Donnerstag, 20. März 2025
Wann geht dieser Frühling nochmal los? Eigentlich heute, aber gefühlt schon etwas länger, trotz der frostigen Nächte. So viel Sonne und blauen Himmel am Stück wie seit einigen Wochen hatten wir ja ewig nicht. So schlendern Olli und ich durch die sonnendurchflutete Stadt und verrichten einige Erledigungen, bevor wir uns ins Riptide begeben. Dabei zeigt er mir noch zwischendurch die Ausgrabungen am Hagenmarkt, wo man die Fundamente des 1864 abgerissenen Opernhauses rund um den Heinrichsbrunnen freilegte. Hier wurde Johann Wolfgang von Goethes Faust uraufgeführt, weiß Olli, und das Internet ergänzt als zweite Uraufführung in diesem Hause „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing. Nach rund 170 Jahren Nutzung verlegte man den Spielbetrieb 1861 ins Staatstheater und hatte für das Opernhaus keine Verwendung mehr. „Geschichte wird vom Antlitz der Erde getilgt“, sagt Olli schulterzuckend, einem Hornbach anstelle der alten Wilke-Werke kann er indes trotzdem nichts abgewinnen. Er winkt ab und grinst: „Es bringt doch eh alles nichts mehr.“
Heute ist Olli in strahlender Doom-Stimmung, die eigene Endlichkeit und die Unabwendbarkeit der Dinge vor Augen, lachend, schulterzuckend und vergleichbare Äußerungen in allen möglichen Diskussionsmomenten passend anbringend. Das verstehe ich, ähnliche Gedanken habe ich mittlerweile ebenfalls häufig, insbesondere als Sammler: Was bleibt, wenn man geht, wen interessieren beispielsweise die CDs einer griechischen Straßenband, die man in Italien, in Levanto, auf der Straße erwarb, die man dann inmitten meiner großen Sammlung finden würde und von der man nicht wüsste, warum sie sich ebendort befindet? Dabei seien The Sailing Tomatoes hier einfach mal empfohlen, aber das nur nebenbei. Solches kommt mir also auch gelegentlich in den Sinn, sobald ich einen neuen Tonträger erwerbe: Wozu das, es hat doch sowieso alles keinen Sinn, es landet nach mir bestenfalls in einer „Zum Mitnehmen“-Kiste an der Straße, was für The Sailing Tomatoes quasi eine Rückkehr zum Ursprung bedeutete, und schlimmstenfalls im Müll. Anders als die Sammlung eines John Peel, die man im Internet durchstöbern kann. Dennoch kann ich nicht aufhören, meine Lieblingsmusiker, und von denen habe ich eine Menge, damit zu unterstützen, dass ich ihnen mittels Tonträgererwerb einige Beachtung schenke.
Die Sonnen lenkt unsere Schritte ins Magniviertel, hier trennen sich vorerst unsere Wege. Olli begibt sich schon mal an den reservierten Tisch im Riptide, ich möchte noch neue Nachbarn erkunden und folge ihm später. Der Magnikirchplatz, sehe ich dann, strahlt regelrecht vor Frühlingsglanz, die Markstände teilen sich die Fläche bereits mit den ersten Tischen und Stühlen der anderen Gastronomieanrainer. Das Riptide zieht demnächst nach, werde ich noch erfahren, aber erstmal begrüßen mich Chris und Dominik im Café. „Ist noch keiner da“, sagt Dominik, und ich weiß, dass er schwindelt. „Sind oben“, grinst er. Chris präsentiert mir den Soundtrack zur Buchverfilmung von Nick Hornbys „High Fidelity“ als LP und sagt: „Ich habe hier zufällig eine Platte in der Hand, ohne die es diesen Laden nicht geben würde.“ In Buch und Film geht es nämlich auch um einen Plattenladen, und Chris erzählt lachend, dass André und er sich damals immer vorstellten, wie es wäre, Kunden genau so arrogant abzukanzeln wie im Film, wenn jemand beispielsweise nach Terence Trent D’Arby fragt. Umgesetzt haben sie diese Vorstellung selbstverständlich nie. „Gleich ein Bier auf die Hand?“, fragt mich Dominik, und nach einigem Überlegen stimme ich zu, lasse mir von ihm ein Wolters aushändigen und bestelle gleichzeitig einen Falafel-Burger, ganz überraschend.
Im Obergeschoss unterhalten sich Henning, Olli, Uwe, Ute und Stefan, neben dem ich einen Platz finde und so den Kreis erweitere. „Und, wo kommst du her?“, fragt mich Olli. Stimmt, der fürs Riptide – das ja auch schon seit fünf Jahren an diesem Standort residiert – neue Nachbar! Gleich, nachdem Olli und ich uns temporär getrennt hatten, schlenderte ich die ellenlange Außenfassade vom Trauringstudio entlang, in der Langedammstraße 10. Die Ladenfläche ist riesengroß, die Wände in Fliederfarben gehalten, in Vasen stehen farblich passende Tulpen in Lila und Weiß, an den Fenstern stapeln sich gemütliche Kissen, eine gigantische mehrleuchtige Lampe prangt an der Decke und an der Wand ziehen sich drei unendlich lange Reihen mit Trauring-Schaukästen durch den hellen Raum. Mich nahm Beraterin Jenny in Empfang und setzte sich mit mir an einen der Beratertische. Das Riptide kenne sie gar nicht, sagt sie, weil sie aus der Niederlassung in Hildesheim ausgeborgt sei, aber sie berichtete gern von dem Unternehmen. „Wir der Name verrät, geht es um Trauringe und Verlobungsringe“, begann sie. „Wir nehmen unsere Paare an die Hand.“ Das Trauringstudio sei inhabergeführt und auf fünf Standorte verteilt, nämlich Wolfsburg, Göttingen, Celle und eben Hildesheim und Braunschweig. Den hiesigen Standort hat das Trauringstudio seit 2012 inne, hier im Magniviertel. „Es ist hier schön, recht ruhig, ich finde es hier eigentlich ganz gut“, stellte die ortsfremde Jenny fest, mit Blick aus dem Schaufenster hinter mir. Abseits läge die Filiale hier nicht, denn: „Wenn Leute zu uns kommen, dann, weil sie einen Grund haben, sie finden uns ja trotzdem.“ Zwar gäbe es auch Laufkundschaft, „aber normalerweise steuern uns Kunden bewusst an“.
Aus einem verborgenen rückwärtigen Raum gesellt sich Pauline an unseren Tisch. Sie sei ebenfalls Beraterin, aber dazu auserkoren, künftig Assistentin und Gebietsleiterin zu werden, verriet sie. Und noch etwas gab sie preis: „Ich wohne hier um die Ecke, ich kenne das Riptide!“ Ab diesem Moment übernahmen beide im Wechsel die Vorstellung des Trauringstudios: „Wir haben Modellringe hier, eine supergroße Auswahl, über 3500 Modelle“, begann Pauline. „Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das finden unsere Kunden gut, wir haben für jeden Topf einen Deckel“, setzte Jenny fort. „Wir geben unseren Kunden so viel Zeit wie möglich, um ihren Traumring zu finden und glücklich aus dem Laden zu gehen“, übernahm Pauline wieder. Da nicht jede Art Ring in allen Größen als Original vorhaltbar sei, bestehe die Auswahl hier aus „ressourcenschonenden Modellen“, fuhr Jenny fort, „die ausgewählten Ringe werden dann gefertigt“. Auch über das Material könnten die Kunden entscheiden, fügte Pauline ein, und Jenny ergänzte „viele Strukturen, spezielle Modelle für spezielle Wünsche“, die die Brautleute haben könnten. „Wir arbeiten mit vielen Manufakturen zusammen, die die Ringe fertigen“, setzte Pauline fort, „wir können viele Kundenwünsche erfüllen, auch ausgefallene“, obschon solche „nicht jeden Tag“ geäußert würden, und Jenny betonte in dem Zusammenhang: „Wir versuchen, über uns hinauszuwachsen.“
Dann kehrte Pauline zurück zum Riptide: „Ich laufe oft daran vorbei, im Sommer ist es schön, wenn man draußen sitzen kann.“ Kurz hielt sie inne: „Das Magniviertel ist im Winter zwar nicht tot, aber im Sommer ist es um Längen schöner.“ Sie schloss: „Am Riptide finde ich das Konzept cool, mit den Platten.“ Nun verabschiede ich mich von Jenny und Pauline, die noch erwähnte, dass das Trauringstudio „von der Fläche her einer der größten Läden im Magniviertel“ sei, und als ich gerade das Geschäft verlassen wollte, rief mir eine Kollegin, die soeben ein Kundengespräch beendet hatte, fröhlich strahlend und winkend „ich kenne das Riptide!“ nach.
Dort sitze ich jetzt also, Dominik bringt mir den Burger, Stefan bestellt Pommes, Chris bringt sie ihm, Getränke und Gespräche machen die Runde. Die nächste Schüssel mit Pommes ist für Henning bestimmt, Chris reicht sie ihm freudestrahlend herüber: „Einmal frittierte Sonnenstrahlen!“ Stefan verschränkt die Arme vor der Brust: „Jetzt bin ich beleidigt, mir hat er nur Pommes gebracht.“ Über den Tisch weht ein Duft von Ingwer zu mir herüber, vor Stefan und Ute stehen leere Gläser mit in Scheiben geschnittenen Resten dieser schmackhaften Wurzel. „Für meine Heißgetränkestempelkarte“, erklärt mir Ute, und jetzt verstehe ich auch endlich den Witz, den ich nur nebenbei wahrnahm, als sie nämlich eine Weißweinschorle bestellte und meinte, dass die ja eigentlich heiß sein müsste, was Stefan noch um ein „on the rocks“ ergänzte – es ging um die Heißgetränkestempelkarte! Olli lacht über meine lange Leitung: „Hat ja nur 20 Minuten gedauert.“
Henning blickt sich hier im niedrigen Obergeschoss um und stellt fest: „Das hier kenne ich nur als Schuhlager, von Magni-Outdoor.“ Das sei sein „Stammlieferant“ gewesen, sagt er, und Stefan erzählt von einem Zelt, das er sich hier für seinen Afrika-Urlaub 1990 gekauft hatte. In Zimbabwe war er damals: „Ich hab noch nie so viel Holländisch gehört wie da!“ Na, vielleicht ja noch in den Niederlanden? Olli winkt ab: „Fahr mal in den Harz!“ Hinter uns zieht Dominik seine Kreise um die sich fortwährend mit Gästen füllenden Tische – man hört dort sogar Würfel auf Holz klackern – und fragt uns: „Ist bei euch auch noch alles gut?“ Da Olli und Ute gerade ihr Mobiltelefone vor sich haben, weil sie versuchen, sich ins Riptide-Wlan einzuloggen, antwortet Olli ihm: „Ich ruf dann an!“
Nach und nach verlassen Uwe, Stefan und Ute die Runde, und auch Olli und ich steigen bald die Stiege hinab, „es hat ja eh keinen Sinn mehr“, sagt er. Unten an der Theke nimmt mich Chris in Empfang und kündigt mir einigen Wandel an: „Neue Öffnungszeiten, wir werden uns kompaktschrumpfen, die Personalkosten runterfahren, es werden die Preise neu kalkuliert, es gibt eine neue Karte, neue Getränke und neues Essen“, setzt er an. Da bei der Quiznight zu oft reservierte Plätze krankheitsbedingt unbesetzt bleiben, gibt es dafür auch eine Lösung. Und: „Wir werden den Sommer gestalten!“ Was bedeutet, dass ab 1. April schon mal Tische und Stühle draußen stehen werden, aber offiziell ab 1. Mai die Draußensitzfläche freigegeben wird, je nach Wetter womöglich bereits zu Ostern, das müsse er im Dienstplan berücksichtigen. „Es wird dieses Jahr die neue Bingo-Night geben, die ist gut eingeschlagen bei uns“, sagt Chris, während Bingo-Moderator Dominik hinter ihm Kaffeetassen mit entsprechendem Heißgetränk volllaufen lässt. Am 3. April spielen Fly Cat Fly im Ritpide, und das Café nimmt am 26. April am stadtumfassenden Festival Honky Tonk teil, „das war die letzten Jahre richtig gut“. Abermals sind die Groovelastics für das Riptide gebucht: „Wir sind deren Stammladen und die unsere Stammband“, freut sich Chris.
Mit Quiznight und Bingo ist es in Kürze vorübergehend vorbei, weil ja der Sommer auf der Matte steht und das Riptide mit Veranstaltungen pausiert. Ab 1. Mai gilt die Sommerkarte, sagt Chris, für das Draußen-Leben gibt es dann Eiskaffee und Eistee. Außerdem freut sich Chris, dass das Riptide im September beim Magnifest mitmachen darf, und stellt fest: „Wir werden im gleichen Monat volljährig.“ Ob er das zum Anlass für eine große Geburtstagsfeier nimmt oder lieber auf die runden 20 Jahre wartet, hat er noch nicht entschieden.
Und dann richtet das Riptide mit dem Verein Hip-Hop-Kultur zum zweiten Mal die Braunschweiger Ausgabe des Hannoveraner „Hola Utopia!“-Street-Art-Festivals aus, „dieses Mal in den Sommerferien“, so Chris, und zwar vom 28. Juli bis 3. August. „Das haben wir letztes Jahr in rund zwei Monaten aus dem Boden gestampft“, erzählt er, und verrät: „Wir haben schon erste Künstler.“ Das ganze Jahr über solle es Veranstaltungen geben, aber eine Woche lang das Festival. Im vergangenen Jahr war es so, erzählt er: Montag Auftakt mit DJ im Riptide, erst ab Dienstag bemalten Künstlerinnen und Künstler von Nibelungen und Wiederaufbau zur Verfügung gestellte große Wände, so auch an der Torhausgalerie, wo Künstlerin Bona_Berlin eines von vier riesigen Murals gestaltete, und „die bleiben für immer“, freut sich Chris. „Die malen den ganzen Tag, dann ist Treffpunkt Magnikirchplatz, da gibt es mobile Wände und Aftershow“, Beispielsweise Open-Air-Kino mit themenbezogenen Filmen, eine Podiumsdiskussion zur kulturellen Bedeutung von Hip Hop oder ein Soundsystem, an dem auch Mert vom Magni-Kiosk beteiligt war. „Am Samstag wurde gebreakt auf dem Platz“, fährt Chris fort. Fett! Warum nur habe ich davon so absolut gar nichts mitbekommen?“ Chris mutmaßt: „Letztes Jahr war es spontan, dieses Mal planen wir es rechtzeitig, wir haben viel Vorbereitungszeit.“ Was eine intensivere Ankündigung mit einschließt.
„Hola Utopia!“ kommt eigentlich aus Hannover, „wir haben es nach Braunschweig geholt“, erzählt Chris. Es gehe um Identität im Hip Hop, „ich freue mich tierisch darauf, weil ich das liebe, diese Kultur“, strahlt er. Denn: „Ich knüpfe damit an meine Wurzeln an“, schließlich war er vor 25 Jahren an der dreimaligen Veranstaltung „Urban Discipline“ in Hamburg beteiligt, in deren Rahmen er auch Banksys Hand geschüttelt hatte. Die Belastung mit einem Termin kurz nach dem Magnifest wie im vergangenen Jahr solle den Nachbarn dieses Mal erspart bleiben, „das wollen wir nicht, wir gehen ins Sommerloch“, erläutert Chris, der mit dem Schwärmen für das Festival gar nicht aufhören mag. Dominik bestätigt ihn: „Das hat auch den Arbeitern Spaß gemacht!“
Olli und ich müssen allmählich an den morgigen Wecker denken. Zum Abschied erinnert mich Chris noch an den Record Store Day am 12. April, dann treten wir auf den Magnikirchplatz, der zwar im Dunkeln liegt, aber von hellen Spots illuminiert ist. Da käme ich auch auf die Idee, dort Boule zu spielen. Oder Breakdance zu machen. „Das habe ich letztes Jahr sogar gesehen“, erzählt Olli. Warum nur ging die Aktion komplett an mir vorbei, obwohl ich ja im Riptide unterwegs war? Na, dieses Mal bin ich ja rechtzeitig informiert! Und wir machen uns auf den Heimweg of Doom. Ist ja eh alles bald vorbei.
Matthias Bosenick