#155 Uv-àjéd

Donnerstag, 27. August 2020

Und plötzlich ist der ohnehin gefühlt viel zu kurze Sommer auch ebenso gefühlt schon fast wieder um. Eben noch in der Ostsee schwimmen, schon nur noch in Jacke draußen unterwegs. Außer, man ist Däne und schwimmt auch bei Minusgraden in der Ostsee, weil die dann ja schließlich wärmer ist als die Luft. Wenn einem dann als Zuschauer schon kälter ist als den Schwimmenden, die gutgelaunt den grauen Wellen entsteigen, während man selbst dessen angesichtig in einen Schreiwettstreit mit den Möwen tritt.

Ja, ich gehöre zu denen, die auch in Coronazeiten nicht auf ihren Jahresurlaub verzichten wollen, das gebe ich unumwunden zu. Nur war das Ziel von Andrea und mir deshalb auch entsprechend gewählt: eine Gegend in Dänemark, weil wir in Deutschland so kurzfristig nichts bezahlbar Ansprechendes fanden. Eine Gegend, in der wir weder Nachbarn noch Gastronomie oder Supermarkt hatten. Aber eben Gegend. Und Ruhe. Und außer uns zu Hochzeiten – also einmal in dieser Woche – vielleicht fünf weitere Personen gleichzeitig am ausgewiesenen Badestrand. Luxus in Ödnis. Und als einzige Möglichkeit, Musik zu kaufen, den Føtex-Supermarkt im Nachbarort, der das neue Album „Alter Echo“ von Dizzy Mizz Lizzy wohl nur deshalb überhaupt im Sortiment hat, weil es in Dänemark in den Charts ist.

Jetzt also wieder Braunschweig und den Sommer ausklingen lassen. Mit einem Eis im Limonella zum Beispiel, um die Ecke vom neuen Riptide, im Magniviertel, in der Langedammstraße, oder, falls es Ende August doch schon zu kalt dafür ist, auch einen Espresso, den mir Inhaber Hasib kredenzt. Er betreibt das Café seit „sieben Jahren und zwei Monaten“, wie er spontan errechnet, nämlich seit dem 1. Juni 2013. Seine neuen Nachbarn im Ölschlägern hat er noch nicht besuchen können, bedauert er: „Ich habe nur sonntags frei, und sonntags haben sie Ruhetag – ich würde da gern etwas trinken.“ Von dem erzwungenen Umzug des Riptide aus dem Handelsweg hat er Kenntnis: „Hoffentlich es läuft alles gut“, sagt er, „ich höre, die Leute sind nett.“

In der Gastronomie ist Hasib schon lang in Braunschweig tätig: „Ich habe vorher eine Eisdiele gehabt in Wenden“, erzählt er, das La Perla, und das hat er verkauft, nach ungefähr acht Jahren dort. Da ergibt sich die Frage, ob das Magniviertel besser ist, und die beantwortet Hasib diplomatisch lächelnd mit „Auch!“ Und erklärt, dass das La Perla lediglich eine Eisdiele war und dass er im Limonella zusätzlich „eine Kleinigkeit zum Essen“ im Angebot hat, „wir machen alles selber“, Brot, Dips, und mittags sind bis zu vier Gerichte auf der Tafel aufgeführt, „immer Kleinigkeiten“. Das Eis wiederum ist nicht aus eigener Produktion, das kommt noch aus Wenden, von Taormina indes, „die sind bekannt in Braunschweig“, weiß Hasib, und ich habe die mobilen Eiswagen mit der Aufschrift auch schon überall gesehen. „Seit 14 Jahren“ lässt er sich von denen beliefern.

Auch wenn alles so italienisch klingt, Hasib kommt aus dem Irak: „Aber ich kann es verstehen und auch ein bisschen sprechen“, sagt er. Bis vor einer Weile war er der einzige im Magniviertel, der Eis verkaufte, erzählt er: „Jetzt Das kleine Café auch“, der erste Mitbewerber also, von dem Hasib vollmundig schwärmt, „die sind lieb“, sagt er, und „die machen auch alles selber“. Früher war dort die Crêperie ansässig. „Es gibt viele Cafés im Magniviertel, zu viele“, sagt Hasib augenzwinkernd, weil es mehr Konkurrenz bedeutet, die er aber schätzt. Zum Beispiel die Makery: „Die waren Stammkunden hier und haben dann das Café aufgemacht“, berichtet er erfreut. Dann fällt ihm ein, dass das Friedrich 2, also F2 oder Friedrich der II., seit kurzer Zeit ebenfalls Eis verkauft, und grinst: „Viel zu viel Eis!“ Von dem F2 gefällt ihm der Garten nach hinten heraus. Und vom Riptide hört er nur Gutes: „Das ist die Hauptsache!“

Bevor ich nun den Weg eben dorthin fortsetze, kehre ich einmal mehr bei Simone ein, denn lustigerweise ist Schepper bei ihr Stammkunde und bat mich, ihm seine begehrte Hanf-Haarseife mitzubringen, wenn ich wieder im Viertel sein würde. Mache ich doch selbstredend. Im Viertel bin ich ja nun öfter, dem Riptide sei Dank. Kürzlich, noch vor dem Urlaub, beispielsweise mit Arni, an einem der raren Draußentische, als es noch so richtig warm war und wir einen klassischen Riptide-Tag erlebten, mit allerlei Bekannten und Freunden, die sich zufällig an unseren Tisch verirrten. Darunter Dirk, der einmal mehr mit einer Reisegruppe im Rahmen von Eat The World im Riptide eintrudelte. Dabei fiel mir auf, dass er ja quasi das Ziel schon lang subliminal im Programm verankert hatte: Obgleich die Route, für die er in Braunschweig unterwegs gewesen war, „Magniviertel“ hieß, war das noch im relativ weit davon entfernten Handelsweg residierende Riptide darin untergebracht – visionär geradezu.

Wie es sich für einen Stadtführer gehört, hatte Dirk für Arni und mich auch an dem Nachmittag Anekdoten parat, die das nahe Umfeld des Riptide betrafen. Barnaby‘s Blues Bar genaugenommen, dessen Eigentümer Peter laut Dirks Kenntnis in den USA, in New Orleans, eine Kneipe gehabt hatte, in der The Doors am 12. Dezember 1970 ihr letztes Konzert mit Jim Morrison gegeben und als einziges Mal „Riders On The Storm“ gespielt hatten. Das, so fand Dirk, war dabei gar nicht mal die spannendste Geschichte um Peters früheren Laden. Denn, der Laden hatte Warehouse geheißen, und als da ein Resident-DJ selbstgebastelte elektronisch grundierte monoton-rhythmische Musik unter die Leute gemischt hatte und diese ihn nach dem Namen dieser Musikrichtung gefragt hatten, hatte er schlichtweg mit dem Namen der Location geantwortet, Warehouse, woraus sich alsbald die Bezeichnung House ergeben gehabt haben soll. Arni und ich hegten zwar, wie der Berichterstatter selbst, gesunde Zweifel daran, wir drei waren uns aber einig, dass diese Geschichte wichtiger war als der Wahrheitsgehalt. Das Internet verrät nun, dass die Geschichte in den Grundzügen sogar stimmt – dass aber ein anderes Warehouse daran beteiligt war, nämlich das in Chicago.

Außerdem verzehrten Arni und ich einen Kuchen mit frischem Obst, von dem Chris uns verriet, dass eine Freundin es in ihrem Garten geerntet und dem Riptide zur Verfügung gestellt hatte. Sowas von lecker. Und bei einer Bestellung erhielt ich zudem eine Grundlagenerkenntnis in Sachen Sprachgebrauch: Arni wählte seinen Milchkaffee mit veganer Milch, und als ich gerade anhob, „normale“ zu sagen, erhielt ich den freundlichen Hinweis, dass man im Ritpide dieses Wort vermied, um das vermeintlich Normale nicht allem anderen gegenüber wertend festzulegen. Anerkennend stattgegeben.

