#127 Marlene im Fleischwolf

Dienstag, 22. Mai 2018

„Was fällt dir an der Musik auf“, fragt mich Chris, als ich das Café Riptide betrete. An diesem sonnigen Nach-Pfingst-Tag sitzen die Gäste im beschirmten Achteck draußen, im Innern bin ich der einzige. Noch. Chris hantiert an Bestellungen, André werkelt in der Küche. Ich stelle mich an die Theke und lausche. Erst Postpunk, dann Jazz – muss mir dieser Mix etwas sagen? Doch Chris meint nicht die Lieder, sondern die Musik. Ich verstehe nicht. Er öffnet Limonadeflaschen, lässt aufgeschäumte Milch in Kaffeetassen strömen und bedeutet mir, mich im Raum zu bewegen. Eine Ahnung beschleicht mich. Also bewege ich mich im Raum und nehme zweierlei wahr: Der Sound bewegt sich mit und in den Ecken erblicke ich den Grund dafür, neu angebrachte Lautsprecher nämlich. „Die haben wir gestern installiert“, berichtet Chris. „Es klingt anders, und es ist gut, dass wir als Musikladen und Musikfans endlich eine Anlage haben.“ Die sei ebenfalls neu und inklusive Boxen ein Geschenk zum Zehnjährigen des Riptide im vergangenen September gewesen. „Die Boxen sind richtig gut, und du hörst es“, schwärmt Chris. Vier Stück sind im Café verteilt: „Das ist Dolby Surround fast.“

Außerdem lässt Chris mich raten, was sich im Achteck und in der Riplounge gegenüber verändert hat. Mit ihm trete ich vor die Tür, er zum Verteilen der Bestellungen, ich zum verspäteten Ostereiersuchen. Schön bunt, lebendig, gut besucht und hell von der Sonne erleuchtet ist der Bereich unter dem Segeltuch. Mit dunklen Flecken: Die Tische sind frisch gestrichen. „Schwarz“, bestätigt Chris nach seiner Rückkehr ins Café meine Beobachtung. „Passend zu den Fritz-Bänken, die wir letztes Jahr installiert haben.“

Und schon bin ich nicht mehr allein. Rätselhaftes spielt sich ab: Zunächst stapelt Ulli einige Kartons auf der erstbesten Bank neben der Theke ab, tritt mit Chris in einen für mich nicht zu entschlüsselnden Dialog und kündigt im Wiederverlassen des Cafés die Ankunft von Ralf an. So geschieht es, und Ralf bringt Emma mit, einen kniehohen straßenblonden friedlichen Hund. Von ihm, also Ralf, möchte ich nun erfahren, was hier passiert, doch er verweist auf Ulli, der in diesem Moment zurückkehrt. „Wir haben einen Kunden, die Firma Riva, die diese Boxen macht“, hebt Ulli an und entfernt die Verpackung eines der gemeinten Bluetooth-Lautsprecher. „Chris hat das Ding in Benutzung und sagt, was er davon hält und wie geil er das findet.“ Dieser Bericht sei schon fertig, „wir müssen nur die entsprechenden Fotos dafür machen“. Ulli ist Inhaber der Braunschweiger PR-Agentur Profil Marketing, und „Ralle“, wie er Ralf nennt, ist als Fotograf dabei, aber nicht angestellt, „bin Freelancer“, sagt er, der unter anderem auch Musik fotografiert.

Weitere Erklärungen liefert mir Chris. Er hat einen Bericht darüber geschrieben, wie er diese Box nutzt, als DJ und als Musikhörer überhaupt, und schwärmt: „Das ist eine besondere Box.“ Gründer der Firma Riva ist nämlich Rikki Farr, und der ist einer von denen, die 1970 das Isle Of Wight Festival ins Leben riefen, und ist seitdem mit den Größen der Musikgeschichte befreundet, etwa Bob Dylan, sowie Rod Stewart und Pink Floyd, die Ulli hinzufügt. Chris kehrt zur Box zurück: „Man merkt den Unterschied“, sagt er, und erzählt, dass Farrs Motivation gewesen sei, dass er es nicht habe hinnehmen können, dass digitale Musik so schlecht klang. Entsprechend ausgefuchst sei die Technik in der Box, Ulli führt den Begriff „Trillium“ an, unter dem sich eine Vielzahl an Servern in der Box summiere, die es ermöglichen, dass das kleine Gerät dennoch beinahe Stereosound anbieten könne. „Genau“, pflicht Chris bei, „fast Surround, mit Lautsprechern auf drei von vier Seiten.“

Ab jetzt stört jeder Neugierige, Ulli und Ralf haben ein enges Zeitfenster und Chris hat noch Gäste zu bedienen. Ralf baut seine Dreibeine überall dort auf, wo er die Box bestens in Szene setzen kann, und Ulli assistiert ihm dabei. Emma streunt derweil kurz neugierig herum und lässt sich dann immer dort nieder, wo sie niemandem im Wege ist. Niclas, der draußen sitzt, kommt zum Kaffeebestellen herein. Chris kredenzt den Kaffee und legt noch einen Keks dazu, da muss er schon Technikfragen beantworten: „Wie knipst man die Lampen auf den Tischen ein?“, will Ulli wissen. Chris erklärt ihm die kabellosen LED-Lichter, während er Niclas den Kaffee aushändigt. Der staunt: „Das Leben ist … kompliziert.“ Er überlegt kurz und ergänzt: „Offensichtlich.“ Ich verlasse mit ihm das Café und trete unter das Segeltuch.

An dem Fenster links vom Eingang, wenn man vor ihm steht, hantieren Julia, Misa und Max herum: Sie pusten orangefarbene Luftballons auf, wickeln Filmstreifen um das Schutzgitter und bekleben das Glas mit orangefarbener Folie. Auf den Luftballons entziffere ich einen weißen Schriftzug: „Selbstfilmfest“, es handelt sich also um das Team von Durchgedreht24. Das bestätigt Julia: „Wir haben eine Kooperation mit dem Riptide, es macht Werbung für uns, wir dekorieren ein Schaufenster und es gibt Turmgeist, den verkaufen sie werbemäßig zwei Wochen lang für uns.“ Dabei handelt es sich um einen Schnaps, der ebenfalls orangefarben ist. Sie erklärt mir die Hintergründe zum Selbstfilmfest: „Das findet vom 8. bis 10. Juni statt, man dreht in 24 Stunden einen Fünf-Minuten-Kurzfilm, in dem man drei aus zwölf Begriffen einarbeiten muss und den man nicht schneiden darf.“ Auftakt ist am 8. um 20 Uhr vor der Mensa-Wiese der TU, „genau 24 Stunden später, am Samstag, ist dann die Abgabe“, sagt Julia. „Am Sonntag gibt‘s das Screening von allen Filmen ab 9 Uhr im Roten Saal und am Sonntagabend ab 21 Uhr im C1 werden die Gewinner gekürt.“ Anmelden kann man sich „bis kurz vorher eigentlich“, so Julia, auf der Internetseite durchgedreht24.de, „ganz einfach“. Die Folie bringe Orange ins Riptide, betont sie, und stellt fest: „Obwohl, das Riptide hat ja auch Orange, dann also mehr Orange.“ Die Windlicht-Papiertüten, die auf die Tische gestellt werden sollen, fügt Misa hinzu: „Die sollen noch mehr Interesse wecken als unsere Tischkarten.“

Der Schulterschluss mit dem Riptide kommt für das Team nicht allein aus werbewirksamen Gründen: „Ich finde das Riptide super“, schwärmt Misa, „ich bin gern hier, wie viele Studierende.“ Auch die Weihnachtsfeier hatten „wir“ hier, so Misa, und erläutert, dass es sich bei dem Team um einen Verein handelt, „wir machen alles ehrenamtlich“. Die Zahl der Mitglieder hat Julia im Kopf: „Genau 23.“ Seit über 15 Jahren gibt es den Verein. Misa fällt ein, dass sie schon zwei von vier Jurymitgliedern benennen können, und Julia nennt sie: Schauspielerin Michaela Schaffrath und Regisseur Peter Timm. Prominente Namen also. „Zwei werden noch über soziale Medien verkündet“, sagt Misa. „Sie stehen schon fest, wir machen‘s nur ein bisschen spannend.“ Sie hat es in der Hand, denn Misa ist die Pressesprecherin des Vereins. Und Julia die Vorsitzende. Max hingegen: „Ich gehöre nicht dazu, ich mache aber mit – ich hab Bock drauf.“ Misa insistiert: „Als Teilnehmer gehört er dazu.“ Und Max stellt fest: „Wir waren das erste Team, das sich angemeldet hat.“ Im vergangenen Jahr nahmen 33 oder 34 Teams teil, das weiß Julia nicht mehr so genau, aber das Limit liegt bei 50.

Max und Misa pressen ihre Lungenluft in Latex, Julia wickelt weiter Filmstreifen ums Gitter: „Das ist ein alter Trailer von uns.“ Und den gibt‘s inzwischen längst auch bei Youtube zu sehen, sagt Misa, wieder zu Atem gekommen. Eines ist dem Team noch wichtig: Der Hauptpreis beträgt 1000 Euro. „Und die Pokale sind Fleischwölfe“, schließt Julia. „Weil: durchgedreht.“

Im Café unterhalten sich Ulli und Chris über das Riptide, also das Café und das Label. Dabei hat Ulli eine Information parat, die mich aufhorchen lässt: „Ralf und ich haben mal zusammen Musik gemacht.“ Und zwar zu NDW-Zeiten unter dem Namen Clit. Wie unanständig! Ulli grinst: „Das wussten wir damals nicht, es waren die Siebziger-Jahre, der Name sollte kurz, prägnant und leicht zu behalten sein – das war‘s dann.“ Erst mit dem ersten Plattenvertrag kamen die Leute auf die Band zu, so Ulli: „Sie sagten: ‚Äh, das ist aber was ganz Übles.‘“ Zu spät, zwei LPs gibt es von Clit, dazu diverse Singles, und ein Lied, das zu NDW-Zeiten offenbar einige Bekanntheit erlangte, zumindest Chris kennt es: „Keine Probleme Marlene.“ Zu Hause nachgehört, klingt etwas Fischer-Z durch, angenehm für die gutgelaunte Wavepunkdisco. Später spielte Ulli mit zwei weiteren Clit-Mitmusikern bei Krôl‘s Legacy, berühmt durch die Auftritte bei Rock auf dem Rittergut, und aktuell beim Monday Music Club. Klingt eher nach einem Projekt als nach einer Band, aber Ulli verneint: „Wir haben uns nur immer montags getroffen.“ Nachzuhören ist der Club auch auf Spotify, wie Ulli mir nahelegt, bevor er für Ralf wieder die Box so drapieren darf, dass der sie effektvoll im Sucher findet.

Zwischen den Stativen und errichteten Bluetoothboxen findet Simon Platz, um in den LP-Neuheitenfächern zu blättern. Ihm und der Firma, bei der er arbeitet, nämlich Giese Highfidelity aus Hannover, hat das Riptide die Lautsprecher und die Anlage zu verdanken. Ein schöner Zufall, dass er ausgerechnet einen Tag nach Anbringung wieder als Kunde hier ist. Er führt an, dass das auch ein Geburtstagsgeschenk vom Hersteller gewesen sei: Dali, steht für Danish Audiophile Loudspeaker Industries. Simon ist Braunschweiger und entsprechend häufig Kunde im Riptide: „Mein Lieblingsplattenladen, den darf man schon mal unterstützen.“ Die alten „Brüllwürfel“, über die das Riptide beschallt wurde, machten seine Plattenkäufe indes nicht zum puren Vergnügen, sagt er: „Ist schon was anderes jetzt.“ Die Firma Dali habe „ein richtig gutes Preis-Leistungs-Verhältnis“, und zu den Lautsprechern gab es noch einen Cambridge-Verstärker geschenkt. Konzerte sollte man über dieses System aber nicht laufen lassen: „Das ist keine PA, das ist Hifi.“ Außerdem verrät er: „Wenn man die Abdeckung der Lautsprecher abmachen würde, wäre noch unser Logo da.“ Also das von Giese Highfidelity. Weil: „Wenn das jemand gut findet vom Sound, dass er sich nach Hannover verirrt.“

Als Musikhörer ist Simon zusehends audiophiler geworden, sagt er: „Je besser die Aufnahme klingt, desto mehr berührt es mich.“ Bei mir steht da die Musik an sich im Vordergrund, der Klang ist für mich nur zweitrangig. Doch Simon findet: „Wenn die Anlage geil ist, entdeckst du viele Platten neu – ‚Source first‘, ein alter Spruch von Hifi.“ Man höre etwa Instrumente oder Refrainstimmen heraus, die man vorher nie wahrgenommen hat. Doch eines übertrumpft noch das Audiophile: „Es geht halt nichts über live, das muss ich zugeben.“ Und dann auch lieber in England als in Deutschland: „Weil die in Deutschland zu laut sind, die übertreiben‘s, und die Stimmung ist in England besser.“

Einen Musiktipp hat er für mich: „Fat Fredy‘s Drop ist immer ein Tipp.“ Zweimal sah er die Band in London live: „So krass!“ So richtige Geheimtipps gebe es aber kaum noch: „Das sind sie nur zwei, drei Monate, dann kennt sie gefühlt jeder.“ Zumindest, wenn sie durch die Postillen und Blogs gereicht werden; in soziokulturellen Zentren und Kellern findet man heute eher die Geheimtipps. „Aber soziokulturelle Zentren sind weniger geworden“, bedauert Simon. Immerhin haben wir das Nexus und das B58.

Chris lässt die herausragende Qualität der neuen Anlage nicht los. Ganz am Anfang gab es noch überhaupt keine Anlage im Riptide: „Da habe ich meinen Ghettoblaster von zu Hause mitgebracht und Mixtapes laufen lassen.“ An Paul Weller erinnert er sich, dass der damals lief. Der Apparat stand dort auf der Theke, wo jetzt die veganen Muffins und Cookies feilgeboten werden.

Direkt daneben stapeln sich heute Exemplare der Debüt-EP von GR:MM, einer Band, bei der Gideon mitspielt, der einst im Riptide arbeitete. Zusammen mit dem Riptide startete die Emopunkband die Aktion, dass man in eine Spendendose einen Betrag seiner Wahl entrichtet und eine CD dafür mitnimmt. Der Erlös geht vollständig an die Movember-Foundation, eine weltweite Stiftung, die sich für Männergesundheit einsetzt.

Meine CD habe ich mir mitgenommen, bevor ich vergangene Woche ins Universum-Kino weiterzog, um die jüngste Ausgabe von Sound On Screen zu sehen: „Space Is The Place“, den verwirrenden Film von Sun Ra aus dem Jahr 1974 in restaurierter Fassung. Diesen Beitrag steuerte die Initiative Jazz Braunschweig zur Musikfilmreihe bei, wie traditionell einmal pro Jahr. Im Sommer macht die Reihe Pause, aber für die nächste Staffel im Herbst ist bereits eine Dokumentation über Chilly Gonzales angekündigt. Das Magazin Intro nahm ich mir auch mit, kurz nachdem das Blatt verkündete, die Printausgabe aus Kostengründen im Sommer einzustellen. Nach 27 Jahren. Von denen ich beinahe alle Ausgaben auch las, womöglich schon, seit der Zähler einstellig war, das weiß ich nicht mehr so genau. „Geschockt“ war Chris, als er davon erfuhr, und mir geht ebenfalls eine wichtige Informationsquelle verloren. Blättern ist für mich nach wie vor angenehmer als wischen.

Kurz entwische ich noch in die Rip-Lounge, um Chris‘ drittes Rätsel zu lösen. Ich entdecke eine neu angebrachte Leiste mit LP-Covern aus dem Riptide-Labelprogramm sowie einige andere Bilder an den Wänden. Richtig erkannt. „Eines davon ist ebenfalls ein Geschenk zum Zehnjährigen“, erläutert Chris. Nun steuere ich den Heimweg an, nehme noch meine Bestellungen mit, das neue Album von Meat Beat Manifesto und den Soundtrack zu „Paterson“ von Sqürl, bleibe kurz bei Serge und Niclas hängen, lasse mir nebenan vor der Strohpinte von Helmut angesichts meines Vinyls in der Hand einige Plattenläden aufzählen, die vermutlich schon geschlossen waren, als ich begann, mir Musik zu kaufen, und schlendere dann durch die Sonne nach Hause.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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