#153 Frohes Neues!

Dienstag, 23. Juni 2020

In Skandinavien feiern sie heute Sankt Hans, dies sind die längsten Tage des Jahres, die kürzesten Nächte mithin, somit die unpassendste Zeit eigentlich, so etwas wie gestern die bundesweite „Night Of Light“ zu veranstalten, in der rot illuminierte Veranstaltungsorte auf das Corona-bedingte Desaster in der Branche hinweisen sollen; wer morgens um 6 Uhr rausmuss, treibt sich nicht in einer ohnehin spät beginnenden Montagnacht in der Stadt herum. Auch der kürzlich gestartete fünfte Lichtparcours lässt sich im Dunkeln nur begrenzt goutieren, vorerst zumindest, ab jetzt werden die Nächte ja wieder länger. Dabei ist der Lichtparcours vermutlich die beste Möglichkeit, Kunstgenuss in die Kontaktbeschränkungen einfließen zu lassen: Verstreut über die Stadt stehen leuchtende Kunstobjekte den Betrachtern zur Verfügung, die sich dafür nicht in einem geschlossenen Raum drängeln müssen. Perfekt! Und wenn sich die Stadt dazu noch Rahmenprogramme unter Einhaltung der Infektionsschutzauflagen einfallen lässt, ist auch die verlängerte Dämmerung kein Hindernis; so war es am Samstag bei der Aktion der Stadtfinder im Park der Musikschule, als Fly Cat Fly vor der „Bar du Bois“ spielten und wir danach mit Rille Elf auflegten. Die erste Veranstaltung seit einem Vierteljahr, da war die Stimmung grandios und die Dankbarkeit auf allen Seiten riesig, auf unserer nicht minder. Und außerdem spiegelt dieser Zeitraum Weihnachten, die Tage kurz nach der Wintersonnenwende, und markiert quasi das Ende des ersten Halbjahres 2020. Und überdies ein Abklingen des Lockdowns, der in Deutschland noch vergleichsweise harmlos ausfiel und offenbar die Zahl der an Corona Verstorbenen niedrig zu halten half.

Probleme gab und gibt es dennoch reihenweise, auch anderer Art, nicht zuletzt die „Night Of Light“ deutet darauf hin. Viele Freiberufler, Künstler, Selbständige leiden unter dem Wegfall von Aufträgen, der staatliche Rettungsschirm fängt die auf der Strecke Bleibenden nicht umfassend ab. Für das Riptide war die Zeit doppelt belastend: Seit April sollte es eigentlich unter der neuen Adresse im Ölschlägern im Magniviertel wiedereröffnet haben und am alten Standort für Umzugs-Benefiz-Veranstaltungen bis zum Auslaufen des Mietvertrags fortbestehen, doch zwang der Lockdown Chris und sein Team zum Stillstand. Mit einer Spendenaktion hielt sich das Riptide über Wasser, seit einem Monat empfängt es nun auch wieder Gäste, am grandiosen neuen Ort mit üppiger Außensitzfläche auf dem Magnikirchplatz. „Wir könnten sogar doppelt so viele Tische aufstellen“, freut sich Chris, denn so gefragt sei das Riptide hier, doch die Virusschutzauflagen lassen dies derzeit noch nicht zu.

Definitiv, es ist jedes Mal schwierig, draußen unter den Linden ohne Reservierung einen Sitzplatz zu bekommen. Städtische Bänke oder ein Stehtisch an der Riptidewand ermöglichen immerhin ein geduldiges Harren, und gelegentlich lassen sich Gäste auch dort zur Getränkeaufnahme nieder. Kürzlich berichtete mir Chris von einem kuriosen Umstand: Da das Riptide zurzeit aus Virusschutzgründen keine Karten auslegt, sondern innen und außen zum Fernbetrachten aushängte, und da auch das Logo noch nicht über der Eingangstür prangt, erging es einem Gast, dass er längst sitzend erst erfuhr, wo er sich aufhielt: „Ach, ich bin im Riptide?!“ Und sich freute, selbstredend. Ja, die Sonne lockt, der Lockdownauslauf lockt, die Leute sind wieder unterwegs, und wenn ich mich hier, auf Maren und Arni wartend, so umsehe, erblicke ich erfreulicherweise lauter vertraute Gesichter, und eben auch unzählige mir fremde.

Bevor ich mich an den mir von Anna freigehaltenen Tisch setzen kann, desinfiziert ihn Astrid. „Es riecht gleich nach Chlor“, warnt sie mich vor, während sie eine entsprechende Flüssigkeit aus einer Sprühflasche aufträgt und die Möbelfläche reinigt. Das riecht dann wenigstens sauber, finde ich, und sie meint: „Das riecht nach Freibad!“ Da bekomme ich prompt Appetit auf Pommes. „Und bunte Tüte“, ergänzt Astrid. Stimmt, schön sauer! Und Pommes, die gibt es ja nun auch im Riptide, also bestelle ich meinen Burger bei ihr mit nämlicher Beilage und lege den Thriller „Stunde der Flammen“ von Hardy Crueger neben die Flasche mit der Rose auf den frisch desinfizierten Tisch.

Unter den vielen Bekannten und Unbekannten um mich herum entdecke ich Axel und seinen Sohn Josch, die sich Orangen- und Zitronenbrause bestellen. „Man sieht sich ja gar nicht mehr“, stellt Axel fest, während sich dieser Umstand soeben aufhebt, gottlob. Dabei fiel mir auf, dass ich seit Beginn des Lockdowns weit mehr Bekannte auf der Straße oder am Südsee oder sonstwo traf als vorher, was vermutlich daran lag, dass die ganzen Cafés und Einrichtungen geschlossen waren, in denen ich sie sonst getroffen hätte. So wie jetzt eben Axel und Josch im Riptide. „Ich freu mich, dass es weitergeht“, sagt Axel und lässt seinen Blick über die unzähligen Tischgruppen auf dem sonnenhellen Magnikirchplatz schweifen. Den fließenden Übergang gibt es wirklich, die Tische von Barnaby’s Blues Bar und Das kleine Café schließen sich direkt an die vom Riptide an. Josch erzählt, was sich in dem Vierteljahr Stillstand ereignete, und berichtet, dass Axel ein Flipperspiel für die Playstation gefunden hat. „Er spielt das mit nur zwei Tasten“, lacht Josch. „Ich nutze für mein Spiel die halbe Tastatur, er zwei Tasten.“ Das sind immerhin doppelt so viele wie bei „Pong“, und Josch erinnert sich lachend, was Axel sagte, als er ihn erstmals am PC spielen sah: „‘Ich hab früher ‚Pong‘ gespielt‘!“

Die Erfrischungszeit währt für die beiden nur kurz, dann nimmt Sylvia ihren Platz ein, selbstredend erst nach der Desinfektion. „Es ist schön hier“, findet auch sie. Zwar war sie bereits zur Eröffnung im Riptide, aber da seitdem das Wetter schlechter wurde, ist dies ihr erster folgender Aufenthalt hier. „Eine Freundin hat ihren Laden nebenan“, berichtet sie, als Maren und Arni sich an meinen Tisch gesellen. „Wir treffen uns nach ihrem Feierabend hier.“ Arni hebt die Hände: „Das wäre verheerend, neben dem Riptide arbeiten!“ Maren nickt: „Schlimm genug, dass sich für uns der Weg halbiert hat.“ Sylvia ist Filmfan und seit zwei Jahren Rentnerin, der Lockdown eröffnete ihr neue Betätigungsfelder: „Ich gucke Netflix und Amazon Prime leer.“ Besonders „Homeland“ und „Haus des Geldes“ fixten sie an, „ich habe mir davon sogar ein Plakat bestellt“, sagt sie. „Ich fange nachmittags an“, Zeit habe sie ja nun. Sie strahlt, und ihre Verabredung trifft ein, Luule vom Fotostudio Artmann wenige Häuser weiter. „Seit drei Jahren sind wir dort, wir haben uns gefreut, dass das Riptide kommt“, schwärmt sie. Davor residierte Foto Artmann jahrzehntelang „auf der anderen Seite, hinter Galeria Kaufhof“, berichtet Luule. Eindeutig, das Riptide kommt im Magniviertel an.

Für Maren ist dies der erste Besuch im neuen Riptide, vorherige Versuche waren durch unvorhergesehenen Ladenschluss vereitelt worden. Wir drei haben uns nun auch schon seit einem Vierteljahr nicht gesehen, da gibt es einiges nachzuholen, die ganze Situation und was sie mit uns und dem Rest der Welt macht. Dabei erblickt Arni am anderen Ende des Kirchplatzes eine leuchtend orange uniformierte Sportlergruppe: „Vorbildlich, social distancing“, lobt er angesichts des weitgefassten kreisförmigen Aufbaus der Athleten. „Die haben sich sogar begrüßt per Fern…“ Er sucht nach dem Wort. Fernbedienung vielleicht? Das wohl nicht, aber das wäre für Gastronomieeinrichtungen in Coronazeiten eine gute Lösung.

Für uns ist Astrid eine Nahbedienung, sie bringt Getränke und Burger. Beim Herüberreichen berührt Arni Maren: „Ihh, der hat mich angefasst“, kreischt sie. Er zuckt mit den Schultern: „Ja, weißte, wasde jetzt alles hast?“ Maren nörgelt: „Ist ja eklig!“ Arni fährt fort: „Gute Laune und Optimismus“, ruft er, und setzt nach: „Chronischen Optimismus!“ Maren sortiert ihr Besteckt und jammert: „Ich will das nicht, krieg ich jetzt auch Antikörper?“ Arni missversteht: „Antjekörper, was hat Antje jetzt damit zu tun?“ Maren rutscht das Smartphone aus der Tasche und fällt zu Boden, gleich von drei Seiten machen sie aufmerksame Gäste darauf aufmerksam. Großes Gelächter. Arni staunt: „Der erste Tag im Riptide und es ist schon wieder genau wie früher.“

Heute bedienen viele Riptide-Mitarbeiter die Gäste, die ich noch nie gesehen habe. Chris kündigte ja an, dass er da dringend neu einstellen musste, und hatte auch rund um die Uhr Vorstellungsgespräche. „Das ist mein erster Tag, Probearbeiten“, sagt Cedric, als er unseren Tisch abräumt und wir ihn ausfragen. „Das merkt man nicht“, beteuert Arni, und so geht es uns mit allen Neuen, dass sie uns sofort das Gefühl vermitteln, sie schon ewig zu kennen und unter ihnen zu Hause zu sein; da hat Chris ein gutes Händchen für. Aber für Cedric ist es ja lediglich im Riptide neu: „Ich habe Gastroerfahrungen“, erzählt er, „aber in Bielefeld.“

Am Nachbartisch, und davon hat unserer einige, nehmen Fehime, Basti, Franziska und Michael Platz. Seit ihrem Umzug haben ich Fehime und Basti kaum mehr zu Gesicht bekommen, dieses Jahr wohl noch gar nicht, und das nicht mal wegen Corona. Fehime winkt ab: „Basti hatte jetzt sein erstes Konzert, vor Autos.“ Um die 20 Autos standen wohl vor der Bühne, und statt Applaus gab es verbotenerweise Gehupe. Diese Einschränkungen knicken Fehime, doch andererseits finde ich, dass man ohne sie vermutlich niemals die Erfahrung gemacht hätte, als Band vor Autos aufzutreten, man also im Grunde einen Gewinn dabei hatte. So wie mit der Indie-Ü30-Party, die wir ohne Lockdown wohl niemals bei Radio Okerwelle gemacht hätten; am 11. Juli zum bereits zweiten Mal, Claudy Soundschwester sei Dank. Das überzeugt Fehime ein wenig: „Du hast Recht, eigentlich müsste man das positiv sehen.“ Basti macht ein Foto von uns und schickt es an gemeinsame Nachbarn von uns, die seit dem Lockdown in Costa Rica festsitzen. Und auch Basti und Fehime schwärmen vom Riptide: „Es ist richtig cool, das es was Neues gibt“, sagt er, „der Platz ist megacool geworden.“ Fehime bestätigt: „Eine Bereicherung!“ Denn, so Basti: „Hier standen jahrelang nur fünf Tische oder so.“ Fehime grinst: „Jetzt ist dolce vita, oder deutsche vita, wie Basti sagen würde!“

Die Dämmerung setzt langsam ein, auch an einem so langen Tag, der Feierabend drängt das Riptide zur letzten Runde. Und uns zum Aufbruch. Kartenzahlung ist inzwischen wieder möglich, versichert Anna, das ist perfekt, dann kann ich nämlich gleich zwei der wie angekündigt von Ben gestalteten Riptide-Benefiz-T-Shirts mitnehmen. Da Chris schon weg ist, bestelle ich eben nächstes Mal oder per Email Platten, zum Beispiel das Debüt von Coriky, dem neuen Projekt von Ian MacKaye, dessen Veröffentlichung die Band immer weiter verschob, wie mir Larki berichtete, weil sie wollten, dass kleine Plattenläden wieder geöffnet haben können, wo man sie dann erwerben sollte, statt online oder beim Großhändler. Da ist noch Indiegeist und passt perfekt zum Riptide.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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