#14 Gabriel brennt

Zwei Tage vor Heilig Abend ist das Café Riptide mehr als voll. Die Gäste stehen an der Bar und warten auf freie Plätze. Die Sitzenden wirken entspannt, unterhalten sich angeregt und werden von Kerzen warm beleuchtet. Manche kaufen noch letzte Weihnachtsgeschenke, andere sogar erst erste. Gutscheine gehen gut, Accessoires kommen an und nach Platten wird gefragt. Chris und André arbeiten konzentriert und unter Druck, wirken aber glücklich: Es tut ihnen gut, dass das Café so voll ist. „Liegt’s an Weihnachten?“, fragt sich André verwundert, und grinst: „Jemand sagte mal, man müsste Weihnachten abschaffen, dann wären die Leute weniger gestresst.“ Die im Riptide sind es auch so nicht.

Eine umweltgraue Pappklapp-CD mit aufgeklebten Fotos legt Steffi auf den Tresen. „Kippen ist die beste Braunschweiger Band“, sagt sie. „Die CD ist liebevoll gemacht.“ „Talfahrt zur Futterkrippe“ heißt das Album. „Die kaufe ich als Weihnachtsgeschenk für mich selbst“, sagt Steffi. Im Riptide sei sie gerne. „Das ist schön“, findet sie. „Und wertet Braunschweig um 110 Prozent auf“, ergänzt Hendrik neben ihr. Hendrik wird Kike genannt, „das ist eine gender-neutrale spanische Koseform.“ Er ist Braunschweiger und lebt in Bielefeld, weiß also, wie es um die Stadt bestellt war, bevor es das Riptide gab. „Das Nexus war schon ein guter Anfang“, meint er. Er vergleicht es mit dem AJZ in Bielefeld und erzählt: „Das Nexus ist der schönste autonome Laden Deutschlands – jedenfalls sagt man das außerhalb Braunschweigs.“

Passend zum kalten Wetter ist die Getränkekarte inzwischen um Lumumba, White Mocca, Pharisäer und Chai Latte erweitert. Dennoch bestellt Dennis lieber einen Wein. André stellt ihm selbstverständlich ein Glas Leitungswasser daneben. „Ich war grad in einem schönen Weinladen und habe mich erstmal selber beschenkt“, sagt Dennis, mit nachlassender Spannung in der Stimme. „Die werde ich heute Abend austrinken.“ Den kommenden Weihnachtsfeiertagen sieht er eher unentspannt entgegen, weil da wieder Familienfeiern anliegen. „Irgendwann wird sich dann an der Flasche bedient, die immer auf dem Tisch steht“, sagt er mit versöhnlichem Blick. Das Weinglas in der Hand, pendelt er zwischen Theke und Plattenfächern hin und her. „Ich war vorhin schon mal hier und hoffte, dass es jetzt nicht mehr so voll ist“, sagt er. Ist es aber noch. Doch auch im Stehen lässt es sich unterhalten, außerdem trifft er gerade eine Bekannte und stellt sich zu ihr.

André und Chris haben alle Hände voll zu tun. Gäste kommen und gehen, bestellen und bezahlen, fragen hiernach, erzählen davon. Das freundliche Lächeln und der Eindruck, für jeden Menschen persönlich da zu sein, bleiben bei den beiden stets bestehen. „Es ist erstaunlich, wie viele Leute im Café einen Platz finden, obwohl es so klein ist“, sagt Chris. „Hier kommen sechs Leute rein und finden alle einen Platz.“ Die Gäste haben einfach zwei Tische zusammengeschoben. „In anderen Cafés geht das nicht, da lassen es die Besitzer gar nicht zu, dass man Tische zusammenstellt.“ Er zuckt verständnislos mit den Schultern.

Mit einem Plakatentwurf für ein Konzert am 27. Januar im Jolly Joker kommt Anselm an die Theke. „Euer Logo soll hier mit drauf, das hatten wir so abgesprochen“, sagt er. Chris bestätigt und überreicht den vereinbarten Betrag. Anselm macht das Booking für „Hotel 666“ und Ole Sander, die Veranstalter des Konzertes. „Ole macht ‚Stars In The City’, er ist der ehemalige Manager von Cappuccino und Jazzkantine“, erklärt er. Oben auf dem Plakat, auf das auch das Riptide-Logo kommt, steht der Bandname „Japanische Kampfhörspiele“ alias JaKa aus Krefeld. „Die sind bekannt, die laufen des Öfteren auf Arte“, sagt Anselm. „Was die machen, ist ja auch eher Kunst als Metal.“ Deren Sorte Metal bezeichnet Anselm als „Fun-Grind“. Ist Grind nicht immer Fun? „Nee“, wehrt er grinsend ab, „da gibt es auch ernste Bands.“ Die Grind-Metaller in Wolfsburg laufen seit neuestem nicht mehr matte-, sondern einen Arm schüttelnd im Kreis hintereinander vor der Bühne herum und haben definitiv Fun. „Davon habe ich auch schon gehört“, sagt Anselm. „Das hat sich wohl dieses Jahr auf Festivals durchgesetzt.“ Nach JaKa spielen noch Sniper und Ancestry. Letztere sind aus Braunschweig. „Ole Sander produziert die“, sagt Anselm. Vor dem Konzert findet noch Sanders ‚Stars In The City’ statt. „Das ist ein Newcomer-Contest, da geht’s um einen Plattenvertrag“, erklärt Anselm. „Das ist im Rolling Stone im Jolly Joker.“ Anselm wirkt völlig entspannt, obwohl er eigentlich nur wenig Zeit hat. Seine warmherzige Art passt zur Jahreszeit. „Schöne Weihnachten“, wünscht er noch im Gehen. Das passt doch: Für „Hotel 666“ hier sein und schöne Weihnachten wünschen. Er grinst. „Wir sind doch alle erwachsen geworden, oder?“

Angeblich haben die Japanischen Kampfhörspiele ihren Namen indirekt den Drei Fragezeichen zu verdanken. Japanische Kassettenrekorderhersteller würden ihre Geräte so herstellen, dass sie Drei-Fragezeichen-Hörspielkassetten fräßen, um so ihre japanischen Kampfhörspiele in den Markt zu pressen, schrieb ein Freund der Band, die sich davon gleich inspirieren ließ. À propos: „Die Drei-Fragezeichen-dreifach-LP ist endlich da“, sagt Chris. Nummer 125, „Feuermond“, gibt es nämlich als Jubiläums-Version wieder auf Vinyl, wie schon die Nummer 100, „Toteninsel“. Dieses Mal ist der Clou, dass es sich um drei Picture-LPs handelt. Die Bestellung hatte einige Zeit gebraucht. „Aber ich hab gleich ein paar aktuelle Kassetten mitbestellt, da bauen wir hier einen Aufsteller auf, in dem wir die präsentieren“, sagt Chris. Hörspielen auf CD traut er nicht über den Weg, obwohl neuere Serien wie „Gabriel Burns“ auf jenem Medium besser gehen. „Hörspiele gehören auf Kassetten“, sagt er.

„Hat noch jemand einen Tip für Silvester?“, fragt Christian. Die Party im Roten Korsaren klingt für ihn schon mal verlockend. Er kommt aus Wolfsburg und möchte lieber in Braunschweig feiern, weil ihm die Stadt besser gefällt. „Im Meier ist auch Party“, weiß er bereits, sieht sich aber noch nach Alternativen um. Christian hat Zeit und verbringt sie damit, für sich zu entscheiden, ob ihm die Hermann- oder die Fritz-Cola besser schmeckt. Diese Zeit nutzt er auch zum Erzählen. Sechzehn Jahre hatte Christian bei Volkswagen gearbeitet und dann die Abfindung angenommen. „Lieber eine schlecht organisierte Demokratie als eine gut organisierte Diktatur“, kommentiert er seinen Weggang lakonisch. Heute arbeitet er als Personal Coach, freiberuflich. „Ich kann mit Leuten reden und sehe deren Schmerz“, sagt er. „Ich habe die Fähigkeit, ihnen den Schmerz zu entziehen.“ Das liefe aber nicht so gut, sagt er. „Man kann das nicht verkaufen wie Gebrauchtwagen.“ Viele rannten davon, sobald er an ihr Innerstes gelangte.

Christian kommt vom Hölzchen zum Stöckchen. Die brennenden Kohleflöze in China machen jede Klimapolitik obsolet, meint er. „Kauf dir also einen 911er und tritt aufs Gas.“ Er liebe Verschwörungstheorien. „Guck dir auf Google Videos den Film ‚Zeitgeist’ an, danach setzt du dich mit einem Kaninchenfell vor die Höhle.“ In dem Film ginge es um Religionen, 9/11 und den US-Dollar. „Seit Atomkraftwerke Klimaschutz sind, glaube ich sowieso nichts mehr.“ Er bleibt beim Medium Film. „Kennt jemand ‚Die Legende vom Ozeanpianisten’?“ Nach dem Roman „Novecento“ von Alessandro Baricco. „Mit Tim Roth als Protagonisten“, ergänzt André. Christian staunt. „Ich hätte gedacht, dass den keiner kennt.“ Dafür kennt niemand „Phase IV“, ein Film mit intelligenten Ameisen, die die Menschheit vernichten wollen, und dessen Handlung Christian begeistert erzählt.

Dann landet er bei Musik. Die Compilations des Schriftstellers Joseph von Westphalen mag er gerne, zum Beispiel „Wie man mit Jazz die Herzen der Frauen gewinnt.“ Diese Sorte Jazz mag er, nicht den dudeligen. „Die Instrumente sind da, sie sind wichtig, aber sie unterstützen nur die Geschichte, die die Stimme erzählt.“ Über eine vernünftige Anlage könne man die Aufnahmen nicht hören, sagt Christian. „Die sind alt und knacken, aber auf dem iPod hört man das nicht.“ Dann fällt ihm noch The Music Machine ein, eine Band aus den 60ern oder 70ern. „Aus den 60ern“, bestätigt ein Gast en passant. „Das haben die Beatles nicht besser hingekriegt“, meint Christian.

Ladenschluss ist allmählich überschritten, Christian macht sich bereit zum Gehen. Es fällt ihm nicht leicht. „Das ist ein Ort der Zuflucht hier“, meint er. Das Riptide leert sich, es wird stiller. André und Chris hören nicht auf, herumzuwuseln. „Tagesabschluss heißt, dass man das am Ende des Tages macht und das nicht in den nächsten Tag mit reinschleppt“, sagt Chris. André und er stellen Tische zurecht, bringen die Sachen von draußen herein, löschen die Kerzen, packen neue LP-Lieferungen aus, machen sich an den Papierkram und essen nebenbei Schokolade. „Die hat uns eine Stammkundin geschenkt“, sagt André. Zusammen probieren sie sich durch die verschiedenen Sorten. „Die hier ist mit Chili“, stellt Chris fest.

„Für Dr. Pepper wird das ein riesiger logistischer Aufwand, wenn die jedem Amerikaner eine Dose schicken wollen“, meint Chris, abrechnend und genüsslich kauend. Das hatte die Firma ja versprochen, wenn W. Axl Rose sein „Chinese Democracy“ noch vor Ende des Jahres 2008 als CD herausbringt. Das hat er ja nun gemacht und damit den lustigsten Running Gag der Musikgeschichte beendet. „Dr. Pepper gibt’s in Deutschland inzwischen an Tankstellen“, sagt Chris. „Die hat einen geilen Kirschgeschmack.“ Die Cola schmecke ungefähr so künstlich wie Weingummikirschen. „Wenn du die trinkst, merkst du noch nichts, aber sobald du heruntergeschluckt hast und absetzt, kommt die Kirsch-Bombe.“

An Heilig Abend hat das Riptide noch bis zum frühen Nachmittag geöffnet, dann sind zwei Tage Familienfeiern angesagt. Am Samstag legt Chris im Nexus auf, da startet wieder seine „Pleasure Park Party“. „Das wird schön“, sagt Chris. „Nach drei Tagen Weihnachten.“

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de

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