#156 Auch 13, Unsichtbarer!

Montag, 31. August 2020

Dies ist der letzte Tag vom alten Café Riptide. Heute geben André und Chris die Schlüsselgewalt über die Räume, die die Kulturlandschaft in Braunschweig veränderten, an ihren Eigentümer zurück. 16. September 2007 bis 31. August 2020. Eigentlich ja nur bis noch etwas früher, aber – heute läuft eben der Mietvertrag aus. Am Wochenende halfen Helfer, die letzten Reste aus den beiden Räumen im Handelsweg in Container zu schleppen. Eigentlich ist heute also nichts mehr zu tun, aber da ich gestern verplant war und heute noch Urlaub habe, bin ich um 10 Uhr im Handelsweg, um André vor Ort zu treffen.

Vorher treffe ich Helmut, der aus seiner Strohpinte blickt. Ihm geht es gut, sagt er: „Man kommt durch.“ In seine Kneipe verirren sich in diesen Zeiten nur noch Stammgäste, keine Fremden, und von den Stammgästen nicht einmal alle: „Manche haben Angst, das ist berechtigt“, sagt Helmut. Er zuckt mit den Schultern, angesichts der demnächst sinkenden Temperaturen und der dann fehlenden Möglichkeit, die Gäste weiterhin wohltemperiert draußen bewirten zu können: „Abwarten, was kommt.“

In diesem Moment ist dies André, der da um die Ecke schlendert und Helmut und mich begrüßt. Er schließt das Riptide auf und lässt mich einen Blick werfen – in den kahlen Raum, auf den grauen Putz, auf die fehlenden Zwischenwände, auf Lücken somit, auf den Kabelsalat, der sich quer durch diesen Raum zieht. Danach öffnet er die Riplounge, die sich ähnlich präsentiert, auch hier fehlen Wände und Farben und Lampen und Boden, in der Nische sind lediglich einige Werkzeuge und Arbeitsmaterialien aufgestapelt, die André noch mitnehmen wird. Einiges davon drückt er mir in die Hand, damit ich an den losen Enden des Kabelmonsters im Café Lüsterklemmen anbringen kann. Ich widme mich dem Lindwurm, André anderen Aufgaben.

Und einigen Klärungen, zu Gerüchten und Geschichten, die über ihn und Chris und das Riptide allgemein im Umlauf sind. André macht dem Umzug ins Magniviertel „aus privaten Gründen“ nicht mit, bestätigt er Chris, und betont: „Mit Chris ist alles in Ordnung!“ Kein Streit, keine Trennung der Freundschaft, kein Ehekrach, keine wie auch immer geartete Katastrophe, von der in der Stadt so zu hören war. Leute haben ja abenteuerliche Ideen, wenn ihnen etwas nicht klar ist, aber auf die naheliegende kommen sie nicht: André muss sich auf andere Elemente in seinem Leben konzentrieren und seine Energie umlenken. Glücklich ist er damit nach all der Zeit und all den Errungenschaften und all den Erinnerungen auch nicht, aber sieht sich Zwängen ausgesetzt. Das Auseinanderdividieren des bisher gemeinsamen Unternehmens Riptide steht daher in absolut keinem schlechten Licht: „Wir sind beide der Meinung, dass das freundschaftlich vonstatten geht.“ Von einigen Gerüchten hat er überdies selbst gehört, lacht er: „Ich bin nach Mauritius ausgewandert, habe sieben Millionen im Lotto gewonnen.“ Sieh an, diese Geschichten habe ich noch nicht zu hören bekommen.

Ein Termin zwingt André und also auch mich zum Aufbruch. Chris hatte Recht: Das tränende Auge bleibt aus, trotz des Abschieds nach fast 13 Jahren aus diesen Räumen, die mir so viel Welt und Leben bedeuten. Die Erklärung dürfte einfach sein: Weil es bereits weitergeht, weil ich bereits weiß, das es sogar besser geworden ist, dass es nicht nur eine potentielle Zukunft hat, sondern dass diese Zukunft längst läuft. Nun also: Danke, André, für alles, und auf bald!

Neben der Strohpinte trägt Stefan einige Kisten mit Comics vor das Schaufenster von ComiCulture. Maskiert folge ich ihm in den Laden. „Corona macht den Leuten teilweise Angst und sie bleiben zu Hause und machen nur noch das Nötigste“, erzählt er. Dafür hat er Verständnis: „Und anderes ist ihnen egal, das ist menschlich.“ Er lächelt: „Vielleicht bringt‘s ja auch was Positives.“ Veränderungen nimmt er schon jetzt wahr, auch darin, wie manche Menschen darauf reagieren, dass sie kulturelle Angebote nicht mehr wahrnehmen können und dass Onlinestreams zwar eine willkommene Alternative, aber niemals ein Ersatz sind: „Die Leute sind hart unterlebt.“ Er sinniert: „Vielleicht ist es das, was übrigbleibt, dass sie merken, dass sie andere Menschen brauchen – dann reicht das doch schon.“ Gewiss ist ihm jedoch, dass sich auch die Subkultur ändern wird, was sich auch auf ComiCulture auswirken würde: „30 Prozent der Leute haben zum ersten Mal online gekauft – warum nicht ein zweites Mal?“ Der nächste Kunde gehört nicht dazu, dem widmet sich Stefan nun und ich verabschiede mich.

Nicht ohne noch einen Blick durch die Fenster des alten Riptide. Danke für die unzählbaren und tiefgreifenden Abenteuer. Ich bin gespannt auf die nächsten.

Dienstag, 15. September 2020

Zum Beispiel bei Ohlendorf, dem sympathischen Traditionsbaumarkt im Magniviertel, in direkter Nachbarschaft zum neuen Café Riptide. Da Chris schon so viel davon schwärmte, wie ihm der Laden während des Umzugs hilfreich zur Seite stand, bin ich neugierig. An der Kasse frage ich Sabrina, ob mir jemand etwas über das Geschäft erzählen kann, und sie meint, dass da der Chef besser für geeignet sei als sie, und greift zum Telefonhörer, um diesen Chef aus seinem Büro an die Kasse zu bestellen. Und zwar mit den Worten: „Papa, kannst du mal runterkommen?“ So eine Sorte Chef also! Sabrina grinst: „Das ist halt ein Familienbetrieb.“ Sie springt nämlich während ihres Studiums gelegentlich als Aushilfe ein.

Und ein Familienbetrieb ist die Ludwig Ohlendorf KG seit über 125 Jahren, auch wenn der jetzige Geschäftsführer Jürgen Weferling einen anderen Nachnamen trägt. Weil es in der Familie einst nur zwei Mädchen gab, berichtet er, irgendwann in früheren Generationen; er erwähnt eine „Urgroßmutter“: „Die Frau musste den Namen des Mannes nehmen, das macht man heute nicht mehr so.“ So kommt es also, dass die Weferlings nun die neuen Ohlendorfs sind.

Der Laden brummt, um uns herum schwirren die Kunden, Sabrina hat an der Kasse ordentlich zu tun, und der Chef weiß: „Wir sind der kleine Baumarkt, wo sie viele Sachen lose kriegen.“ Zu solchen Kunden gehörte auch Chris, wie er weiß: „Das Riptide hat viel für den Umbau gebraucht, mal eine Dose Farbe“, erzählt er. „Davon leben wir, von den Kleinigkeiten“, weiß er, und ebenso, dass der Zulauf an Privatkunden derzeit der Coronakrise geschuldet zurückgegangen ist. Dennoch ist er zufrieden: „Wir haben 200, 300 Kunden pro Tag auf einer verhältnismäßig großen Fläche.“ Was man sich nicht vorstellen kann, dass sich hier mitten im eher klein gebauten Magniviertel ein Baumarkt mit einer Fläche von 800 Quadratmetern und fast 50 Mitarbeitern verbirgt; „da sind auch Teilzeitkräfte dabei“. Und einen Onlineshop betreibt er noch „nebenbei“. Beachtlich.

Bislang hat es Jürgen Weferling noch nicht so oft ins Riptide geschafft, aber er freut sich über die Möglichkeit, dort mittags mal auf einen Kaffee einkehren zu können. „Es ist hier besser als drüben“, weiß er, denn obgleich er in der Nähe des Handelswegs wohnt, schaffte er es nie dorthin. Im Magniviertel hingegen sei alles vorteilhafter: „Hier ist jeden Abend etwas los“, beobachtet er, und bemerkt schmunzelnd: „Montags fehlt uns immer was, weil es zu hat.“

Dienstags nicht, daher kehre ich nach meinem Abschied von den Weferlings gleich mal im Riptide ein und bestelle mir meine übliche Fritz-Karamell-Kola. Madeline drückt mir die Flasche in die Hand und berichtet, dass sie gerade mal seit zwei Wochen im Riptide arbeitet. Auch ihre Kolleginnen Lucie und Nadia sind mir noch nicht bekannt, es tut sich was am neuen Standort. „Ich hab studiert in Mainz“, erzählt Madeline. Und fühlt sich im Riptide alles andere als fremd: „Ich kenne das Team, wir haben zusammen im Hallenbad gearbeitet, in Wolfsburg.“ Jetzt bin ich baff. Brauchen sie dort zurzeit etwa niemanden mehr? „Das war vor dem Studium“, beruhigt sie mich. „Ich wollte hier studieren, Master, aber das hat nicht geklappt, jetzt arbeite ich hier.“ Sie kommt ursprünglich aus Wolfsburg, und von den heute Anwesenden kennt sie Nadia schon aus dem Hallenbad, „länger her“. „Das Team ist gut, es macht Spaß“, freut sie sich, „das ist eine gute Kombi, mit Plattenladen, im Magniviertel.“ Der nächste Gast möchte nun bei Madeline ein Getränk bestellen, ich nehme mir meins und begebe mich nach draußen, auf den von der ungewöhnlich warmen Septembersonne hell erleuchteten Magnikirchplatz.

Der ist wie immer rappelvoll. Am Rande einer Tischgruppe finde ich einen Platz auf einer Bank, als mir Marc von einem der Tische der benachbarten Barnaby‘s Blues Bar mit der Pommesgabel zuwinkt. Ich winke zurück und wanke zu ihm. Vielleicht hat er ja einen neuen Chuck-Norris-Fakt für mich parat.

Und morgen hat das Riptide ja Geburtstag. 13, bestes Teenageralter! Rock‘n‘Roll, liebes Riptide!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert