#09 Kerzen (Wir sind)

Es regnet. „Leider“, sagt Chris hinterm Tresen. Denn Chrisse Kunst ist gerade dabei, im Café seine Ausstellung vorzubereiten, die am Abend eröffnet werden soll. Bei dem Wetter sitzen die Gäste natürlich drinnen, und Chrisse will sie mit seinen Vorbereitungs-Arbeiten nicht stören. Wer konnte denn auch mit so einem Sommer rechnen. Chrisse schnappt sich die Leiter, die am Tresen lehnt, klettert hinauf und wirft Nylonfäden über Heizungsrohre.

„Chrisse Kunst ist mein richtiger Name“, sagt Chrisse, „Christoph Kunst“, kein Künstlername. Chrisse kommt aus Wolfenbüttel, lebt und arbeitet aber in Berlin. Den Wolfenbütteler will er aber nicht ablegen: „Überall in meinen Arbeiten tauchen immer wieder Jägermeister-Flaschen auf.“ Zum Beispiel in dem großen, schwarzweißen Bild an der Außenwand, das er gerade befestigt. „Das ist das Cover zur ‚Get Wasted’-LP von Oliver Koletzki“, erklärt er. „Darauf sind sieben Jägermeister-Flaschen versteckt.“ Zu sehen ist eigentlich eine Straßenecke in Berlin, titelgemäß völlig verwüstet. Ein umgekipptes Metro-Schild sticht hervor. Und nicht nur die Jägermeister-Flaschen sind Indizien dafür, dass so eine Auftragsarbeit durchaus autobiographische Züge tragen kann. „Stimmt“, sagt Chrisse und zeigt an den unteren Bildrand, „hier steht auch ‚Brain’.“ An einem Bild von dem Ausmaß habe er mit einem schwarzen Stift eine Woche lang gezeichnet, sagt er, „da versteckt man schon mal so ein paar autobiographische Details.“ Beim Cover für die ‚Get Wasted’-Remix-LP ist es genauso. Dort sieht man auch einen „Köpi bleibt“-Schriftzug an einer Hauswand. „Dabei geht es um ein besetztes Haus in der Köpenicker Straße“, erklärt Chrisse. Seltsam, dass man ein solches Grafitto auch in Braunschweig am City-Kino sieht. Chrisse schmunzelt. „Ich kann mir sogar denken, wer das war.“

Wie die „Get Wasted“-Arbeiten sind die meisten Bilder der Ausstellung Reproduktionen, fast alle in schwarzweiß. „Nur diese beiden experimentellen Collagen sind original“, sagt Chrisse. „Die fand ich witzig, die sind ganz frisch, die habe ich noch nie ausgestellt.“ Premiere also im Café Riptide. Den Kontakt zu Chris und André habe Chrisse schon lange, bald 15 Jahre, sagt er. So sei es beinahe von alleine zu dieser Ausstellung gekommen.

Natürlich wird er auf das „Drei Tage wach“-Video von Lützenkirchen angesprochen. „Nein, da habe ich nicht Regie geführt“, wehrt er überrascht ab. „So kommen die falschen Gerüchte zustande – ich war der weiße Hase, und gedreht haben wir bei mir zu Hause.“ Und auch in diesem Video ist eine Jägermeister-Flasche zu sehen. Chrisse klettert zurück auf die Leiter und zieht sein Bild noch einmal gerade.

Charlotte jobbt während der Ferien im Café. „Das Riptide ist wie London“, schwärmt sie. Da komme sie nämlich gerade her, von einem halbjährigen Aufenthalt. „An London mag ich, dass es so offen ist“, sagt sie. Ganz anders als Braunschweig, wie sie findet. „Im Riptide kann ich außerdem noch etwas lernen, über neue Musik.“ Und alte Musik neu entdecken, sie hört zu Hause auch Joy Division. Man merkt ihr an, dass ihr der Job Spaß macht. „Ich will auch bis zum Ende der Ferien durchziehen“, sagt sie. Charlotte war es auch, die die außergewöhnliche Myspace-Seite für das Café Riptide gebastelt hat.

Inzwischen hat der Regen aufgehört, unter dem neuen Regenschirm sitzen schon wieder Leute. Nicht nur der Schirm ist neu. „Auch neu ist unser Becks-Schaukasten“, erzählt Chris. „Und wir haben hoffentlich bald Kreditkartenzahlung“, sagt er. „Wir können von unseren Kunden nicht erwarten, dass sie immer zum Bankautomaten laufen.“ Erleichtert atmet er aus. „Das haben wir bald – und Telefon hoffentlich auch.“

„Einen Drei-Bohnen-Kaffee“ bestellt Stephan vom Nexus. Drei Bohnen nur? „Das ist die Skala an der Maschine, wie stark der Kaffee ist“, erklärt Stephan. „Drei Bohnen ist der stärkste, schon fast an Espresso dran.“ Charlotte reicht ihm die Tasse. Neben ihm liegt ein Stapel Flyer für die Abgabe-Party der Videokunst-Aktion „Durchgedreht24“. „Das haben sie sonst immer in einem Atelier gemacht, dieses Mal wollen sie es etwas größer aufziehen“, sagt Stephan. Am Samstag um 19 Uhr geht’s im Nexus los, um 20 Uhr ist Film-Abgabeschluss, danach soll Party sein.

Einen Tag davor ist im Nexus ein Konzert von einer Band mit einem berühmten Schlagzeuger. „Wir bekommen ständig Emails: ‚Wann spielen die Dresden Dolls bei euch?’“, erzählt Stephan belustigt. In Wahrheit spielen am Freitag The World/Friendship Society, aber deren Drummer ist Brian Viglione, eine Hälfte der Dresden Dolls. „Die haben auf ihrer Myspace-Seite die Tourdaten von The World/Inferno Friendship Society gepostet, und jetzt glauben viele, dass die Dresden Dolls ins Nexus kommen.“

Chris und André packen derweil Kartons mit neuer Ware aus. Einen ganzen Schwung Vinyl hält Chris in den Händen. „Die neue Björk-Box ‚Wanderlust’“, kommentiert Chris. „Eine 12-Inch-Reihe, zusammengefasst als Vierfach-Box.“ Außerdem in der Kiste: „Ellen Alien, Mogwai, Young Team, neu aufgelegt, Infadels“ und noch viel mehr.

Auch für Gerhard sind ein paar Platten dabei, zum Beispiel die Mudcrutch-Doppel-LP, mit einem Stück mehr und der CD als Beilage. Seine Informationen über neue Platten bekommt er überwiegend aus dem Radio, wie er erzählt. „NDR Info ab 23.05 Uhr und dann ab 0.05 Uhr noch mal für zwei Stunden“, sagt Gerhard. „Die haben gute Redakteure da, wie Angela Gobelin.“ Und er lobt die Konzert-Auswahl. „Die bringen seltene Live-Auftritte, zum Beispiel von Rufus Wainwright.“ Auch Zeitschriften seien für ihn eine Informationsquelle, „aber nicht der deutsche Rolling Stone, die haben einen schlechten Geschmack.“ Die würden nämlich immer an The Doors herumnörgeln. „Die sind unantastbar, wie Goethe und Bach.“ Da gebe es keine Diskussion. „Bach war der einzige E-Musiker“, fügt er noch an, „alles andere ist U-Musik.“ Nein, seine Zeitschriften seien aus den USA und England, aber auch aus Frankreich und Italien. „Was man hier in Braunschweig halt so findet“, und das sei nicht mehr so viel wie früher. „Den NME gibt es hier auch nicht mehr, inzwischen findet man am Hildesheimer Bahnhof mehr als am Braunschweiger, zum Beispiel den US-Rolling Stone.“ Umso mehr freue er sich, dass er seine gesuchten Platten im Riptide bekommen kann. „Diesen Laden kann man nur loben!“

Inzwischen sind Chris, André und Charlotte dabei, die Tische beiseite zu räumen, die CD-Regale an die Wand zu schieben und Platz für das DJ-Pult zu machen. Nicht mehr lang, dann geht die Party los, bis dahin soll alles vorbereitet sein. Der DJ trifft ein, Marc Hausen, wie Chrisse auch aus Wolfenbüttel. Er schleppt sein Equipment ins Café. „Wir rocken heute alles kaputt“, kündigt er an. „Ich habe extra nur aggressive Mucke mitgebracht, wir rocken euch die Bude zu Splitterholz.“ Er grinst. Und relativiert seine Aussage: „Das wird eine Mischung aus Funkigem, Skurrilem und auf jeden Fall Altem.“ Er baut zwei Plattenspieler auf. „Alles andere würde ja auch dem Geschäft hier nicht gut stehen“, grinst er. Ein Geschäft hat er selber: Boardjunkies, am Ziegenmarkt. Er und Chrisse kennen sich auch schon ewig. „Nicht wahr, Chrisse-Schatz?“ Chrisse auf der anderen Seite des Raumes legt letzte Hand an seine Ausstellung und bejaht. Die beiden liefern sich sofort einen ausgesprochen unterhaltsamen verbalen Schlagabtausch.

Draußen räumt André die Karten und Zuckerstreuer von den Tischen und bringt neue Aschenbecher raus. Iris sitzt mit einer Freundin und einem Glas Sekt unterm Schirm. Den Sekt bekommen alle Ausstellungsgäste zur Begrüßung. „Brauchst du den Zucker noch?“, fragt André verschmitzt, als er an ihrem Tisch ankommt. „Falls der Sekt zu trocken ist.“ Iris lacht. „Klar, der ist nicht süß genug.“

Drinnen interessiert sich Anke für die Fadenmut-Sachen von Audrey. Besonders hat es ihr eine rosa Tasche mit bunten Totenschädeln drauf angetan. „Die ist hübsch“, findet Anke. Die brauche sie für Geld, Wimperntusche und Lipgloss. „Dann habe ich immer alles zusammen“, sagt sie. „Und das flasht, wenn man bezahlt und zieht seine pinke, psychedelische Totenkopftasche raus.“

Der Übergang vom normalen Café-Betrieb zur Ausstellungseröffnung ist fließend. Die Leute kommen, begrüßen sich, freuen sich, sich zu sehen, und verbreiten gute Laune. Bald sind alle Tische im Achteck besetzt. „Wie wär’s mit einem Sekt?“, fragt André Maren und Kasi. Beide sagen dankbar zu. Charmant, wie nur André sein kann, kommt er mit den Gläsern wieder und überreicht sie den beiden mit einem galanten „Madame“.

Marc legt die ersten Platten auf, seine Charakterisierung stimmt: Funkig, skurril und alt, zumindest überwiegend. „Mas que nada“ von Sergio Mendes & Brasil ’66 ist dabei, „All Along The Watchtower“ in einer langen, abgedrehten Version von Affinity aus dem Jahr 1970, sogar „Wir“ von Freddy Quinn. Ein paar Leute tanzen. Die Musik ist aber auch draußen gut zu hören. Die Sonne lässt sich noch einmal sacht blicken, bevor sie untergeht. André bringt Kerzen nach draußen. Inzwischen sind so viele Leute da, dass die meisten stehen. Sie unterhalten sich angeregt, strahlen, wirken zufrieden.

Kasi hat sich an den Nachbartisch gesetzt, für sie setzt sich Michael zu Maren. Michael ist Riptide-Gast der ersten Stunde. Maren und er unterhalten sich über Filme. Michael hat gerade „Happy-Go-Lucky“ von Mike Leigh gesehen und findet ihn gut. „Und das, obwohl ich Mike Leigh sonst eher nicht mag“, sagt er. Ihm gefiel Poppy, die Hauptfigur mit der positiven Ausstrahlung. „Lieber einmal lachen als dreimal Tabletten nehmen“, sagt er. „Ich fahre auch gerne mit der Straßenbahn, wenn Kinder mitfahren, die haben noch dieses Natürliche.“ Sie landen bei Lars von Trier. „Nach ‚Dancer In The Dark’ habe ich beschlossen, keinen Film von ihm mehr zu sehen“, sagt Maren. Aber nicht, weil sie den Film nicht mochte, im Gegenteil. „Das ging mir zu nah, das ertrage ich nicht.“ Michael erzählt von seiner ersten Kinoerfahrung: „‚Krieg der Sterne’, als Fünfjähriger.“ Das habe ihn nachhaltig beeindruckt, die Effekte, die Geschichte, die Sounds. André kommt an den Tisch und erzählt: „Ich war mal im Ski-Urlaub, da hat mich das Geräusch der Rollen vom Sessellift an einen Sound aus ‚Star Wars’ erinnert, da musste ich erst mal zehn Minuten stehen bleiben und zuhören.“

Chrisse hat Marc inzwischen am DJ-Pult abgelöst. Seine Mischung ist genauso wild wie die seines Freundes. Leute kommen von draußen und gucken sich Chrisses Bilder an. Auf dem Sofa sitzt Aziz. „Ich liebe die Bilder“, strahlt er. Auf einem steht „Don’t Kill For Peas“. „Töte nicht für das, was jemand isst“, sagt er, „Erbsen sind Frieden.“ Er sieht in allem einen Sinn und philosophiert unablässig, dabei unermesslich viel Zuversicht vermittelnd. Im Riptide ist er zum ersten Mal, Marc hat ihn mitgebracht. „Hier ist das Leben“, sagt er. „Wir sind wie eine Kerze, wir tragen das Licht von hier aus in die Welt, überall hin, jeder kann sich an uns seine Kerze anzünden.“ Aziz ist Mitte 40, kommt aus Ghana und lebt seit 15 Jahren in Deutschland, davon drei Jahre in Braunschweig. „Die Welt sieht so aus, wie wir sie uns vorstellen“, sagt er. „Wenn du nur die verrückten Sachen sehen willst, dann ist die Welt auch verrückt.“ Aziz strahlt positive Energie aus, er überträgt sie auf alle in seiner Umgebung. „Du hast deine Kerze entzündet“, sagt er. „Jetzt trage sie in die Welt.“

van Bauseneick
www.krautnick.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert