#209 SOWASWIEDASJETZT

Donnerstag, 20. Februar 2025

Wenn ich mich nach fürs das Riptide neuen Nachbarn im Magniviertel umsehe, umrunde ich nie die Magnikirche, fällt mir gerade auf. Obwohl ich ja weiß, wie hübsch es dort im Windschatten des tausend Jahre alten Sakralgebäudes aussieht, mit dem schmalen Kopfsteinpflasterweg und den Stockrosen im Sommer. Irgendwann vor Jahren war ich mal im Rahmen der Kulturnacht zu einer Veranstaltung im Haus 3 des Staatstheaters, das da hinter der Kirche residierte, aber das ist lang her und es war dunkel und ich erinnere mich nicht mehr. Intuitiv lenke ich meinen Weg aber genau in Richtung des früheren Haus 3 – dort ist nach dessen Auszug nämlich der Braunschweiger Ortsverband des Kinderschutzbundes untergebracht, unter der schönen Adresse Hinter der Magnikirche 6a, die die schöne Lage des schönen, hinter dem Jugendtreff gelegenen Gebäudes ebenso schön wiederspiegelt.

Ein Fahrrad mit Büchern im Lenkerkorb steht vor der Tür, weitere Fahrräder wetteifern mit Büschen um die besten Plätze an der Wand, und nach meinem Klingeln an der Tür öffnet sich ein Fenster. Eigentlich hat Heide nicht viel Zeit, sagt sie, doch zehn Minuten würde sie sich nehmen, wenn ich mit ihr ins Wohnzimmer käme. Darauf lasse ich mich sehr gern ein, so folge ich ihr in einen Raum, in den ich aus dem Stand umziehen würde: hohe Wände, Stuck, große Fenster, eine Theke, viel Platz, schöne Türen – und eine lange Liste an Interessenten, wie Heide lachend abwinkt.

Die vor 38 Jahren aus Berlin zugezogene Heide ist beim Braunschweiger Kinderschutzbund angestellt mit den Aufgabenbereichen Sekretariat, Raumvermietung sowie Koordinierung des Hilfe-Telefons. „Wir machen Lobbyarbeit für Kinder“, bringt sie die Aufgaben des bundesweit arbeitenden Kinderschutzbundes auf den Punkt. Dazu gehört unter anderem, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. „Wir setzen uns ein für Partizipation von Kindern in Prozessen, die sie betreffen“, fährt sie fort, und meint damit etwa Schulsystem und Kitas, oder bei einer Spielplatzplanung „die Kinder fragen, was wollt ihr für Spielgeräte haben“, denn es sollen „soziale Bedürfnisse nicht an Kindern und Jugendlichen vorbei“ geplant werden.

Dabei ist der Ortsverband eine Projektkoordinierungsstelle, kein Treff wie das Jugendzentrum nebenan: „Hier gehen nicht 100 Kinder jeden Tag ein und aus“, sagt Heide. Projekte koordiniert das Team hier so viele, dass sie in der Kürze der Zeit gar nicht alle umreißen kann. „Projekte für Kinder an Schulen, Kitas und in Familien“ umfasst das Angebot, Heides eigenes wichtigstes ist die Telefonberatung, „die Nummer gegen Kummer“, die hier im Hause ansässig ist. „Wir haben auch ein Elterntelefon“, ergänzt sie. Beide Nummern sind „bundesweit kostenfrei und anonym“ für Beratungen erreichbar.

Ein weiteres Projekt sind die Braunschweiger Patenschaften: Sobald beispielsweise eine Familie wahrnimmt, die älteste Tochter käme zu kurz, weil der jüngere Bruder beeinträchtigt ist, können sich die Eltern beim Kinderschutzbund melden und einen Paten zugeteilt bekommen, der sich einmal pro Woche der Belange der Tochter annimmt. Oder jemand, der mit Kindern neu in der Stadt ist und „ins soziale Gefüge kommen“ möchte und dafür von einem Paten an die Hand genommen wird. Oder alleinerziehende Mütter, die acht Stunden täglich arbeiten müssen und nicht wissen, wohin mit den Kindern. „Der Pate unterstützt nicht finanziell“, betont Heide, „nur als Begleitung.“ Heide selbst ist ebenfalls Patin, parallel zu ihrer hauptamtlichen Tätigkeit hier. Sie begleitet ein Kind „von Geburt an, es ist wie ein Familienmitglied“. Ziel dieser Patenschaften ist, dass die Familien sich irgendwann selbst helfen können.

