#129 300,- DM

Dienstag, 24. Juli 2018

Es ist so heiß, dass man beim Gang durch die Fußgängerzone kalte Füße bekommt. Weil jedes Geschäft die Klimaanlage mit gefühlt 25 Grad Unterschied zur Außentemperatur angeschmissen und die Türen weit geöffnet hat. Aber was ist schon Hitze gegen das Grau, das uns in dieser Gegend die letzten acht Jahre nicht nur den Sommer, sondern auch den Rest des Jahres vergrault hat! Das Licht macht alles wett, es strahlt so hell, das sogar die Schatten nicht dunkel sind. Das ist gut für die Seele. „Und man kann den Urlaub in Braunschweig machen“, sagt der algerische Falafelzubereiter bei Sofra. Fehlt nur das Meer.

Seinen Hedonismus kann man auch im Handelsweg pflegen, Niclas und Serge bedienen sich dafür weißer und roter Weinschaumcremes, die sie vor Serges Laden abwechselnd löffeln. Trotz der sonnigen Hitze lässt sich Serge zu einer hitzigen „Diskursanalyse“ hinreißen, wie er es nennt, und setzt an: „Wie kann man sich so lang mit dem kleinen Fußballspieler beschäftigen, dass man denkt: Seid ihr völlig irre?“ Er meint Mezut Özil, den deutschen Nationalspieler, der vor der Fußball-Weltmeisterschaft mit seinem Spielerkollegen İlkay Gündoğan Fotos von einem Besuch beim türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdoğan im Internet verbreitete, mit seinem DFB-Team in der Vorrunde der WM ausschied und nach diverser Kritik der Mannschaft den Rücken kehrte. „Typisch Sommerloch“, findet Niclas, doch Serge widerspricht, dass derzeit angesichts der unzähligen weltweiten Probleme überhaupt ein Sommerloch existiert: „Es gibt so schwere Themen, aber alle reden über Özil.“

Die Waldbrände in Schweden und Griechenland, die Hitze in Japan und die weltweiten politischen und wirtschaftlichen Schieflagen führt Serge kurz an. „Jetzt wage ich mal eine These“, sagt er und rückt auf seinem Stuhl in eine andere Position. „Wir leben im Jetzt, und das Jetzt hat mit dem Gestern nichts mehr zu tun, das ist ein ganz neues Zeitalter, das müssen wir zur Kenntnis nehmen“, beginnt er. „Es ist alles anders, und die Erkenntnis frisst sich allmählich durch, es ist wahrnehmbar, dass wir in einem neuen Universum leben, in jeder Hinsicht.“ Serge findet ein Bild dafür: „Wir sind im Moment in einem Schwarzen Loch des Ereignishorizonts.“ Und er glaubt: „Selbst der schlichteste Mensch auf der Straße spürt das und flüchtet, nach allen Seiten, nach rechts, wird Reichsbürger, alle flüchten, nur wohin, vor der schlichten Wahrheit, dass die Komplexität nicht mehr greifbar ist, dass auch das Klima signalisiert, dass etwas nicht stimmt.“ So eine weltweite Erhitzung wie zurzeit habe es noch nie gegeben: „Die Klimaforscher gehen in ihre Höhlen und schämen sich, alle Prognosen waren falsch, es ist alles viel schneller.“

Seine Betrachtungen führen Serge bald zur Redundanz der Musik speziell, die sich seit 30 Jahren nur wiederkäut, sowie der Kunst allgemein, hin zum Hedonismus, den er sich gern gönnt. André grätscht kurz dazwischen und teilt uns mit, dass er sich einen früheren Feierabend gönnt. Dann wirft Arni einen Schatten auf die Runde, in die er tritt; wir sind verabredet und rücken nun um eine Hausnummer weiter, ins Café Riptide. Niclas und Serge verabschieden sich von uns, Serge grinsend mit den unerwarteten Worten: „Cool bleiben!“

Hinter der Theke im Café Riptide erwarten uns Chris und Tim, Rosalie werkelt in der Küche. Arni und ich bestellen der Hitze wegen schnellstens Fritz-Kola, er die klassische, ich die mit Kaffee, von der Chris sagt, sie habe jetzt einen neuen Namen, Karamell-Kaffee nämlich, aber das alte Rezept beibehalten. Arni fragt ihn, wo er seine mitgebrachten Flyer unterbringen kann, und Chris verweist ihn auf die Station in der Lounge gegenüber. Ich drücke Arni gleich noch Flyer für den nächsten Ball im Bierhaus in die Hand, den wir mit Rille Elf am 17. August in Harrys Bierhaus ausrichten. Die Flyer von Arni werben für die Ausstellung „Spurensuche: Fotografie und Autismus“ der Lebenshilfe, die Maren initiiert und kuratiert. Eröffnung ist am 10. September in der Galerie Geyso 20. Da wird Rosalie hellhörig und sprintet aus der Küche: „Geyso 20, da hab ich auch mal gearbeitet!“ Außerdem liegen Flyer für den nächsten Sedan-Bazar auf der Theke, das kunterbunte Straßenfest des Handelswegs, das am 18. August ab 12 Uhr stattfindet. Von einem Live-Act weiß ich schon: Einer kleinen Tradition folgend, ist Schepper wieder mit seinem Solo-Bass Teil des Programms.

Wenn alles klappt, hat Schepper in einem neuen Braunschweiger Etablissement ebenfalls einen Gig in Aussicht: Ollo hat vor einiger Zeit am Frankfurter Platz das Café MokkaBär eröffnet. Donnerstags und freitags empfängt er Gäste; mehr lässt sein Hauptarbeitgeber nicht zu, aber wenn sich das Café trägt, ist vielleicht mit etwas Hilfe auch mal mehr möglich. Schon jetzt gestattet sich Ollo ausgesuchte Samstage mit Konzerten, und seinen alten Buddy Schepper würde er gern auf der Bühne in seinem Café erleben. Der MokkaBär ist eine wundervolle gastronomische Ergänzung rund um den Frankfurter Platz, mit Gambit, Harrys Bierhaus, dem Momo, dem neu erweiterten Deniz und dem Nexus, wenn man das Areal etwas weiter fasst. Und Ollo hat den Laden schon ins Geschehen etabliert: Die Ergebnisse einer Fotoaktion rund um den Frankfurter Platz hängen in seinem Café als Kunstwerke an den Wänden.

Ebenfalls neu in der Stadt ist die einst Wolfenbütteler Stebner-Brauerei, die um die Ecke vom Riptide eine Braubar eröffnete und mit dem Crabs-Braumeistern aus dem Rebenpark zusammenarbeitet. Namensgeber Stebi schüttelte ich zumindest schon mal die Hand, ein Bierchen in seinem Lokal steht noch aus. Dafür bekamen Andrea und ich kürzlich eine Sonderführung durch die eigentlich an dem Tag geschlossene Hanfbar, in der uns ein ehrenamtlicher Helfer der abwesenden Betreiber Einblicke ins Sortiment gab. Für uns war das insbesondere mit Blick auf den Polizeieinsatz und die widersprüchlichen Nachrichten wertvoll, die da laut Helfer fälschlich behaupteten, es seien in der Bar Drogen gefunden worden. Wir konnten uns auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand ernsthaft eine Bar unter diesem Namen eröffnet und dort illegale Geschäfte tätigt.

Neben dem Flyer für den Sedan-Bazar stapeln sich CDs von The Twang, die ähnlich wie kürzlich GR:MM mit einer Name-Your-Price-Aktion Spenden sammeln, und zwar für die DKMS-Stiftung, die dem Blutkrebs beikommen will. Vier eigens eingespielte countryfizierte Lieder bietet die CD, und zwar alle mit Braunschweigbezug: „Frankfurt, Oder“, ein Schlager von Bosse, der Chartbreaker „Augen auf!“ der eigentlichen Wolfsburger Oomph!, „Mach dich lieber anders tot“ der NDW-Instanz Fee und „Ich wär‘ so gerne Bassist in einer amerikanischen Countryband“ von Kaltmiete, die definitiv größte Überraschung auf der EP, wenngleich der Songtitel natürlich eine Steilvorlage ist. Anlass für dieses Mini-Album ist für The Twang deren zwanzigjähriges Bestehen.

Wären Die Ärzte aus Braunschweig, hätten sie sicherlich den fünften Song dazu beigesteuert; wenigstens haben die Berliner in Chris einen großen Fan, der am 25. August im Lindbergh Palace eine Mottoparty zum Thema Die Ärzte ausrichtet. Dabei war der Auslöser dafür ein halber Scherz, wie Chris erzählt: Vor etwa drei Monaten saß er mit einer Freundin bei sich zu Hause. „Wir wollten weggehen und, wie man heute sagt, waren am vorglühen“, so Chris. „Es war ein toller Abend, wir haben Ärzte gehört und sind dann ins Lindbergh gegangen.“ Dort steuerte Chris alsbald den Chef an und teilte ihm mit: „Ich mache hier eine Ärzte-Party und spiele den ganzen Abend nur Ärzte!“ Eine Woche später erhielt Chris eine SMS: „War das ernst gemeint?“ Chris guckt, wie er in dem Moment geguckt haben wird: „Ich musste selbst überlegen: ‚Äh, ja, mach ich.‘“ Noch eine Woche später stand dann der Termin. Und Chris sah sich mit seinem eigenen Konzept konfrontiert: „Einen ganzen Abend nur Ärzte – schaffe ich das?“ Das wäre „Hardcore“, findet Chris, und entschied, auch themengemäßen Indie-Punk-Alternative zuzulassen. Aber: „Jeder dritte Song ist Ärzte, Coverversionen, solo, irgendwas mit Ärztebezug.“ Dafür nimmt Chris einiges auf sich: „Meine Ärzte-Vinyl-Sammlung, die aus 43 Platten besteht, schleppe ich ins Lindbergh.“

Wie aus einem Witz etwas Spezielles wird, erlebte Arni mit einer Reise nach New York, erzählt er: Eine Freundin fragte ihn, ob er für vier Tage mitwollte, und er sagte zu, in der Gewissheit, es habe sich nur um einen Scherz gehandelt. Als dann die Buchung anstand, stellte sich schnell das Gegenteil heraus, und Arni blieb dabei: „Ich wäre da sonst nicht hingekommen.“

Dazu fällt Chris noch etwas ein: „Das ist so ähnlich, wie Riptide Recordings entstanden ist.“ Die Geschichte kennen wir noch gar nicht, stellen wir mit Erstaunen fest, nach all den Jahren, und Chris erzählt sie uns gern. Er war bei einem Festival in Nordhausen am Ostharz, weil dort The Robocop Kraus spielten: „Die habe ich vom ersten Ton an gepusht.“ Eine andere Band zog zusätzlich seine Aufmerksamkeit auf sich: The A.M. Thawn. „Die waren supergeil, haben gegroovt“, schwärmt Chris noch heute. „Ich hab hinterher zu denen gesagt: ‚Mit euch mache ich eine Platte.‘“ Als Zwischenepisode fügt Chris nun die Rückfahrt mit leerem Tank vorbei an geschlossenen Tankstellen ein, „aber das ist eine andere Geschichte“, und fährt fort: „Sechs Monate später klingelt das Telefon, der Schlagzeuger von The Robocop Kraus ist dran und fragt, ‚Dein Angebot mit The A.M. Thawn, steht das?‘“ Wie bei der Ärzte-Party musste sich Chris erst schütteln und erwiderte selbstverständlich: „Ja, klar.“ Es ging ums Debütalbum. „Da haben wir telefonisch beschlossen: Machen wir.“ Das Ergebnis war 2002 „Victorian Leaves“, die Katalognummer Riptide Recordings 1, allerdings noch unter dem Namen Pleasure Syndicate; erst ab Katalognummer 3 griff der bis heute gültige Name. Die CD-Version erschien parallel auf Swing Deluxe, dem Label von The Robocop Kraus. Chris legte los und fuchste sich in die Thematik ein: „Irgendwann kam eine Palette, die Platte war da.“

Kurz unterbricht ihn Tim: „Eine Frau an Tisch B5 wünscht sich ihre Currywurst besonders und sagt, du wüsstest, was sie meint.“ Und Chris weiß es, ohne hinzugucken: „Ohne Fladenbrot, aber mit doppelt Salat.“ Tim gibt die so konfigurierte Bestellung an Rosalie in der Küche weiter.

Der Vertrieb der Schallplatte fiel Chris vergleichsweise leicht, weil er in der Szene bereits einen Namen hatte: „Ich bin sie nach und nach losgeworden.“ Die Band kam aus Rheine, berichtet Chris, und war mit Muff Potter befreundet, mit denen The A.M. Thawn ein Konzert im Forellenhof in Salzgitter gaben, da fragten viele nach der Platte, und Chris hatte Kontakte zu Mailordern und Fanzines: „Es sind komplett 500 Stück weg.“ Dabei hebt sich der Inhaber immer eine bis drei Kopien seiner Label-Alben für die eigene Sammlung auf, doch von „Victorian Leaves“ fehlte ihm sein Erinnerungsstück. Das musste er sich später bei Discogs nachkaufen: „Der Verkäufer hat meinen Namen erkannt und mir meine eigene Rechnung von damals beigelegt.“ In der Szene startete die Band einigermaßen durch, löste sich aber bald auf. „Die Platte ist unfassbar“, findet Chris: „DC-Fugazi-At-The-Drive-In-Style.“

So entstehen also Labels: Einfach machen. Wie so oft im Leben. Einfach machen dachte sich auch Tim, der erst seit einigen Wochen im Riptide angestellt ist. Der Bezug ist familiär: „Mein Bruder arbeitet hier, Max, der hat mir davon erzählt.“ Sieh an! „Ich war dann ein paarmal hier und fand das auch ziemlich nice, dann brauchte ich einen Job und dachte, ich könnte es hier versuchen.“ Gastronomieerfahrungen hatte er bis dato keine, „aber es gefällt mir“, sagt Tim. Und als Arni und ich uns in die etwas kühlere Rip-Lounge setzen und er unsere Bestellungen aufnimmt, macht er kein Bisschen den Eindruck, ein Anfänger zu sein. Wir nehmen ihm alles ab, den Profi und die Getränke, die ausgezeichnet kühlen.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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