Und dann hatte ich noch zwei Geschichten zu berichten, einmal von dem Ausflug, den Andrea und ich nach Leipzig unternommen hatten, selbstredend auch in einen Plattenladen, den wohlsortierten Whispers Records in der Karli nämlich, aber auch in ein Eiscafé um die Ecke davon, besser: in die Eisdiele Pfeifer, deren Inhaberin uns durch das Quasi-Museum führte und uns dessen Geschichte erzählte. Dass der Herr Pfeifer den Laden jahrzehntelang aus Mangel an Möglichkeiten zwangsläufig nach klassischer DDR-Art eingerichtet und dann zur Wende vor dem Problem gestanden hatte, im Unklaren über die Besitzverhältnisse des Hauses gewesen zu sein, in dem seine Diele untergebracht war, und dass der Herr Pfeifer deshalb vorsichtshalber gar nichts investiert hatte, was ihm dann Jahre später zugute gekommen war, weil nämlich alle anderen Eisdealer auf topmodern umgesattelt hatten und er der einzige geblieben war, dessen Einrichtung allgemein aufgekommene Ostalgiebedürfnisse befriedigt hatte. Davon profitierten nun eben die Nachfolger, die die Diele unter Pfeifers Namen fortführen. Und überdies auch noch erhebliche Leckereien anbieten. So kann‘s gehen.

Die zweite Geschichte hatten Andrea und ich eines lauen Sommerabends mit jeweils einem Bier auf der Bank auf einem nahen Spielplatz erlebt, den regelmäßig eine Gruppe Heranwachsender frequentiert. So auch an jenem Abend, als wir die sowohl abwechselnd als auch gleichzeitig auf Türkisch und Deutsch gehaltenen Gespräche nur fetzenweise verstanden hatten. Ein höchst philosophischer Kommentar allerdings blieb uns nachhaltig im Gedächtnis: „Wenn einer mit allen gut kann – der kann doch kein guter Charakter sein, oder?“

Heute hat Chris fast gar keine Zeit, er steckt in Arbeiten im Büro und ist auf dem Sprung zum alten Standort im Handelsweg, erzählt mir Sera an der Theke. Das Arbeitsaufkommen lässt auch für die Belegschaft erfreulicherweise nicht nach: „Es läuft eigentlich ganz gut, es ist immer reserviert, jeden Abend ist es ausgebucht“, berichtet Sera. Denn sie weiß, was die Gäste wissen: „Der neue Laden ist etwas Anderes, der ist gut.“ Sie bedauert es, dass sie manchen Anrufern sogar absagen müssen: „Morgens um zehn: ‚Nee, heute Abend ist voll!‘“ Wie gut für das Riptide.

Da steckt Chris seinen Kopf aus der Bürotür und erzählt davon, dass André und er tagsüber das alte Riptide auseinandernehmen, oder besser: Es „vertragsgemäß in den ursprünglichen Zustand zurück“ versetzen. Stimmt ja, Enmde ugust läuft der Vertrag aus, und damit fällt die finanzielle Doppelbelastung der Mieten endlich weg. 15 Kubikmeter Schutt verließen die alten Räume bereits; einiges davon sah ich gestern im Internet auf Fotos. „Das war nur der kleine Container“, winkt Chris ab: Den größeren zweiten schafften die beiden ebenfalls randvoll. Chris ist selbst überrascht, dass André und er dem Ur-Riptide keine Träne nachweinen: „Das tut richtig gut, wir haben beide gestrahlt und sehen das positiv.“ Denn: „Hier haben wir etwas viel Besseres, nicht nur eine Notlösung.“ Zwar vermisse er die Nachbarn „und alles“, aber: „Die Entscheidung war goldrichtig.“ Das Leerräumen des Handelswegriptides sei wie ein Déjà-vu, sagt Chris, nur rückwärts: „André und ich stehen in einem weißen Raum.“ Aus dem neuen Riptide zog André sich jedoch zurück, „vorerst“, wie Chris betont, und „aus privaten Gründen“, und nicht etwa, weil es Streit gab: „Wir sind befreundet nach wie vor“, und wer weiß, sobald sich die privaten Gründe so weit klären lassen, dass es möglich ist, kehrt André vielleicht ja auch wieder zurück. Die Tür steht ihm offen, betont Chris unablässig.

Jetzt schließt er sie aber vorerst hinter sich, er hat noch zu tun, bevor er noch mehr zu tun hat. Flink nehme ich mir einen Flyer vom Record Store Day 2020 mit, der Coronas wegen nicht im April stattfand, sondern dieses Jahr dreigeteilt ist, am 29. August, 26. September und 24. Oktober. Wie sich dieser Schallplattenladentag gestaltet, bringe ich dann in Erfahrung. Ist ja schon übermorgen!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert