#10 Elf

Während André die Einkäufe erledigt, sitzt Chris mit Papierkram am Rechner, bereitet Pakete für den Postversand vor und trifft Vorbereitungen für die vegetarische BBQ-Party am Samstag. Der Himmel ist grau, es ist feuchtwarm, regnet aber nicht. Eine Stadtführung bleibt im Achteck vor dem Café Riptide stehen, die Touristen blicken neugierig und interessiert nach oben.

Bei der Gelegenheit erklärt Chris den Namen „Riptide“. Drei ihm wichtige Elemente seien in den Namen eingeflossen. „Auf Platz drei 80er-Jahre-Serien, speziell ‚Trio mit vier Fäusten’“, sagt Chris. Die Serie hieß im Original nämlich „Riptide“, benannt nach dem Kreuzer, auf dem sich das Hauptquartier der Protagonisten befand. Platz zwei und eins seien gleichberechtigt, so Chris. „Der Brandungsrückstrom bei Ebbe und Flut heißt ‚Riptide’, das habe ich aus Respekt und Ehrfurcht vor den Naturgewalten, vor Mutter Erde gewählt.“ Ebenso wichtig sei ihm der Hauptgrund: „Ich liebe Wasser, das Meer, das Surfen“, schwärmt er. „Und das Wasser, das am Bug eines Surfbretts verdrängt wird, heißt auch ‚Riptide’.“ Das erinnere ihn an Urlaube mit lieben Freunden, ans Surfen, auch an Urlaube mit den Eltern, in Dänemark, auf Fanø, in einem Haus in den Dünen, und an Brandung, Brise und den Duft des Meeres. „Ich hätte gerne ein Haus an der See“, seufzt Chris.

Luis kommt ins Café und bestellt eine Latte Macchiato. Er berichtet von seinem Ferienjob, den er gerade hinter sich hat: „Nachtschicht in einer Tankstelle.“ Sein Biorhythmus sei jetzt völlig durcheinander, „ich komme nicht vor halb drei zum Schlafen.“ Am Donnerstag geht die Schule wieder los, Luis kommt in den dreizehnten Jahrgang und wird gleich zu Anfang eine Kursfahrt nach Prag machen. „Da werde ich mir eine Wand suchen und sprayen, legal“, sagt er. Luis ist nicht nur Sprayer, sondern auch Schlagzeuger, und zwar bei Forasmile, deren aufwendig verpackte CD es demnächst auch wieder im Café Riptide zu kaufen gibt. „Wir machen eigentlich Screamo, werden aber immer postrockiger“, sagt er. Das Kaffeegetränk nimmt er dankbar entgegen. Für seinen nächsten Ferienjob hat er auch schon eine Entscheidung gefällt: „Dann gehe ich zu VW, da arbeite ich drei Wochen am Stück und habe die anderen drei Wochen frei – so hatte ich gar keine richtigen Ferien.“

Die Flyer-Box steht inzwischen in der Ecke zwischen den Platten und den entsprechenden Abspielgeräten. Chris präsentiert einen neuen Gemeinschaftsflyer, initiiert von Angelos Sammlershop, „AST Merchandise“, in der Sonnenstraße. Dem gegenüber ist kürzlich „Raute Records“ eingezogen, ein Plattenladen, der überwiegend gebrauchtes Vinyl anbietet. Uwe von Raute Records und Chris haben bereits mehr als nur Kontakt aufgenommen: Eine Vinyl-LP mit Raute-Werbung hängt im Riptide. „Bei denen hängt auch eine von uns“, sagt Chris. Den Laden findet er gut: „Der hat eine schöne Auswahl.“ Der Flyer sei zudem Bestandteil der Riptide-Sommer-Werbeoffensive, ergänzt Chris: „Im ‚Subway’ werben wir dreimal hintereinander, außerdem im MK-Jahrbuch.“ MK, das ist das Gymnasium Martino-Katharineum, die Schule um die Ecke.

Beim Thema „Subway“ erscheint zufällig dessen Chefredakteur Christian im Café, begleitet von Sven. „Wir haben keine Zeit“, sagt Christian gleich, „wir stecken grad in der Heft-Produktion.“ Er bringt Chris zwei Jutetüten voller gebrauchter LPs mit, zum Beispiel „What Does Anything Mean? Basically“, das zweite Album von The Chameleons. „Die haben in den 80ern drei Platten rausgebracht, aber heute kommt da nicht mehr viel“, sagt Christian. Derweil stöbert Sven bei den neuen Platten. „Nicht zum Auflegen, nur so“, sagt er. Christian und er spielen nämlich regelmäßig Britpop im „Schwanensee“, unter dem Party-Namen „Champagne Supernova“. „22 Dreams“, das neue Album vom Paul Weller, fände er langweilig. „Die neue Single von Oasis auch – kein Verlass mehr auf die alten Helden.“

Eine kleine Kiste mit Second-Hand-LPs steht bereits im Riptide. „Wir stellen demnächst noch einige Kisten dazu, zum Beispiel mit 80er-Wave-Sachen, Siouxsie And The Banshees, Bauhaus und so“, kündigt Chris an. Eine ganze Sammlung haben sie aufgekauft, dazu wollen sie noch ein paar andere Second-Hand-Sachen reinnehmen, wie die von Christian. „Aber richtig aufziehen wollen wir das nicht, das können wir auch aus Platzgründen nicht“, sagt Chris. Außerdem gäbe es ja bereits Raute Records. Er klappt nebenbei eine bestellte LP in eine Paketpappe, umwickelt diese mit Paketklebeband und schreibt eine Adresse auf den Karton. Zum Thema Second-Hand-Läden in Braunschweig fällt ihm Ran7 ein. „Den fand ich gut“, sagt Chris, „ich war richtig geschockt, als der dicht gemacht hat.“

Mit „A Love Supreme“ von John Coltrane auf Vinyl in der Hand geht Martin an die Kasse. Hinter Chris erblickt er Coltranes „Blue Train“, ebenfalls auf Vinyl. „Das ist eine Audiophil-Nachpressung auf Doppel-Vinyl in 45 Umdrehungen“, erklärt Chris. Martin ist neugierig geworden, bleibt aber skeptisch. „Mit 200g-Vinyl-Pressungen bin ich auch schon mal auf die Nase gefallen“, erzählt er. „Zum Beispiel mit ‚American IV’ von Johnny Cash, die habe ich dreimal umgetauscht, die war immer wellig.“ Den Grund dafür kennt er auch: „Es gibt nicht mehr so viele Presswerke, da muss es schnell gehen, da werden die Platten frisch gepresst eingeschweißt.“ Für fachgerechtes Abkühlen bliebe da keine Zeit. Aber das sei zum Glück nicht die Regel.

Dazu weiß Chris zu berichten, dass die Vinyl-Ausgabe eines Albums für manche Bands erst den Erfolg bringt. „Die White Rabbits wären sicherlich auch erfolgreicher, wenn es deren Album auf Vinyl gäbe“, glaubt er, und gibt ein Beispiel. „Grails haben 2003 und 2004 auf Neurot Recordings zwei Alben herausgebracht, die niemanden interessiert haben, aber als ein Indie-Label die 2006 zu je 1.000 Stück auf Vinyl nachpresste, waren sie ein Hit – deren Drone-Rock wird eben gerade in der Vinyl-Szene gerne gehört.“

Ebenfalls auf Vinyl kauft sich Jörn „Lookout Mountain, Lookout Sea“ vom Pavement-Vorreiter Silver Jews und „Los Angeles“ von Flying Lotus. „Das ist eine Mischung aus Boards Of Canada und Aphex Twin, das ist das derzeitige Flaggschiff des Warp-Labels“, sagt Chris. Ein breites musikalisches Spektrum also. Jörn grinst: „Hauptsache gute Musik.“

„Subway“-Designer Chris N. bestellt bei Chris einen Kaffee zum mitnehmen und kauft einen Button dazu. „Hast du schon die Mails gecheckt?“, fragt er. Für die anstehende Party zum ersten Geburtstag des Café Riptide am 20. September hat Chris N. den Flyer gestaltet – das Café gibt es jetzt also bereits seit elf Monaten. „Das macht er schon seit acht, neun Jahren für uns“, erzählt Chris, „schon zu Mailorder-Zeiten hat er Anzeigen, Flyer und so designt.“ Chris N. dreht sich eine Zigarette. „Sag mal, wie du den Entwurf findest“, bittet er. Da ist Chris völlig zuversichtlich: „Deine Arbeit ist immer gut.“

André kommt vom Einkaufen zurück und bringt einige volle Tüten in die Küche. Dann öffnet er die zweite Eingangs-Flügeltür und schiebt den roten Teppich etwas nach draußen. Zurück am Tresen packt er neue Pappbecher für den Kaffee zum Mitnehmen aus und erzählt: „Gerald Fricke und Frank Schäfer waren letztens hier.“ Fricke und Schäfer kommen aus Braunschweig und haben schon mehrere Bücher veröffentlicht, Schäfer hatte mit Salem’s Law selber mal eine Band und schreibt unter anderem auch für den deutschen Rolling Stone. „Sie saßen draußen, haben ein paar Biere verhaftet und über Gott und die Welt sinniert“, fährt André fort. Er wischt ein paar Milchtropfen neben der Kaffeemaschine weg, bringt dann einige Sitzkissen nach draußen, räumt dort einen Tisch ab und leert danach den Briefkasten.

Währenddessen schauen sich Frank und Nicole im Laden um. Nicole ist zum ersten Mal im Café Riptide. „Ich finde meinen Musikgeschmack hier bedient“, sagt sie anerkennend. Zur Zeit gehöre dazu Sigur Rós, die sie auch auf dem diesjährigen Hurricane Festival gesehen habe. „Vor zwei Jahren habe ich die da schon mal gesehen, nachts, seitdem mag ich die.“ Auch das neue Album „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ gefalle ihr. Frank habe Sigur Rós schon vor Jahren beim Hurricane erlebt, als die wegen technischer Probleme erst spät in der Nacht anfangen konnten und daher kaum Publikum hatten. Seine Lieblingsband sei aber Radiohead, sagt er, und beginnt, seine Top-3-Konzerterlebnisse aufzuzählen: „Auf Platz eins Radiohead am 11. September 2001 in Berlin, wegen der Umstände.“ Er habe erst auf dem Konzert von den Flugzeugen in den Twin Towers erfahren. „Ich war zu dem Zeitpunkt in Südafrika“, wirft Nicole schaudernd ein. „Ich dachte, jetzt geht’s los, ich sehe meine Familie nie wieder.“ Sie unterhalten sich eine Weile über jenen Tag. Dann fährt Frank mit dem zweiten Platz auf seiner Konzert-Liste fort, auf dem ebenfalls Radiohead stehen, sogar mit einem aktuellen Auftritt der laufenden Tour. „Auf dem dritten Platz stehen Aereogramme, die haben vor ein paar Jahren für drei oder fünf Euro in Hannover gespielt – danach sind die leider pleite gegangen und haben sich aufgelöst.“ Nicole und Frank bestellen sich am Tresen Getränke. Zur Grillparty am Samstag wird Frank es nicht rechtzeitig schaffen: „Ich gucke Bundesliga, dieses Mal das Spiel Werder Bremen gegen Schalke 04 – ich bin ebenso großer Fan von Werder wie von Radiohead.“ Elf Freunde plus fünf also. Die beiden schnappen sich ihre Getränke und setzen sich nach draußen.

In der Küche räumt André die Geschirrspülmaschine aus. Mareike lockt ihn an den Tresen, indem sie mehrmals auf die Tischklingel haut. „Diese möchte ich gerne kaufen“, sagt sie und legt zwei Jutebeutel auf den Tresen, einen gelben mit einer Möwe und einen schwarzen mit einem Koi drauf. „Einen behalte ich für mich, den anderen kann ich gut zu Weihnachten verschenken“, sagt sie. „Blausalzen, eine Künstlerin aus Berlin, hat die gemacht“, sagt André und fragt: „Möchtest du einen Beutel für deine Beutel?“ Mareike verneint lachend, dankt und verlässt das Café gutgelaunt.

van Bauseneick
www.krautnick.de

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