#126 Man reiche die Erbsen

Dienstag, 17. April 2018

Diese Natur auch immer! Vor kaum zwei Wochen noch schippten wir Schnee, heute kann man durch die Bäume vor lauter frischem Grün kaum noch blicken. Eben noch im Winterpelz gefroren, sind jetzt sämtliche Übergangsjacken eingemottet. War Draußensein noch kürzlich eine Drohung, will man sich jetzt kaum noch in geschlossenen Räumen aufhalten.

Dies ist nicht der einzige Grund, warum ich jetzt am frühen Nachmittag nicht ins Café Riptide gehe: Davor, im Achteck unter dem Sonnensegel, sitzen Uwe und Michael, schenken sich Club Mate in ihre Kölschstangen und genießen den Frühling. Da will ich mittun. André nimmt das Tablett, mit dem er die Getränke brachte, vom Tisch und fragt, ob ich mich der Runde anschließen will: „Hefe?“ Nein, ich dachte an Tullamore Dew, natürlich. Quatsch. Ein Milchkaffee soll es sein. André begibt sich ins Café und trifft im Türrahmen auf Chris, der ein Tablett trägt, auf dem er hochkant in Holzleisten aufgestellte Singles transportiert. Wir staunen, Chris enthüllt: Es handelt sich um Reservierungsschilder, heute hat eine Geburtstagsrunde Teile der Rip-Lounge gebucht.

Bei Geburtstagen oder anderen privaten Festivitäten auflegen ist für Uwe und mich ein undankbares Unterfangen. Die Gäste sind nicht wegen der Musik da und man selbst wird schnell zur eigengeschmacksbefreiten Jukebox degradiert. Das ist für uns auch aus der Gastperspektive häufig undankbar, bei solchen Veranstaltungen von einem Profiunterhalter beschallt zu werden. Kein Spaß etwa für die Metal-Fraktion, wenn der Konservenkasper auf Helene Fischer gebürstet ist und der Rest der Belegschaft das feiert. Solch eine Gästekombination sei nun mal schwierig, gibt Michael zu bedenken, da sei es nicht geholfen, statt Metal oder Disco eine Mitte suchen zu wollen, und lässt die Namen Felix Jaehn und Robin Schulz fallen. Die mir nichts sagen. Aktuelle DJs seien dies, „Fahrstuhlmusik“, so Michael. „Purple Schulz kenn ich“, sagt Uwe, und mir fällt Olli Schulz ein. „Olli Schulz müsste mal in Braunschweig spielen“, findet Michael. Hat er schon, im Vorprogramm von Wir sind Helden, seinerzeit im Jolly Joker. „Das muss aber schon lang her sein“, mutmaßt Michael und liegt richtig: Das war 2003, vor 15 Jahren, als noch niemand Olli Schulz kannte und er mit dem Hund Marie unterwegs war. Aber Michael will Olli Schulz in der heutigen Variante erleben. Ach ja, Braunschweig und seine Konzertbooker.

Dabei zeigt das alle zwei Jahre stattfindende Festival Theaterformen, dass man sehr wohl auch für Braunschweig geschmackssicher alternative Livemusik buchen kann. Das kostenlose Open-Air-Rahmenprogramm des Festivals war bislang immer respektabel bestückt. Die Fehlfarben sind für dieses Jahr angekündigt, leider kann ich an dem Tag nicht. „Ich auch nicht“, bedauert Michael. Uwe kann: „Wahrscheinlich ja, wenn‘s nix kostet und draußen ist.“

Keck grinsend steht Chris in der Cafétür, mit einer Schnur in der Hand, an die bunte Luftballons geknotet sind, auf denen mit der Hand geschrieben eine 15 steht. „So, wo ist dein Fahrrad?“, fragt er grinsend. Ähm, im Hinterhof meiner alten Wohnung rottet es vor sich hin. Kein Weg, den Chris auf sich nehmen will, also knotet er die Leine über der Rip-Lounge fest. Ein fünfzehnter Geburtstag also? „Ja, und es war ihr größter Wunsch, das im Riptide zu feiern“, erzählt Chris während seiner Überkopfarbeit. Vermutlich, weil es vom ersten Tag an ihr Lieblingscafé ist. Chris nickt: „Von Geburt an.“

Im Handelsweg ist es überraschend ruhig. Stefans Comiculture und Marions Fifty-Fifty haben Zulauf, in der Einraumgalerie findet Kreativberatung statt, alle anderen Anrainer haben noch nicht geöffnet. Michael und Uwe winken Nick zu, der auf dem Weg in die Einraumgalerie ist, sich kreativ betraten lassen. „Seid ihr nachher noch hier?“, fragt er die beiden, die das noch nicht abschätzen können, also verabreden sich die drei aufs Beliebige für später und Nick tritt in die Galerie. Michael blickt auf das verriegelte Café Drei und fragt, ob da was läuft.

Tut es, man sieht regelmäßig Leute auf den Bänken des früheren Bierteufels sitzen. Café Drei heißt es, weil es ursprünglich drei Leute gründeten, von denen heute nur noch Jessy übrig ist. Sie will das aber nicht dauerhaft allein machen und kündigte Zuwachs in der Chefetage an, als Henrik und ich auf Nexus-Indie-Ü30-Flyerverteiletour durch Braunschweig auch bei ihr einkehrten. Es ist gemütlich geworden, mit vielen bemerkenswerten Einrichtungsideen und einer ansprechenden Karte. Mutig indes, ein veganes Café gegenüber des veganen Cafés Riptide zu eröffnen. Ich spreche Chris darauf an, und er sagt: „Wir sind Nachbarn, wir sind nett zueinander, und wenn sie neue Gäste in den Handelsweg holen, ist das gut.“ Im Moment beobachte ich noch hauptsächlich Riptide-Gäste, die das Café Drei mal ausprobieren; das ist vermutlich für beide Cafés nicht dauerhaft ausreichend.

Dennoch begrüße ich es sehr, dass zurzeit in Braunschweig sehr viele Cafés eröffnen, die sich nicht mehr an das ungemütliche Szene-Diktat des rechteckigen Designs halten, sondern gemütlich ausgestattet sind und von freundlichen, unkomplizierten Menschen geleitet werden. Das Kiwi-Café in der Friedrich-Wilhelm-Straße gibt es schon etwas länger, das MokkaBär am Frankfurter Platz erst ab Samstag, den Schaumschläger hinter der Alten Waage habe ich zufällig beim Flyerverteilen entdeckt, in die Innenstadt zwängte sich das Café Atelier, und Michael zählt noch das Café Bruns in der Südstraße auf. „Da war ich schon zwei, drei Mal“, sagt Uwe, und mir geht es genau so.

Einmal hab ich mich genauer erkundigt. Alex, Pastor der Friedenskirche, gab mir Auskunft: Das Café Bruns ist nicht nach einem Nachnamen, sondern nach Brunswiek benannt und wird von einem eigens gegründeten Verein geführt, dem lauter Leute angehören, die eigentlich gar keine Gastronomieerfahrungen, aber jede Menge Leidenschaft haben. „Es soll ein Kultur-Treff-Ort werden“, sagte Alex und berichtete von spontan aus dem Publikum erfolgten Poesielesungen, die es künftig regelmäßig freitags dort geben soll. So etwas Ähnliches kündigt das MokkaBär an seiner Fensterscheibe auch an, nur mit Konzerten. Es tut sich was in Braunschweig. „Dafür gibt‘s das englische Café nicht mehr, hinterm Kleinen Haus“, bedauert Michael. Das Café Britannia sei vorher vom Steinweg umgezogen gewesen und habe leckere Scones feilgeboten. „Vielleicht ist es wieder umgezogen“, spricht Uwe ihm Mut zu.

Ein denkwürdiges Café entdeckten Andrea und ich kürzlich in Leeuwarden, das in diesem Jahr zusammen mit Valetta Kulturhauptstadt Europas ist und im niederländischen Friesland liegt. Ungefähr so groß wie Wolfsburg, listet es eine schier unüberblickbare Zahl an Plattenläden auf – und eine Metal-Kneipe namens Mukkes. Ostersonntag, wir traten um 21 Uhr zur Ladenöffnung ein und fanden uns in einem angenehm schummrigen, länglichen Raum mitten in der Innenstadt wieder, an dessen Wände Tausende Metal-Sticker prangten und ein Ortsschild von Roskilde. Der Barkeeper war um die 30 Jahre alt und mit hellen Dreads beknotet. Fröhlich pfoff er beim Kneipenvorbereiten sämtliche Melodien mit, die aus der Anlange quollen, und dabei handelte es sich zuvorderst um Death-Metal-Stücke, bei denen Melodien grundsätzlich kaum auszumachen waren, er beim genauen Hinhören aber zielgenau die Bassläufe erwischte. So derwischte er durch die Bar, illuminierte Kerzen für die Tische, schaltete die bunten Lampen in der auch als Livebühne genutzten Raucherlounge ein und verteilte in exakter Reihenfolge Bierdeckel auf der Theke. Mit Wischmopp und Besen jonglierte er zwischendurch auch noch. Und pfiff selbst die zermörteltsten Metalbrecher mit. Fehlerfrei. Wir staunten. Und bestellten Fassbier. Leider kein lokales, wie wir hofften, sondern – Bitburger. Also „Bitbörcher“, wie der Barkeeper sagte, mit einem R, das beinahe wie ein D klang, und einem CH tief aus der Kehle. Zumindest Andrea trank das, ich als Fahrer erlebte den Genuss des mehr oder weniger lokalen Amstel 0.0. Fröhlich pfiff der Barmann weiter, dieses Mal irischen Folk-Metal, den er bei Spotify auswählte, während er die Facebookseite der Kneipe aktualisierte. Aus der kleinen zweiten Raucherkammer mit dem Spielautomaten ließ ein einsamer Rastamann Grasschwaden zu uns herüberwehen.