Das neueste Projekt, an dem der Kinderschutzbund beteiligt ist: „Wir sind Teil des Braunschweiger Netzwerkes Kinderschutz“, sagt Heide. Das heißt: „Alle, die Hilfe anbieten, vernetzen sich und wissen voneinander.“ Eine hauptamtliche Kollegin koordiniert die Stellen und verknüpft sie, so dass alle sich kennen lernen, „zum Beispiel: Kennen alle Schulen die Nummer gegen Kummer?“, so Heide.

Außerdem bietet der Kinderschutzbund laut Heide Fortbildungen an, „zum Beispiel zur Kindeswohlgefährdung, wen ruft man, wenn ein Kind blaugeschlagen aus der Pause kommt?“ Daraus leitet sie die „Ober-Überschrift“ ab, „dass wir uns als verpflichtet für das Wohl des Kindes sehen“, und auch das der Eltern, denn das gehe Hand in Hand, „wenn‘s den Eltern gutgeht, geht’s auch dem Kind gut“. Deshalb gebe es für die Beratung hier auch keine Altersgrenzen. Auch sei ihre Stelle nicht dazu verpflichtet, „Dinge zu melden“, sofern es nicht „um Leben und Tod geht“, so Heide: „Es ist wichtig, dass Kinder wissen, dass sie ein Recht auf Beratung haben, ohne dass die Eltern davon wissen.“ Wenn ein Kind zu Hause etwa unglücklich sei, könne es der Kinderschutzbund bei Maßnahmen begleiten, ihm Ängste nehmen und es an andere Stellen weitervermitteln.

Während Heide den Raum weiter vorbereitet, etwa Papiere auf die Sitzgelegenheiten in dem Stuhlkreis legt, berichtet sie erfreut von der Fachtagung zu Resilienz bei Kindern, die gestern hier stattfand und die nach Ankündigung in nur 26 Stunden ausgebucht war. Sie greift nun die Geschichte des Raumes auf, in dem das Haus 3 des Staatstheaters 40 Jahre lang untergebracht war, sowie die nachbarschaftliche Lage: „Wir passen gut, thematisch, mit dem Kindertreff St. Magni, dem Jugendzentrum Magni, der Realschule Georg-Eckert-Straße – ins Viertel passen wir gut hin, sind gut zu erreichen.“ Mit dem Fahrrad besser als mit dem Auto, fügt sie augenzwinkernd an.

Sieben Mitarbeiter sind hier beschäftigt, berichtet Heide, dazu mit der Nachmittagsbetreuung in Grundschulen rund 40 Erzieher und Sozialarbeiter, dazu Haustechniker und Teilzeit-Bürokräfte, und natürlich die Ehrenamtlichen, „am Telefon, in Patenschaften“, da kommen nochmal 80 bis 100 Personen dazu. Zu denen zählt sie auch den Vorstand des Trägervereins. Während Heide noch die bundesweiten Tagungen und Schulungen erwähnt, die die Mitarbeitenden wahrnehmen, sowie die Supervision, die zum Angebot gehört, fällt ihr ein weiteres wichtiges Projekt ein, das sie betreut: „Ehrenamtliche besuchen Kinder an den 40 Grundschulen in Braunschweig – sie erzählen den Kindern: Was sind deine Rechte; es gibt 54, wie viele kennst du?“ Oder auch, um die Kinder zu sensibilisieren: „Sorgen, was sind das?“ Weil manche die ungute Situation, in der sie stecken, für normal halten. Die Nummer gegen Kummer verteilen diese Ehrenamtlichen dann auch gleich mit.

Als jugendlich gilt man bis zur Vollendung des 27. Lebensjahrs, erklärt Heide. Daran schließt noch ein Projekt an, nämlich „Jugendliche beraten Jugendliche“, an dem jene zwischen 16 und 27 teilnehmen können, von Ehrenamtlichen ausgebildet werden und sogar ein fürs Studium anerkennbares Zertifikat bekommen. Unter den Jugendlichen, die Heide zurzeit schult, sind zwei, „die machen das neben dem Abitur“, erzählt sie, und unterstreicht, dass grundsätzlich „alle Ehrenamtlichen willkommen“ sind. Aktuell ist die Jüngste gerade 18 geworden und die älteste 83, „das ist die Spannbreite“, auch da setzt der Kinderschutzbund keine Grenzen. Zudem betont Heide, dass alles „auf Spenden- und Förderbasis“ gestellt sei: „Wir sind eigenständig, wir können völlig frei arbeiten.“ Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen betreibt Heide „mein Leben lang“, sagt sie. „Ich habe selber Kinder, mittlerweile auch Enkelkinder.“

Inzwischen hat Heide ihre Vorbereitungen beendet und lehnt entspannt an der Tür. „Im Riptide haben wir bei Schulungen schon mal für zehn bis zwölf Leute einen Tisch bestellt“, erzählt sie. Ihre jüngeren Kolleginnen gehen gern ins Riptide, und sie geht dann ebenso gern mit, zur Pause oder abends, „da gehe ich auch mal allein hin“. Qualität und Preis-Leistungs-Verhältnis überzeugen sie am Ritpdie. Und allgemein: „Am Magniviertel gefällt mir, dass sich alle gegenseitig unterstützen“, schwärmt sie. „Es lebe das Magniviertel!“ Insbesondere der Sommer auf dem Magnikirchplatz gefalle ihr. Das Riptide lernte Heide bereits zu dessen Eröffnung im Handelsweg kennen: „Geil, Platten, das fand ich super“, erinnert sie sich. Und erzählt, dass sie sich freute, dass das Riptide jetzt gegenüber gelegen ist, seit sie an dieser Adresse arbeitet. Auch gefällt ihr, dass das Magniviertel nicht ausschließlich Gastronomie vorhält: „Es sollte gemischt bleiben.“ Sie strahlt: „Das Viertel kommt mir echt vor, authentisch – ein kleiner, alter Ortsteil, gefällt mir gut.“

Heides Veranstaltung beginnt gleich, sie begleitet mich nach draußen, wir verabschieden uns. Der Innenhof hinter dem Jugendzentrum ist wahrhaftig schön, mit Holzbänken, an denen man sich sommers vergnügte Runden vorstellen kann. Kaum minder vergnügt kicken einige Kinder auf dem Kirchhof gegenüber Fußball. Ins Riptide sind es wahrhaftig nur wenige Schritte um die Kirche herum. Im Riptide sehe ich, dass Lautsprecher aufgebaut sind – es gibt also Livemusik heute Abend. The White Album spielen nachher, klärt mich Dominik auf, der mit Anthea und Melis hinter der Theke Thekenaufgaben verrichtet. „Die ziehen überall Leute und sind ausverkauft“, weiß Dominik, und erzählt, dass Melis, nachdem er ihr die Band angekündigt hatte, in der Küche zu sabbern begann, und Melis lacht: „Das war wegen der Falafel!“ Gutes Stichwort, ich bestelle gleich den Falafel-Burger; mein Wolters drückt mir Anthea einfach in die Hand und steigt mit Kaffee auf dem Tablett mit mir die Treppe ins Obergeschoss hinauf.

Dort sitzt meine Peergroup bereits, ausnahmsweise mal nicht unten, weil der Platz ja als Bühne gebraucht wird. Die Musiker trafen eben ein, als ich gerade mit dem Bier die Theke verließ. Die MokkaBären sitzen schon seit einer Weile da und bestellen bei Anthea gleich die nächste Runde: Olli noch ein Wolters, Stefan ein Zwickl mit Glas, Henning ein dunkles Hefeweizen und Uwe eine Fritz-Kola „mit ohne Zucker“. Um uns herum wird es immer voller, es gibt alle Hände voll zu tun. Als ich der Runde erzähle, woher ich gerade komme, sagt Uwe: „Kenn ich.“ Er ist nämlich selbst einer dieser Paten. Er weiß außerdem, dass der Kinderschutzbund früher im Madamenweg untergebracht war, bevor das Haus 3 das Magniviertel verließ. Und Olli war im großen Saal vom Haus 3 mal mit seiner Theatergruppe aufgetreten. Braunschweig wieder!

Und manchmal reicht dieses Braunschweig sogar noch weiter. Als wir uns vor einigen Wochen hier mit den Bären trafen, gesellte sich Karsten zu uns, weil er mir sein neues Buch „FHELERKULTUЯ“ in die Hand drücken wollte, erschienen in der Edition Wortmax. Bald waren nur noch Stefan, Karsten und ich übrig. Stefan und Karsten kannten sich nicht, was mich wunderte: Stefan als Mitgründer vom Filmfest und Karsten als Autor und Cartoonist hätte ich als einander bekannt erwartet, insbesondere, da sie Leidenschaften für gemeinsame Themenfelder teilen. Für mich hieß das: zurücklehnen und entspannt zuhören. Der Schlagabtausch zwischen den beiden war schnell und beseelt, zwischen Film und Comic, und selbst als jemand, der sich für beides ebenfalls interessiert, staunte ich doch sehr über die Namen, Titel, Jahreszahlen, Hintergrundinfos, die die beiden aus den Ärmeln schüttelten. Auch mit Braunschweiger Lokalgrößen teilten sie Bekanntschaften, unter anderem mit einem Gerald, der wie Karsten beim Cocktail-Magazin arbeitete und in Sachen Film aktiv war. Bis er in Eckernförde ein eigenes Filmfest gründete, erlauschte ich. Er lebt ja in Kiel und macht da in einem winzigen Programmkino, der Pumpe, besondere Programme, bisweilen auch mit Super-Acht-Filmen, vernahm ich.

In dem Moment erstarrte ich: Diesen Teil der Geschichte kannte ich nämlich bereits. Und zwar von meiner kleinen Schwester Miriam, die mir genau das erzählte: Als zugezogene Kielerin lernte sie einen Mann kennen, der sich in einem Programmkino austobte. Ich schrieb sie schnell bei Whatsapp an, ob ihr der Gerald etwas sagt, und stante pede kam die Antwort: „Ja, wie kommst du jetzt auf den?“, mit dem Zusatz: „Toller Mann!“ Ich erklärte es ihr und erzählte es Stefan und Karsten – und die Mischung aus Staunen und Lachen von unserem Tisch reichte bis an den Nord-Ostsee-Kanal. „Braunschweig!“, lachte Stefan. Ja, nee: Kiel!

Heute sind unsere Themen etwas ernster, angesichts der Bundestagswahl am Sonntag, der Situation in den USA und der bedenklichen gesellschaftlichen und politischen Rückschritte überall auf der Welt. Wir sind intensiv ins Gespräch vertieft, deswegen überhöre ich es beinahe, als Olli plötzlich über meine Sätze zu lachen beginnt: „Zum Beispiel, was du gerade gesagt hast: ‚Sowas wie das jetzt‘, guter Plattentitel!“ Der bedrückende Ernst fällt von uns, Olli fährt fort: „Aber alles in einem Wort! Und in Großbuchstaben!“

Anthea bringt eine Schale Pommes an unseren Tisch, auf die sich Henning, Uwe und Stefan stürzen, und mir den Burger. Die Zeit verrinnt, Henning verlässt uns als erster und sucht seine Habseligkeiten aus dem sich übermannshoch auftürmenden Stapel neben Olli zusammen. Stefan ist der nächste mit diesem Anliegen, Olli geht ihm zur Hand und fragt: „Kommt noch was dazu, darf’s noch etwas mehr sein?“ Mehr Zeit vielleicht, denn als sich kurz darauf unsere Getränke neigen, zieht unsere Zeit nach und wir schlendern ins Erdgeschoss. Dort treffe ich Chris, der von der Band schwärmt, die gleich auftritt und die ich leider verpassen muss. Aus Odense kommt das Trio The White Album, weiß Chris; ihm gefällt die Mischung aus Postrock und Electro mit dreistimmigem Gesang. „Gänsehaut“, sagt er. Die ich heute davon leider nicht bekommen werde – aber am 3. April plane ich mit ein, mir hier im Riptide Fly Cat Fly anzugucken. Aber jetzt, raus in die Nacht!

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert