Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, und doch ist es so kalt, wie es im November allmählich auch sein sollte. Immerhin regnet es nicht, Nebel gibt’s auch keinen. „Etwas Warmes“, bestellt Katharina daher bei Chris. „Genau das Richtige bei der Kälte“, sagt der. „Ich nehme einen Kafka“, sagt Katharina, „der füllt den Magen.“ – „…und macht wach, und schmeckt“, ergänzt Chris. Einen Mandel-Muffin probiert Katharina auch. Sie ist gerade in der Stadt unterwegs, um Nikolausgeschenke für ihre Chefs zu kaufen. „Ich habe mich bereit erklärt, weil ich dieses Mal Ideen hatte“, sagt sie, „und außerdem bin ich dann auch erst in 24 Jahren das nächste Mal damit dran.“ Am Wochenende hatte sie für ihre Freunde eine Barfuß-Tanz-Party veranstaltet, zum ersten Mal. „Das ist gut angekommen“, sagt sie erleichtert. Wie sie sind viele ihrer Gäste über 40 und finden selten Gelegenheit zum Weggehen und Tanzen. „Man spürt den Bedarf“, sagt Katharina. Daher soll es auch unbedingt ein zweites Mal geben.
Im Riptide sieht es heute etwas anders aus. Die CD-Fächer stehen quer hintereinander im Raum und teilen ihn so. Daneben lehnen Abdeckplatten. „Das sind Tischaufbauten“, erklärt André. Die könne man über die CD-Fächer legen und die dann als Tische für Gäste oder DJs nutzen. Die Abdeckungen nehmen etwas Platz weg, aber André beruhigt: „Das ist keine Lösung für immer.“ Seit letzter Woche hängen auch neue Fotos an den Wänden, von Nadine Poser. Die Ausstellungseröffnung „Capturing Beauty“ war am Samstag. Eine Soul-Party gab’s auch im Riptide. „Das war eine stramme Woche“, sagt André, sichtlich darüber erfreut.
„Hast du was von Tiger Lou?“, fragt Moritz. André kann ihm auf Vinyl das Album „Is My Head Still On?“ anbieten, das neue, „A Partial Print“, derzeit nur als CD. „Die LP ist genau die, die ich suche“, meint Moritz. „Bei der Neuen mag ich die Lieder nicht so sehr.“ Moritz ist mit Hagen da. „Vinyl, was gibt’s besseres?“, kommentiert Hagen Moitz’ LP-Wahl. Beide studieren seit einem Jahr in Braunschweig und schauen sich nach für sie interessanten Weggehmöglichkeiten um. „Ich habe das Nexus jetzt erst entdeckt“, sagt Moritz. „Ich war auf der Pleasure Park Party, das war genau meine Musik, da habe ich ständig getanzt.“
Moritz kommt aus Malente, Hagen aus Lehrte. „Wenn man in der Landeshauptstadt ist, denkt man, was soll ich woanders“, erzählt Hagen. „Aber in Braunschweig geht was.“ Besonders liegen beiden eben das Nexus und das Tegtmeyer. Vom Riptide sind sie überrascht. „Ich habe gehofft, dass ich mir die neue Friska Viljor hier bestellen kann, aber als ich reinkam, hatten sie sie sogar da“, sagt Moritz anerkennend. Hagen hört ganz gemischte Musik, „Schwarze Soul-Musik von Ray Charles, aber auch Hip-Hop“, sagt er. Freunde von ihm machen Hardcore, „aber das ist nicht ganz so meine Richtung.“ Aber eines findet er daran gut: „Man kennt die von der Schule, und dann hält man eine LP von denen in der Hand – das ist etwas Besonderes.“
Beide schwärmen von einem Tüftler, der in der Nähe des Affenfelsens einen Thorens-Fachhandel hat. Den Namen haben sie vergessen, aber „wenn ihr mal Probleme mit euren Plattenspielern habt, dann geht zu dem.“ Sie erzählen, wie sie zu dritt ihre Geräte bei ihm abgegeben haben, und der am Telefon zwischendurch meinte, er habe gerade keine Zeit, denn es seien drei junge Studenten da, denen er erst mal die Funktionsweise eines Plattenspielers beibringen müsste, die wüssten so was ja nicht mehr. Beide lachen darüber. „Ich habe meinen Plattenspieler auch erst seit kurzem“, sagt Hagen. Jetzt sammle er alte Vinyl-LPs, zum Beispiel von The Doors. Doch, ein breiter Geschmack.
Beide sprechen von Toleranz, Offenheit und Bodenständigkeit, die sie sich bewahren wollen. „Eine Freundin studiert Jura“, erzählt Hagen. „Der habe ich die Empfehlung gegeben, einen Brief an sich selbst zu schreiben, mit ihren Ideen und Vorstellungen davon, was sie mit ihrem Studium erreichen will, und den soll sie in zehn Jahren lesen und gucken, was sie davon wirklich umgesetzt hat.“
Dann erzählt Hagen, „wie die Stadt“, wie er zu seinen Namen gekommen war. „Meine Mutter hat in der Schwangerschaft die Nibelungensage gelesen“, sagt er. „Ein Kollege von mir heißt Bilbo – da kann man sich vorstellen, was seine Mutter in der Schwangerschaft gelesen hat.“ Der sei sogar der einzige Bilbo in ganz Europa. Hagen blickt zu Moritz und sagt: „Bei dir ist auch klar, was deine Mutter gelesen hat – du hast bestimmt auch immer der Witwe Bolte die Hühner geklaut, oder?“
Es gibt noch weitere Neuerungen im Riptide, wie André anschließend aufzählt: „Wir haben Mixgetränke und Schnäpse im Angebot, Whiskey, Gin, Jägermeister, Tequila, und zur kalten Jahreszeit wöchentlich wechselnde Suppen.“ Der Whiskey ist ein zehnjähriger Bushmills, die aktuelle Suppe eine Erbsen-Minz-Crème-Suppe mit feiner Chili-Note. „Ab morgen gibt’s eine Zwiebelsuppe“, sagt André. Eine Praktikantin war während der Herbstferien im Einsatz. „Iska war bereits unser vierter Praktikant, Andreas hieß unser erster“, sagt André.
„Es ist gut, dass es das Riptide gibt“, sagt Olli. „Das hat die Szene in Braunschweig gebraucht.“ Er kommt aus Salzgitter und kennt das Café, seit es im Bau war. „Ich bin mit meiner Frau oft vorbeigekommen und habe gedacht, dass wir da unbedingt hin müssen.“ Seine Frau ist gerade in der Stadt unterwegs und Olli nur auf Stippvisite im Riptide. Aus seiner nichtschwarzen Jacke hängt ein Lanyard vom M’era Luna. „Ich kenne Andrew Eldritch persönlich“, beginnt Olli zu erzählen. „Ich hab schon mit ihm gefeiert, aber der ist heute satt, der lässt seine Fans hängen.“ Kennen gelernt habe er die Sisters Of Mercy schon 1985, Eldritch später über den Gitarristen Andreas Bruhn. Ein weiterer Ex-Sisters-Gitarrist sei Olli aber lieber als Eldritch: „Wayne Hussey ist sympathischer, die ganze Band ist nett.“ The Mission habe er quasi auf der Straße kennen lernen dürfen. „Ich stand in Hannover an der Ecke, als der Tourbus vorbeikam und die nach dem Weg fragten“, erzählt Olli. „Als die das zweite Mal vorbeikamen, nahmen sie mich mit.“ Nette Leute seien das, „besonders Gitarrist Simon Hinkler.“ Husseys Solo-Auftritt auf dem M’era Luna habe ihm gefallen. „Das Publikum hat ihn gefeiert.“ Dann kommt er zu den Fields Of The Nephilim. „Die habe ich 1987 zum ersten Mal gehört, da stand eine Anzeige, die seien wie die Sisters, und ich dachte, es gibt nichts wie die Sisters, und habe sie mir in Hamburg angeguckt.“ Carl McCoy sei sogar kleiner als er selbst. „Und ich habe mich gewundert, was all die englischen Fans mit ihrem Mehl auf dem Konzert wollten.“ Später wusste er es. Nach einem Fields-Auftritt auf der Loreley hat seine Frau McCoy in einem Restaurant in St. Goarshausen wiedererkannt und angesprochen.
In Berlin habe er kürzlich eines von zwei aufeinanderfolgenden Konzerten von Killing Joke gesehen, von deren Tour in der Urbesetzung. Irgendwie sei er im Backstagebereich gelandet und habe mit den Bandmitgliedern gefeiert. „Ich habe die 1986 schon mal gesehen, zu ‚Brighter Than A Thousand Suns’, da haben sie so Pop-Rock gemacht.“ Auch auf dem M’era Luna 2003 waren sie dabei, „das war ein gutes Konzert, da haben sie nur ihre rockige Seite gezeigt, das war fast Metal.“ Danach kommt er auf seine eigentliche Lieblingsband zu sprechen, auf The Stranglers. „Seit 1990 kenne ich die, das war die Abschiedstour von Hugh Cornwell“, sagt Olli. „Paul Roberts, der Neue, ist sogar noch besser als Cornwell.“ Der zweite Sänger Jean-Jacques Burnel ist aber bis heute dabei. „Der ist mehrfacher französischer Karate-Meister, sogar Weltmeister“, sagt Olli. Er hätte noch viel mehr zu erzählen, muss aber los, weil seine Frau schon auf ihn wartet.
Die Sache mit der aktuellen Tour von Killing Joke, auf der sie ganze Alben spielen, bringt André auf die Sparks. „Die haben vor kurzem alle ihre Alben hintereinander live gespielt“, sagt André. Das waren immerhin 20, mit dem neuen Album „Exotic Creatures Of The Dark“ am 21. Tag. „Sparks Spectacular“ nannten sie diese Konzertreihe.
Colin stürmt ins Riptide. „Hi, sind meine bestellten Platten da?“, fragt er André. „Was hast du denn bestellt?“ – „The Evens, nein, warte mal, die habe ich letztes Mal schon abgeholt.“ André bringt zwei LPs, unter anderem „Repeater“ von Fugazi. „Das ist ihr bestes Album“, findet Colin, und erklärt: „Ich bin gerade dabei, meine CD-Sammlung auf LP nachzukaufen und so meine LP-Sammlung zu vervollständigen.“ The Evens findet er besser als The White Stripes. „Klar, wegen Ian McKaye“, sagt er. André fragt, ob er einen Cappuccino möchte. „Keine Zeit“, bedauert Colin, „ich muss das Wild Geese aufschließen, und zwar – jetzt!“ Er stürmt los, landet aber in der Schallplattenecke, kramt kurz und kommt dann mit „Can I Say?“ von Dag Nasty wieder. „Die guten, alten Sachen“, sagt André. Und eine weitere Dischord-LP. Colin grüßt und verschwindet in der herbstlichen Dunkelheit.
Auf den Tischen stehen Kerzen, es ist heimelig warm im Riptide. Auf dem Sofa sitzt eine Gruppe, an zwei Tischen sitzen einzelne Gäste und arbeiten oder lesen. Die Hintergrundmusik ist dezent und passt zur Stimmung. Noch bevor der Abend zu Ende geht, gibt André einen Fernsehtip: „Arte, heute Abend, null Uhr zwanzig, Pink Floyd Live at Pompeii.“ Und wenn man kein Pink-Floyd-Fan ist? „Danach wird man’s!“
van Bauseneick
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