „Irgendwas mit Theater“ habe er früher gemacht, das wusste man über ihn, inzwischen übernimmt er wieder mal Regie, etwa fürs Theater Fanferlüsch, hält im Rahmen der Kulturnacht in der Galerie auf Zeit eine Lesung ab und präsentiert eben seine „Leseprobe“ in CD- und Buchform. Und es soll mehr werden, ein ganzes Buch, mindestens, und Serge fragt mich im Vorbeiflug nach Verlagskontakten. Netzwerke schaffen, das ist auch eine neue Aufgabe, die er sich selbst stellte und mit der er den zurzeit in der Stadt umtriebigen Zeitgeist trifft, also auf offene Ohren und Türen stößt, insbesondere im kulturellen Bereich. Das Riptide als Nachbar ist da kein schlechter Ort, um Netzwerke aufzutun. Ebenso der übernächste Nachbar: Als erster Verlagskontakt-Hersteller fällt mir Stefan vom Kingking Shop ein, der außerdem einer der Betreiber der Einraumgalerie im Handelsweg ist.
Draußensitzen ist nicht nur für Serge attraktiv, auch die Riptide-Gäste drängen sich im Achteck und betreiben fröhliche Gesprächsrunden. Mit einer abklingenden Erkältung mag ich aber noch nicht draußen sitzen, ich gehe ins Café. Auch dort ist viel los, Franzi und Jasmin haben im besten Sinne alle Hände voll zu tun. André auch, er gehört eigentlich vor lauter lauernder Aufgaben ins Büro an den PC, denn heute Abend ist noch was los im Café: „Das DJ-Team von Indie.Disko.Gehn legt auf.“ Die kenne ich, zumindest als Logo aus Wolfsburg, dort etablierten sie die Party im Sauna-Klub. Fürs Riptide machen sich die Jungs wohl ordentlich Arbeit: „Sie bringen ihre Lightshow an, die Lounge wird zum Kino umgebaut“, kündigt André respektvoll an, während er mir einen meine Erkältung hoffentlich weiter lindernden Kafka zubereitet. Und: „Wir wollen das Rondell beleuchten, je nach Wetterlage.“
Diese ist dann auch erstmal die letzte Veranstaltung einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die im Riptide jetzt anstanden, ausgehend von den Festivitäten zum fünfjährigen Bestehen des Etablissements. Was da nicht alles los war. Und wie oft ich es glücklich schaffte, dabei zu sein. Täglich hatten Chris und André eine andere Aktion im Angebot, mit der sie uns köderten, was gar nicht nötig war, wir wären ja auch so gekommen. Bei der Losaktion gewann ich eine Tasse Kaffee, die habe ganz vergessen einzulösen. An dem Tag war ich eigentlich nur kurz da, um Grüße und Gratulationen zu entrichten, aber Jasmin verführte mich zum Loskauf und gewann selbst einen der silbrigglänzenden Riptide-Buttons, wie ich ihn ohnehin seit Jahren an der Jacke trage, in Eintracht mit Buttons von Silver Club und Kingking Shop. Veganes Grillen im Achteck stand einmal auf dem Programm, und davon kostete ich, als ich mich mit Claudi Soundschwester zu einem unserer unregelmäßigen Feierabendbiere traf. Bei uns am Tisch saß Bernd, seinerzeit einer der vier Initiatoren des Schlucklum in Lucklum, und der wusste Geschichten zu erzählen, etwa die, dass es Gäste gab, die Freitagnachmittag vor dem Schlucklum ihr Zelt auf- und es Sonntagmittag wieder abbauten. Und im Zuge des Geburtstags ließen Chris und André T-Shirts anfertigen, mit dem Logo einer weltbekannten Punkrockgruppe, deren Name dieselbe Anzahl Buchstaben trägt wie „Riptide“ und deren kreisrundes Logo die Cafébetrieber für ihre Zwecke dahingehend umgestalteten, dass sie die Namen der Musiker austauschten gegen Synonyme, die sie sich selbst in ihren Rundmails immer geben: Rabea, Rudi, Renate und Rolf.
Die Fünfjahresfeiern waren aber nicht alles, wie André berichtet. Vor einer Woche spielten die Driftwood Fairytales aus Berlin im Riptide. Denen, die die Band nicht kennen, erklärt es André immer so: „Bruce Springsteen ein bisschen schneller gespielt.“ In Erinnerung an das Konzert leuchten Andrés Augen: „Das war ein schöner Abend, 80 Leute, das Publikum hatte Spaß, die Band hatte Spaß.“ Das nächste Konzert gab es vorgestern, als Nachprogramm zum Film über Michel Petrucciani im Universum, in der gemeinsamen Reihe Sound On Screen, als das Tiqui Taca Trio im Café spielte, eine Jazz-Band. „Da war ein anderes Publikum hier“, sagt André, und auch das hatte Spaß im Café. Nach „Blue Note: The Story Of Modern Jazz“ vor genau einem Jahr war das schon das zweite Jazz-Thema im Riptide. Dieses Mal begleitet aber keine extrem stylishe Jazzschallplattencoverausstellung den Film, da im Zuge der Geburtstagsfeier zurzeit stimmungsvolle Schwarzweißfotos von Timo Hoheisel aus dem Caféalltag erzählen. Eine Meta-Ausstellung also.
Zu den Sound-On-Screen-Filmen habe ich es noch nie geschafft, höchstens mal zu den dazugehörigen Partys, und das finde ich mindestens bedauerlich. Immerhin, Beate vom Filmfest verriet mir, dass es womöglich im Januar einen guten Grund für mich gibt, beim Chef mal einen frühen Feierabend einzufordern. Noch ist nichts spruchreif, bestätigt auch André, aber die Hoffnung ist groß, dass Sound On Screen dann einen meiner Filmwünsche erfüllt. Das Filmfest selbst beginnt auch in wenigen Wochen, große Freude, jedoch fällt es nahezu komplett in meine Arbeitszeit, was wahrscheinlich bedeutet, dass ich so gut wie keinen Film zu sehen bekomme, große Missstimmung. Noch gibt es kein Programm, aber ich hoffe zum Beispiel auf „The Angel’s Share“, den neuen Film vom Ken Loach, und dass ich dafür dann auch Zeit finde.
Immerhin, ins Kino schaffte ich es tatsächlich mal wieder zweimal, beide Male in Begleitung von Micha, den ich vor fünf Jahren und einem Monat am Eröffnungstag des Café Riptide am Tresen kennenlernte. Kürzlich gehörte ich einmal dem Philosophenkreis bei Serge an, als Micha im Vorbeigehen auf meine Schulter hieb und rief: „Dich brauche ich.“ Er habe sich außer mir niemanden vorstellen können, der Spaß an „Holy Motors“ von Leos Carax haben könnte. Wie Recht er hatte: Den Film wollte ich sehen. Wir verabredeten uns gleich für den folgenden Abend am Universum. Und trafen uns vorher schon am Nachmittag wieder zufällig im Riptide, wo ich eigentlich mit Steffen verabredet war, der mit seiner Band Dissouled in Wolfsburg regelmäßig Grindcore-Festivals veranstaltet, und zwar mit Bands, die in der Szene international zu den Helden gehören und die dafür sorgen, dass Wolfsburg seitdem auf der Grindcore-Europakarte fettgedruckt eingetragen ist. Dissouled selbst grooven wie Sau und arbeiten zurzeit an ihrem neuen Album. Fossi machte unsere Tischrunde kurzfristig zum Quartett, wir sprachen natürlich auch über Filme. Als ich dann später meine Getränkerechnung begleichen wollte, überraschten mich Chris und André mit der Frage, ob ich „die hier“ schon hätte, und zeigten mir die an dem Tag niegelnagelneue Dreifach-LP von den Drei Fragezeichen, „…und die Geisterlampe“, mit zwölf Kurzgeschichten. Hatte ich noch nicht und schlug sofort dankbar zu. Die Geschichten sind lediglich okay und damit immerhin besser als die meisten neuen Langhörspiele, aber es ist einfach toll, die Drei Fragezeichen von Vinyl zu hören. An „Holy Motors“ jedenfalls hatten Micha und ich gleichermaßen mehr Spaß im Nachhinein als währenddessen: Er ist bedrückend finster, aber einfallsreich und bemerkenswert wie kaum ein anderer Film. Auch über den anderen gemeinsam gesehenen Film sind wir einer Meinung: „Prometheus“ hat eindrucksvolle Bilder, aber eine mies unlogische Handlung, über die wir uns mächtig echauffieren können, so viel Geld, wie in dem Machwerk schließlich steckt.
Und à propos Jazz, vergangene Woche holte ich mit die neue LP von Neneh Cherry im Riptide ab. Kein „Buffalo Stance“, obwohl das zu den guten Rapstücken der späten 80er gehörte und Neneh Cherry auch mit „Manchild“ und später „Woman“ ihre Stimme bestens zur Geltung brachte. Man stelle sich diese nun im Kontext mit der Musik des Free-Jazz-Trios The Thing vor, Schlagzeug, Kontrabass und Saxophon als Basis für Coverversionen von Trip- und Hip-Hop-Stücken sowie „Dream Baby Dream“ von Suicide und „Dirt“ von The Stooges. Funktioniert tadellos, The Cherry Thing, die Stimme gibt Struktur, und nächsten Monat gibt es die Remix-LP dazu. Tja: Eines der spannendsten Alben des Jahres kommt von Neneh Cherry, man glaubt es kaum.
Jedenfalls ist die große Anzahl an Aktivitäten der jüngeren Zeit der Grund, weshalb sich das Riptide in der am Montag beginnenden Plattenladenwoche zurückhält. Nicht jedoch mit den Specials, die es in den teilnehmenden Plattenläden gibt, davon finden sicherlich auch einige ihren Weg nach Braunschweig. Auf der Internetseite des Rolling-Stone-Magazins wurde das Riptide in diesem Zusammenhang erneut präsentiert, berichtet André und kündigt außerdem an: „Wir sind demnächst auf NDR Kultur, dort werden wir vorgestellt.“
Meine leere Kafka-Tasse stelle ich neben das neue Braunschweiger Kneipen-Quartett, in dem auch das Riptide aufgeführt ist. Im Kingking Shop ließen mich Stefan und Pott einen Blick hineinwerfen, André warf noch keinen, sagt er. Gleich die erste Karte ist die mit dem Riptide, Karte A1. „Bei den Autoquartetts war das immer der Ferrari Testarossa“, sagt André. „Wer weiß, was das zu bedeuten hat.“
Matze Bosenick
www.krautnick.de
Das Cafe Riptide ist eine Institution in der Kulturszene Braunschweigs. Dies sind die echten Szenekneipen, die zum Gastronomie und hier natürlich auch zum künstlerischen Flair einer Stadt beitragen. Braunschweig steht ja nicht gerade im Ruf in den kommenden Jahren den Titel „ Kulturhauptstadt Europas“ zu tragen, nichtsdestoweniger blüht auch hier das kulturelle Leben. Und ein Teil davon trägt das Cafe Riptide. Man wünscht sich mehr von solchen Etablissements, die nicht nur eine Karte haben und Getränke anbieten, sondern auch Harmonie und Geselligkeit vermitteln.