So etwas passiert hier im Achteck selbstverständlich nicht, aber Michael entdeckt passend dazu die Ankündigung des nächsten Sound-On-Screen-Films an der Wand, „Space Is The Place“ von Sun Ra, der seinerzeit bei den Filmarbeiten sicherlich nicht ganz drogenfrei zu Werke ging. Michael, Uwe und ich sahen in dieser Musikfilmreihe von Universum-Kino und Café Riptide auch den Laibach-Film „Liberation Day“ und sind gleichermaßen begeistert davon. „Ich hab meiner Tochter etwas von Laibach vorgespielt, und sie sagte, das klingt wie Rammstein“, erzählt Michael kopfschüttelnd. Seine Tochter ist 20 Jahre alt. Er grinst, als er seine Replik darauf zitiert: „Nein, umgekehrt!“ Das wiederum durfte im Film nicht gesagt werden, darauf wiesen Interviewte und Abspann hin. Zumindest ist das unsere Mutmaßung: „Ich gehe davon aus, dass es Rammstein waren“, sagt Uwe.

Aus der Rip-Lounge dringen Geburtstagslieder. Wie wir so im Schatten die Sonne genießen, kommt mir gar nicht die Idee von Alltag, doch Michaels Mittagspause neigt sich dem Ende und er sich zum Gehen. Seinen Platz nimmt Nick ein, der aus der Galerie kommt. Dort gab es Beratungen für Freiberufler in der Kreativwirtschaft, mit der Nick bereits vor Jahren einige Erfahrungen machte: „Ich wollte wissen, ob sich etwas geändert hat“, erläutert er seine Motivation, an der Beratung teilgenommen zu haben. Nick, Uwe und ich tauchen tief ab im weiten und nicht immer zufriedenstellenden Themenfeld Braunschweiger Frei- und Subkultur.

Nick muss weiter, ich bekomme Hunger, Uwe hat schon gegessen, mit Michael, im Asia-Bistro, Katreppeln. Da habe ich mich auch schon einige Male gern ernährt. „Die Preise sind überschaubar, die Portionen nicht“, schwärmt Uwe und deutet mit einer Handbewegung einen Berg an, der sich auf dem Tisch türmt. „Erst nach einer halben Stunde essen kann ich sehen, wer mein Gegenüber ist – das mag ich.“ Auch mag ich Nem Grill, das vietnamesische Restaurant in der Innenstadt, und Uwe nickt.

Bevor ich dorthin gehe, informiere ich mich noch bei Chris über den Record Store Day am Samstag, die fröhliche exklusive Plattenschlacht der freien Händler. „Wir machen um 12 Uhr auf“, kündigt Chris an. Seit zehn oder elf Jahren nimmt das Riptide daran teil: „Seit den Anfangstagen von RSD Deutschland sind wir dabei“, so Chris. „Es kommen viele spannende Sachen raus“, sagt er und macht mir den Mund wässrig. Aber auch vieles, das nicht so spannend ist und das das Riptide deshalb schon mal gar nicht bestellt hat. Die ersten Lieferungen trafen heute bereits ein, Chris zeigt mir eine 7“ von Abba mit gelben Sprengseln auf transparentem Grund und ein Reprint von „Oh Carolina“ von Shaggy. „Das wird 25“, sagt Chris und schüttelt den Kopf über die verflogene Zeit. „Schon so alt.“

Und dann ist auch bald die Fußball-WM der Männer, keine zwei Monate mehr bis zum Anpfiff. „Wir zeigen alle Spiele draußen“, sagt Chris. „Wir freuen uns auf den Sommer und aufs Draußensitzen.“ Doch ist das für ihn noch sehr weit weg: „Mich hat das Fußballfieber noch nicht gepackt.“

Dafür packe ich die neue LP von Maceo Parker ein, „It‘s All About Love“, mit einem Bonus-Track auf Vinyl. Hab ich gar nicht mitbekommen, dass der ein neues Album hat. Seit 1994 höre und sammle ich den Saxophonisten, zumindest seine Musik, und das, obwohl ich ihn damals, mit 22, zunächst überhaupt nicht mochte. Seinerzeit war ich mehr als einmal pro Woche im Kino und sah in Broadway, Lupe und Scala II immerzu die Werbung für „Maceo“, einen Konzertfilm von Parker. Jazz, wie ich irrtümlich dachte, denn Maceo, früherer Saxophonist von James Brown, macht Funk, zumindest zu 98 Prozent, war in jenen Tagen noch nicht die Musik meiner Wahl. Bis ich den Trailer so oft sah, dass ich unbedingt den Soundtrack haben wollte. Fünf Jahre später trat Maceo Parker im FBZ auf, damals hielt ich den heute 75-Jährigen schon für alt, jaja, die Jugend, und mit einer Horde weiterer alter Männer machte er satte drei Stunden lang Party, Party, Party, bis der Schweiß uns in die Nacht spülte. Der einzige weiße Musiker sah aus wie Willie Tanner von Alf und der einzige Jugendlichge war Maceos Sohn Corey, der gelegentlich zum Funk rappte. Ein furioses Konzert! Auf dem neuen Album begleitet ihn nun die WDR Bigband, ich bin gespannt. Und erstmal hungrig. Wo mag ich mich nur sättigen – vielleicht in, haha, naheliegendes Wortspiel, Nem Grill?

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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