#16 Warm von innen

Dieser Februartag sieht aus, wie man sich einen Februartag wünscht: Strahlendblauer Himmel mit vereinzelten Wolken, aber eiskalten Temperaturen. André steht alleine hinter der Theke, weil Chris zu Hause ist – „er hat sich verlegen und sich was eingeklemmt“, erzählt André. Er selbst hatte erst kürzlich drei Tage auf dem Sofa verbringen müssen, weil er sich einen Infekt eingefangen hatte. „Da bin ich mal richtig zur Ruhe gekommen“, sagt er, und ergänzt: „Ab 1. April wollen wir Hilfe in Anspruch nehmen.“ Kathi, eine Freundin, wolle dann an Wochenenden aushelfen. „Sie ist immer schon mal eingesprungen.“

Markus findet das schade. „Hätte ich das eher gewusst!“ Den Job hätte er nämlich auch gerne übernommen. Aber er hat auch schon andere Job-Pläne, die er nur noch nicht verraten mag. Stattdessen erzählt er von einem Konzert, das er im April oder Mai im Nexus veranstalten will. „‚Der Tante Renate’ spielen, die zweite Band ist noch nicht sicher, vielleicht ‚Juri Gagarin’.“ Diese Gruppe kommt nicht etwa, wie zu erwarten wäre, aus Osteuropa, sondern aus Hamburg. „Die machen Electro und spielen als Einmarschmusik die Hymne der Sowjetunion“, erklärt Markus. André schlägt „Misses Next Match“ vor und lässt Markus in das kommende Album reinhören. Markus wollte eigentlich gerade gehen und zieht noch mal seine Jacke aus, sein Interesse ist geweckt. „Die sind feiertauglich, haben ein paar richtige Smasher“, findet André. Für Markus sind auf dem ersten Eindruck zu viele Gitarren drin. „Ich bin von mehr Electro ausgegangen“, sagt er. „Das kommt noch“, meint André und skippt ein Stück vor. Mit der Konzertgruppe „Kritik & Feierei“ veranstaltet Markus schon seit längerem Konzerte im Nexus, das mit „Der Tante Renate“ soll sein erstes werden, das er ganz alleine auf die Beine stellt. „Immer weniger Leute wollen so etwas machen, aber dann fehlt etwas in Braunschweig“, meint er,

„Im Nexus bin ich aktiv, seit ich in Braunschweig wohne“, erzählt Markus draußen in der Kälte beim Rauchen. Ursprünglich kommt er aus Salzgitter, „aber wir waren schon immer viel in Braunschweig unterwegs“. Gelernt hat er Kaufmann mit Fachbereich Spielwaren. „Ich hab mich schon über meine Wahl geärgert, man findet damit in der Region nichts.“ Und nach München habe er nicht gewollt, „das ist mir zu weit weg, ich hab meine Freunde hier.“ Dabei war das Thema an sich passend, mit Table Decks und Magic-Spielen. „Von 1993 bis 2004 habe ich Magic gespielt“, erzählt Markus. Irgendwann habe das Interesse daran aber nachgelassen. „Hobbys verändern sich.“ Arbeiten raubt Zeit. „Und ich habe eine zweieinhalbjährige Tochter, mit der beschäftige ich mich auch lieber.“ Er geht zurück zum Tresen, auf dem sein Buch noch liegt, „Die dunkle Zeit – Schatten über Ulldart“ von Markus Heitz. „Das ist das beste, was die deutsche Fantasy in den letzten 20 Jahren herausgebracht hat“, schwärmt Markus, schnappt sich seine Jacke und wendet sich zum Gehen: „Jetzt muss ich aber wirklich los!“

Das Buch lag neben dem Stapel mit den Flyern für die Lichterkette, die am nächsten Donnerstag von Braunschweig um die Asse herum bis zum Schacht Konrad reichen soll, 52 Kilometer lang, gegen Atommüll in der Region, gegen Atomkraft allgemein. Jetzt wuchtet André eine Kiste mit Second-Hand-LPs auf den Stapel. Frank blättert den Stapel durch, aber nichts davon spricht ihn sofort an. „Ist halt so Punk“, meint er. „Ich guck die demnächst noch mal durch.“ Ohne Tonträger wird der Sammler das Riptide dennoch nicht verlassen. „Solange es Quellen für Vinyl zum vernünftigen Kurs gibt – ich sehe mich schon dreimal die Woche herkommen“, seufzt Frank. „Ich bin diese Woche schon zum dritten Mal hier.“ André überreicht ihm die Tüte mit zwei Depeche-Mode-Maxi-Singles und dem Album „Harmonia“ von Earthbend. „Die machen hoch angepriesenen Stoner-Psychedelic-Rock“, erklärt Frank. „Das ist ein Doppel-Vinyl, das kaufe ich sogar blind, nach den vielen guten Kritiken.“ Er nimmt die Tüte entgegen. „Das kannst du auch bedenkenlos tun“, bestätigt André. „Es gibt noch ambitionierte junge Musiker, denen es um die Musik geht, und nicht nur – “, Frank reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. „Das ist schön anzusehen.“ Er verabschiedet sich. „Ich komme bestimmt noch mal wieder“, sagt er. „Das wäre dann aber das vierte Mal“, ruft ihm André grinsend nach. Frank dreht sich um und sagt: „Ja, macht doch nix.“

Bibbernd kommt Kai zur Tür herein. „Hier ist es warm“, freut er sich. „Das ist die richtige Zeit, um sich mit einem Heißgetränk auch von innen zu wärmen“, sagt André zur Begrüßung. „Habt ihr auch Tee?“, fragt Kai. Ein gutes Dutzend Sorten steht über dem Kaffeeautomaten gestapelt zur Verfügung. „Wenn du die Sorten von da erkennen kannst“, meint André bestätigend. Kai umrundet den Tresen und liest die Packungsaufschriften. „’ne schöne Ostfriesenmischung“, bestellt er. „Schwarztee?“, fragt André. „Im Kännchen?“ Im Kännchen. Kai hatte die Inneneinrichtung des Cafés mitgebaut, demnächst baut er vielleicht eine Sitzecke ein. „Wir reden erst mal drüber“, sagt er. Von ihm sind „der Tresen, das Ding da oben und die Plattenteile“. Mit dem „Ding da oben“ meint er die orange-rosa-grüne Brücke über dem Tresen. „Die musste rein“, erklärt André. „Das ist die Brücke für die Elektrik, ist ein schöner Eyecatcher geworden.“ André erzählt davon, wie das Riptide gestaltet wurde. „Ilka, die auch schon das Nexus mit designt hat, hat ein Modell vom Riptide gebaut, und in Zusammenarbeit mit einer Berliner Grafikdesignerin das Konzept entworfen.“ Die Designerin ist Kati Meden, deren Ausstellung „FleckchenErde“ gerade im Riptide zu sehen ist. Von den beiden stammt also auch das Farbkonzept. „Das Bunte in der Brücke ist beklebtes Plexiglas mit Licht dahinter“, rundet Kai ab, bevor er sich bei André eine Suppe bestellt.

Die nächste Ausstellung steht auch schon fest: „Bilder von Ute Heuser, die das Buch über Turbonegro gestaltet hat“, sagt André. In genau diesem Augenblick legt Luki jenes Buch zum Kauf auf den Tresen. „Das passt ja“, sagt André. „Möchtest du eine Tüte dazu?“ Luki möchte, sein Begleiter Daniel ergänzt fröstelnd: „Und ’ne Jacke!“

Philipp lässt sich von André „Years Of Refusal“, das neue Morrissey-Album, auf CD geben, zum Reinhören. „Vorsicht“, sagt André, „da ist noch eine DVD mit drin.“ Philipp dankt und meint, „okay, dann leg ich die DVD ein.“ Seine Freundin Anna bestellt derweil einen braunen Cookie und einen Chai-Tee. Beides bringt André zu ihr ans Sofa, Philipp kommt vom Morrisseyhören zurück zu ihr. Anna und Philipp spielen in einer Band, „The Roskinski Quartett“. „Wir haben auch schon mal hier im Riptide gespielt“, erzählt Anna. Das Riptide mögen sie beide. Sie blicken sich um, schauen auf die bunten, großformatigen Bilder. „Sind die nicht von der Frau, die das Riptide farblich mitgestaltet hat?“ Sind sie. „Das sieht man, die passen gut hier rein.“

Die Musik ihrer Band bezeichnen Anna und Philipp als „Indie-Pop mit einem bisschen Disco“. Das war bei dem Bandnamen nicht zu erwarten. „Wir machen keinen Jazz, das glauben viele, deswegen auch das ‚The’“, erklärt Anna. Die Band trägt außerdem ihren Nachnamen. „Anna ist die Songwriterin und Sängerin der Band“, sagt Philipp. „Ich spiele Gitarre und mache noch PR.“ Die neue Morrissey habe er sich bei André gleich bestellt, zusammen mit „The Western Lands“ von Gravenhurst. „Ich hab mir drei, vier Lieder von Morrissey angehört, die sind besser als das Album davor, das fand ich nicht so gut wie das vorletzte“, sagt Philipp. „Wir müssen uns noch das Album von Carl Craig kaufen, das mit den Berliner Symphonikern.“ Beide schwärmen von „Versus“, einer Aufführung aus Paris, die sie irgendwo gesehen haben. „Ein Orchester hat Stücke von Carl Craig gespielt“, sagt Anna. „Das war geil“, meint Philipp, „die haben die ganzen Electro-Spielereien umgesetzt, Drum-Aussetzer und so.“ Er steht abrupt auf und verschwindet in Richtung André. „Zuerst hat nur das Orchester gespielt, aber mit der Zeit hat Craig das untermalt“, erzählt Anna weiter.

So ähnlich wie zuletzt bei Polarkreis 18 vielleicht? „Nicht ganz“, meint Anna. Von denen mag sie ein Lied gerne: „Das heißt ‚Somedays Sundays’ und ist noch vom ersten Album, das ist Techno, geht aber gut ab, am Anfang ganz ruhig, dann geht der Beat los, richtig gut zum Abdancen.“ Mit den Jungs von Polarkreis 18 hat sich Anna schon unterhalten, in Köln. „Die sind wie wir in der Soundfoundation, da hat jede Band einen Paten, und die waren unser Pate“, erklärt Anna. Philipp kommt zurück. „‚Recomposed’, Carl Craig und Moritz von…” – „Oswald”, fällt Anna jetzt sofort ein. „Ich hab die grad bestellt“, sagt Philipp. „Als Doppel-LP, ich kaufe immer Vinyl, wenn’s irgendwie geht.“ Allmählich packen beide ihre Sachen zusammen. „Wir müssen los.“

Mit einem ausgeklappten Zollstock, einem Stift, einem Zettel und einem sehr konzentrierten Blick läuft Kai im Riptide herum. André und er diskutieren Ideen und planen, gemeinsam zu Ikea zu fahren. Doch auch Kai hat jetzt nur noch wenig Zeit. „Danke für die Suppe, die war sehr lecker“, sagt er. „Ich muss weg.“ Es wird still im Riptide. André räumt auf, wischt Tische ab, rückt Kissen zurecht. Die nächsten Gäste können kommen.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert