#17 Spiel’s noch einmal, Ben!

Ostfälisches Grau drückt nass vom Himmel herab. Es will und will nicht Frühling werden. Glück hat der, der seine Zeit an Orten verbringen kann, an denen es warm ist, farbenfroh und hell, an denen er Menschen treffen kann, an denen er auch einen heißen Kaffee bekommt. Den bekommt Rainer von Marcel. Marcel ist seit Mitte Januar Praktikant im Riptide, der fünfte schon. Er hat gerade sein Abitur in Gifhorn gemacht und will die verbleibende Zeit bis zum Studium sinnvoll nutzen. Gerade sortiert er CDs aus, die wieder an die Vertriebe zurückgehen sollen. Studieren will er, „auf Lehramt, Politik und Deutsch oder Englisch“, sagt er. „Ich will nichts unterrichten, was ich nicht mag“, begründet er die Wahl seiner Fächer. „Ich kenne zu viele Leute, die Jobs haben, die sie nicht gerne machen.“

Rainer hat sich ein Jimi-Hendrix-T-Shirt ausgesucht und legt es auf den Tresen neben sich. „Mit Jimi Hendrix bin ich aufgewachsen“, sagt er. Daneben liegt die neue Version des Hendrix-Albums „Electric Ladyland“, auf CD. „Die Scheibe hab ich schon zwölfmal auf Schallplatte, aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Covern“, sagt Rainer. „Zum Beispiel das Nude-Cover mit den nackten Frauen drauf.“ Von dem Album kann er nicht genug bekommen, deshalb muss es jetzt auch die neue CD-Ausgabe sein. „Die ist mit DVD, und die kann man aufklappen“, sagt er und klappt das Digipak auf. „Alleine deswegen kaufe ich mir die schon“, fügt er hinzu und grinst kopfschüttelnd.

Hendrix soll aber nicht seine einzige Errungenschaft des Tages sein, also geht Rainer an den Stand mit den Second-Hand-LPs. Dort findet er „Nevermind“ von Nirvana. „Ist die original?“, fragt er Chris. Der hat sich gerade von seinen Buchhaltungsarbeiten losgelöst und ist an den Tresen gekommen. „Ich denke, ja“, sagt Chris. „Jedenfalls weiß ich, wann die gekauft wurde, das war 1995, und raus kam die 1991 – zu meinem 18. Geburtstag!“ Während Chris noch gespielt traurig über Alter und Vergänglichkeit nachdenkt, sagt Rainer: „Ach, die nehm ich auch noch mit“ und legt die LP zu seinen Sachen. „Eines der besten Gitarrenalben der 90er“, findet er.

Rainer erzählt aus seinem Leben. Er ist Braunschweiger, 1950 geboren, war in Lüneburg bei der Bundeswehr, kam nach Wolfsburg zu Volkswagen und ist heute Vorruheständler. Er berichtet von den Schwierigkeiten, die er hier noch 1960 als Flüchtlingskind hatte, und davon, sich bei der Bundeswehr, gelinde gesagt, mit pazifistischen Ansichten unbeliebt gemacht zu haben. Musik war schon immer wichtig für ihn, bis heute bleibt er am Ball. „Zuletzt bin ich immer mit dem Bus nach Wolfsburg gefahren“, sagt er. „Da hab ich einmal die 50-Cent-Biografie gelesen, da kommen drei Rapper rein, gucken so, sehen, was ich lese, und fragen, ‚Alter, biste Rapper?’, und ich sag, ‚nee, ich wollte mal wissen, wie der Kumpel so zu Geld gekommen ist’.“ Er lacht. „Das fanden sie gut, ich war danach hoch angesehen bei den dreien.“ Mit Hip-Hop kenne er sich aus. „Schon durch meinen Sohn“, erklärt Rainer. „Ich hab alle Eminem-Platten.“

Die Riptide-Belegschaft ist heute wieder zu viert. Chris und André sind da, Marcel hilft mit und Marco steht wieder in der Küche. Sie bereiten sich aufs Abendprogramm vor, da kommt nämlich die Bumsdorfer Gerüchteküche zu Besuch und lässt lesen. „Marcel, holst du bitte mit Marco das Podest aus dem Keller?“, fragt André. Stressig ist es nicht, findet Marcel. „Normal. Standardsachen.“ Marco und Marcel verschwinden in Richtung Keller.

Über Hendrix kommt Rainer derweil auf die Band Ramatam. „Die haben zwei klasse Rockscheiben gemacht, Anfang der 70er, da spielte eine Gitarristin, April Lawton, da wollte damals keiner glauben, dass eine Frau so gut Gitarre spielt“, sagt er. „Da haben sie gesagt, sie sei ein Transvestit, aber der Ehemann hat sie vom Gegenteil überzeugt, und dann haben sie gesagt, sie hat bei Hendrix gelernt, hat sie aber nicht.“ Über gute Gitarristen kommt er auf Carl Carlton. „Der heißt eigentlich Buskohl und kommt aus Ostfriesland, das konnte damals auch keiner glauben, ein guter Gitarrist aus Ostfriesland“, erzählt Rainer. Frauen und Ostfriesen in der Rockmusik. Er lacht. „Carlton hat zum Beispiel bei Peter Maffay gespielt, der hat die CD ‚Heute vor 30 Jahren’ produziert, eine gute Platte, hat er sehr gut gemacht, man hört jedes Instrument, jede Gitarre deutlich heraus“, sagt Rainer. „Deutschsprachige Rockmusik hatte ja lange keinen guten Stand“, fügt er hinzu und verweist nach Osten. „Dort hatten sie Rock, die Puhdys, aber auch Blues, Renft, oder Jazz, Uschi Brüning“, zählt er auf. „Die haben dort Free Jazz gemacht, da brauchste starke Nerven, was meinste, wie gut die waren!“ Rainer hat eine riesige Amiga-Plattensammlung zu Hause. „Rund 800 LPs, die hat mir ein DDR-Bürger verkauft, die hat er von anderen zusammengesucht und mir gegeben, die brauchten D-Mark“, erzählt er. „Heute ärgern sie sich darüber, dass sie die Platten nicht mehr haben.“

Rainer landet bei der politphilosophischen Idee vom „guten Diktator“. Marcel hat davon gehört: „Schiller hat gesagt, der Herrscher ist nicht das Problem, aber ein guter Herrscher muss es sein.“ – „Das hat er von Platon“, meint Rainer gleich. Sie lassen sich aber beide nicht von dieser Idee überzeugen. Rainer muss nun allmählich auch los, zahlt, sucht seine Einkäufe zusammen und geht fröhlich grüßend. Marco macht derweil Feierabend, will aber wiederkommen: „Mein Ex-Mitbewohner liest doch!“ Mit Axel von der Gerüchteküche hatte er nämlich mal eine WG. „Bis heute Abend!“

Bis dahin ist noch etwas Zeit. André kündigt an, was sich ab April im Riptide ändert: „Da gibt’s die Aushilfe, und samstags wollen wir früher anfangen, wir wollen ein Frühstück anbieten.“ Außerdem gibt es die Fritz-Cola jetzt auch mit einem weißen Etikett. „Die ist zuckerfrei, hat aber genau so viel Koffein“, sagt André. „Die schmeckt mir sogar besser, da schmeckt man die Zitrone mehr raus“, findet Marcel. „Die gab’s eine Weile nicht“, sagt André. „Komischerweise.“

Sven legt die „For Now“-LP von The Bishops auf den Tresen. Er hat wenig Zeit. „Ich muss gleich los, im Merz auflegen.“ Auf Svens Konto gehen unter anderem die Champagne-Supernova-Partys im Schwanensee. „Erstmal nach Hause, eine halbe Stunde die Beine hochlegen, um neun muss ich da sein, um halb zwölf kommen die Leute – bis dahin kann ich spielen, was ich will, wozu ich Lust hab“, freut er sich, grüßt und geht.

„Hello Kitty?“ Lisa wühlt in der Kiste mit den Buttons, die auf dem Tresen neben der Muffin-Vitrine steht. Sie nimmt den genannten Button heraus. „Die mag mein Bruder, der ist – wie heißen die, Emo?“ Sie holt ihr Handy heraus und zeigt ein Foto von ihrem Bruder. „Ja, Emo“, bestätigt Marcel nach einem Blick auf das Foto. Der Bruder ist 15, also fünf Jahre jünger als Lisa, und steht auf die Farbe Rosa. „Hello Kitty ist nicht pink genug“, sagt sie jedoch. Auf ihrem nächsten Button-Fund prangt Gargamel. „Kennst du den, von den Schlümpfen?“, fragt sie. „Ein Held meiner Jugend“, nickt Marcel. „Ich war immer für die Bösen“, fügt er hinzu. „Cool war, wie er eine Maschine gebaut und die Schlümpfe in Gold verwandelt hat – dann hatten sie wenigstens einen kapitalistischen Mehrwert“, grinst er. Sie unterhalten sich beide übers Altern und über zahlenmäßig weniger werdende Haare. „An unserer Schule gab es einen Lehrer, der trug ein Toupet“, sagt Marcel. „Da haben sie am Türrahmen einen Fliegenfänger angebracht, und als er drunter durch ging, ist das Toupet dran hängen geblieben.“ Sie lachen.

Auf ein Astra ist Stefan ins Ritide gekommen, jetzt will er weiter. „Zum Werbeagenturabend“, sagt er. „Was wir da machen? Bier trinken und erzählen!“ Er erklärt: „Das ist ein Herrenabend, bei dem auch Frauen dabei sind, aber Herrenabend als Bezeichnung klang nicht gut – eigentlich ist es ein Stammtisch.“ Und der findet immer in einer befreundeten Werbeagentur statt. Zwar ist Stefan freiberuflich unterwegs, aber nicht in der Werbung. Er betreibt „Gandula“, ein Online-Portal für Sport in Braunschweig, eine Art „Zeitung im Netz“. „Gandula ist portugiesisch und heißt Balljunge“, erklärt Stefan. „Wir berichten über den ganzen Sport, auch Aerobic und Babykrabbelgruppe“, sagt er. „Alles, worüber man woanders nichts zu lesen bekommt.“ Er muss los, sein Stammtisch wartet.

Nach ihm schließt Marcel die Tür und lässt nur noch Leute herein, die mit dem Abendprogramm zu tun haben. Das sind zunächst Ben, Andreas und Axel. Sie haben Technik dabei, ein Keyboard, Kabel, ein Mikro mit Ständer und Lautsprecher. Axel Klingenberg gehört zur Stamm-Mannschaft der Lesebühne „Bumsdorfer Gerüchteküche“, die sonst immer in der Kaufbar stattfindet, die ihrerseits aber gerade umzieht. „In die Helmstedter Straße 135“, sagt Axel. „Gegenüber vom Marienstift, da, wo der Spanier früher drin war.“ – „Ist da nicht eine Kirche?“, fragt Ben. Axel nickt. „Da ist eine wunderschöne Kirche an der Ecke.“ Die nächste Gerüchteküche steigt dann dort, in den neuen Räumen der Kaufbar, am 9. April.

Ben ist Keyboarder. Er trägt ein AC/DC-T-Shirt und hat Dread-Ansätze auf dem Kopf. „Ich spiele zwischen den Lesungen kleine Einlagen“, sagt er. Seit einiger Zeit schon ist er damit ein festes Mitglied der Gerüchteküche. „Sie nennen mich Play-It-Again-Ben“, erzählt er grinsend. „Einen Kaffe mit Milch“, bestellt er, während Andreas einen Lautsprecher neben Ben auf den Tresen stellt. „Ich mache jetzt Technik“, sagt Andreas, der das ansonsten nämlich nicht macht, „aber ich verlege auch die Sachen der Bumsdorfer“, in seinem eigenen „Verlag Andreas Reiffer“. Der „Punchliner“ erscheint bei ihm, „ich habe auch die letzten acht Lemmy-Hefte verlegt“. Lemmy, das war die Literaturshow „Lemmy und die Schmöker“, die Hartmut El Kurdi, Frank Schäfer und Gerald Fricke früher im Antiquariat Buch und Kunst veranstalteten.

Trotz der latenten Hektik, die aufkommt, weil der Platz für die Lesenden und die Zuhörenden freigemacht werden muss, bleibt immer Zeit zum Scherzen. Chris stellt die Topfpflanzen in eine Ecke des Raumes, der zur Bühne werden soll. „Axel, ich hab euch das ein bisschen grün gemacht in der Ecke“, ruft er. Axel dreht sich um und grinst. „Das ist schön, da stehen wir drauf.“

Marcel öffnet die Tür für Roland Kremer, den Moderator der Gerüchteküche. Roland trägt ein dunkles Sakko mit Buttons über einem lila Hemd und ist in der selben Stimmung wie seine Kollegen. Auf die Frage, was von ihm heute Abend zu erwarten ist, sagt er: „Ich moderiere, ich singe nicht, und es gibt kein Haiku – heute ist Charles-Bukowski-Gedenktag, da gibt’s kein Haiku!“ Haikus hat er nämlich sonst gerne im Programm.

Inzwischen hat Andreas das Mikrofon aufgebaut, ist in den hinteren Bereich des Riptide gegangen und hat Axel gebeten, einen Check zu machen. Axel steht vor dem Mikro und ruft: „Andreas, kannst du mich hören?“ Am anderen Ende kommt trotzdem ein ausdrückliches „Nein.“ von Andreas. Toddn, der erste der drei Gerüchteküche-Gäste, kommt ins Café. Chris: „Tut mir leid, heute ist geschlossene Gesellschaft.“ Toddn stutzt, blickt sich um und sagt dann: „Bin ich zu spät?“

An einem der Tische sitzt Lisa vor einem großen Berg Buttons, die sie alle aus der Kiste gefischt und von denen sie jeden einzelnen betrachtet hat. Einen Button, der für sie infrage kam, hatte sie beiseite gelegt. Sie füllt die Buttons jetzt wieder in die Kiste und bringt sie zurück an den Tresen, zu Marcel. „Ich habe nicht nur keinen neuen Button gefunden, sondern auch den alten verloren“, sagt sie betrübt. „Jetzt kriegt er einen Button mit Miezen und Herzen drauf.“ Geburtstag habe ihr Bruder nicht. „Den kriegt er einfach, weil ich ihn mag – Geschwisterliebe!“ Zur Lesung kann sie nicht bleiben, daher verabschiedet sie sich jetzt.

Am Tresen lehnt jetzt Toddn. Er trägt eine Lederjacke und eine Frisur, die an Marky Ramone erinnert. Gelegentlich hat er eine Sonnenbrille im Haar, die er ab und zu abnimmt. „Am 30. April bin ich wieder hier im Riptide, mit der ‚Please Kill Me’-Lesung, da ist dann auch Hollow Skai mit dabei“, kündigt er an. Seine Show „Toddn Killed The Videostar“ im Studio Ost hat er vorübergehend auf Eis gelegt. „Heute lese ich zum 15. Todestag von Charles Bukowski so’ne – Laudatio, kann man sagen, und noch zwei eigene Geschichten, die da reinpassen“, sagt Toddn. „Wir teilen viel: keine Arbeit, kein Geld – aber Bukowski und ich haben eine Sache nicht gemeinsam: Ich würde nie wie er über Sex schreiben, weil ich finde, dass das niemanden etwas angeht.“ Er schnappt sich sein Getränk und steuert das Sofa an. „Ich setz mich mal zu den anderen.“

Derweil ist Ben noch damit beschäftigt, sich um sein Keyboard zu kümmern. Er entdeckt im Regal die „Feuermond“-LP von den Drei Fragezeichen und fragt André: „Habt ihr die auch auf Kassette?“ André dreht sich um und greift ins Regal hinter sich. „Nur die neuste, ‚Schatten über Hollywood’.“ – „Nee“, sagt Ben, „ich würd den ‚Feuermond’ gerne auf Kassette haben.“ Die Sprecher der Drei Fragezeichen treten im Oktober in der VW-Halle auf, mit dem „Seltsamen Wecker“. „Da hab ich mir Karten für gekauft“, erzählt Ben. „VW-Halle, das kann schon wieder zu groß sein für so was.“ Trotzdem freue er sich auf die Show.

Bald soll es losgehen, aber zwei Gastleser fehlen noch. Eben kommt Till Burgwächter zur Tür herein. Seine Lockenmähne trägt er offen, ein Hemd hat er an mit einem grellgrünen „Heathen“-Bandshirt darunter. „Hey, du bist doch sonst immer der erste?“, begrüßt ihn Axel. „Ich hab mich mit meinem Bruder festgequatscht“, erklärt Till. „Im Auto, direkt vor der Tür quasi, da haben wir eine Viertelstunde erzählt.“ Und Fußball gehört, der HSV spielt gerade gegen Galatasaray. „Eben stand es 1:1“, berichtet Till.

Mit Gerald Fricke ist jetzt auch der dritte Lesegast im Riptide angekommen. Er trägt einen weißen Anzug und ein hellblaues Hemd und erinnert so an John Travolta in „Saturday Night Fever“. „Ich hab schon gedacht, du gehst in die Kaufbar“, scherzt Axel. Kein Gedanke. „Und, habt ihr schon den Rock’nRoll-Dampfer klargemacht für heute Abend?“, hält Gerald dagegen. „Der Dampfer der guten Laune sticht in See?“ Sie besprechen die Sitzreihenfolge auf der Bühne.

Unter die Gäste mischen sich auch Nina und Birte, beide mit einem Glas Wein in der Hand. Nina war schon einmal hier, Birte noch nicht. Sie sehen sich um und entdecken die Ausstellung „FleckchenErde“ von Kati Meden. „Ich muss mir die Bilder noch mal genauer ansehen“, meint Nina. Sie suchen sich aber lieber einen Sitzplatz auf den Bänken, die Chris und Marcel längst aufgebaut haben. Es soll ja bald losgehen. Marco ist inzwischen auch wieder da. Frank Schäfer kommt herein und ruft: „Wichtigste Frage: liest Fricke? Der war ja gestern noch krank!“ Axel beruhigt Frank: „Ja, Gerald liest.“ Frank beugt sich zu André. „Ich hab schon gehört von der Terminüberschneidung“, sagt André. Am selben Tag, an dem der ehemalige Titanic-Chefredakteur Thomas Gsella im Riptide auftritt, am 24. März nämlich, liest Frank aus seinem neuen Buch über Woodstock im Antiquariat Buch und Kunst. „Ich hab einfach nicht dran gedacht“, sagt Frank. Gsella war auch einmal beim Lemmy der Gaststar oder Stargast, da waren sich die Veranstalter nie einig, wie es heißen sollte.

Ben legt los, am Keyboard. Er unterlegt seine Akkorde mit Bontempi-Beats und sorgt mit seinem Spiel für die ersten Lacher. Er sitzt ganz links, noch weiter links hat sich nur Andreas, der zwischendurch Fotos macht, einen Platz gesucht. Rechts von Ben sitzt Toddn, dann Till, Axel und Gerald. Ein kleiner Tisch vor ihnen dient als Unterlage für ihre Unterlagen und Getränke, direkt zwischen Tisch und Zuschauern setzt sich jetzt Roland auf einen Barhocker ans Mikro. Er grinst, während er die Show anmoderiert. „Der Anlass ist, vor genau –“ Er blickt sich kurz zu Toddn um, der sagt: „15 Jahren und vier Tagen –“ Roland: „15 Jahren und vier Tagen ist Charles Bukowski gestorben.“ Die Texte des Abends handeln aber nicht nur von ihm. Und zwischendurch gibt’s Musik, von, so Roland, „unserer Showband Play-It-Again-Ben.“ Großer Applaus, Ben spielt irgendetwas, Frank ruft aus den Zuschauerreihen: „Das ist deine Musik, Till!“ Till macht völlig unbeeindruckt den Metalgruß und tut so, als würde er das Kabel vom Keyboard herausstöpseln.

Als erstes liest Axel, eine Kolumne aus seiner Reihe „Mein Kind, das Ding aus einer anderen Welt“ mit dem Titel „Zahltag“. Als er mittendrin auf Seite zwei weiterlesen will, stellt er fest, dass er den falschen Zettel dabei hat. „Falsches Ende“, ruft er und fischt sich den richtigen vom Tisch. „Ich hätte beinahe wieder den Cut-Up erfunden wie Burroughs, aber heute ist ja Bukowski-Tag.“

Ben dudelt abschließend, Roland kündigt Toddn an, Ben spielt zum Übergang jedoch nur einen etwas kürzeren Ton. „Danke“, sagt Toddn gespielt beleidigt. Toddn hat einen Text vorbereitet, in dem er kurz aus dem Leben und Werk von Charles Bukowski erzählt und dann dazu übergeht, seinen eigenen Bezug zu „Buck“ herzustellen. Roland kommt anschließend kurz nach vorne und sagt: „Ich bin nur hier, um das Ganze in die Länge zu ziehen – Play it again, Ben!“ Und Ben spielt.

Allerdings wieder nur einen Ton, noch kürzer als bei Toddn dieses mal, denn Heavy-Netal-Fan Till ist als nächster Leser an der Reihe. „Das ist nicht Slayer – was ich mir gewünscht habe“, sagt Till entrüstet. Er liest einen ironischen Text über Braunschweig und die umliegenden Städte, „nicht über Fußball oder Heavy Metal“. Als er sich anschließend auf seinen Platz setzt, umreißt Ben das Fanfaren-Intro von Liquidos „Narcotic“, um Till zu besänftigen. Was ihm gelingt. „Die waren mal Death Metal“, sagt Till anerkennend, „unter dem Namen Pyogenesis.“

Als soll Gerald lesen. Er geht an den Lautsprecher auf dem Tresen, greift zu einer Videokamera und bedient sie. „Was’n jetzt?“, fragt Axel. „Ich schalte die Kamera ein“, sagt Gerald. „Ich dachte, du filmst alle?“, entgegnet Axel. „Ja“, bestätigt Gerald stoisch-gelassen. „Ich hab’s vergessen anzuschalten.“ Gerald bildet die Welt, die er wahrnimmt, in den Floskeln und Formulierungen derer ab, die er beschreibt, und schießt damit sozusagen zurück. Der Dampfer der guten Laune, wahrhaftig. Roland stellt abschließend den Bezug zur Lemmy-Show her und sagt: „Lemmy war eigentlich die erste Lesebühne in Braunschweig, auch wenn die drei das nie so genannt hätten – aber Lemmy ist ein Vorbild für uns!“ Und Ben spielt wieder.

Es ist Pause. Viele gehen rauchen, holen sich neue Getränke und reden miteinander. Ben entdeckt auf dem Büchertisch eine Hörspiel-CD mit dem Titel „Halbgötter“ von Hauke Trustorff, erschienen in Andreas’ Verlag. „Die nehm ich mit!“, sagt er, und dabei fällt ihm ein, dass er das Hörbuch von Axel auch schon immer mal haben wollte. „Das hab ich sogar mit“, sagt Axel. Dabei handelt es sich um ein Fantasy-Hörbuch mit dem Titel „Das Schwert des Xanq“, Roland hat es eingelesen.

Allmählich klemmt sich Ben wieder hinter sein Keyboard, um die Zuschauer auf das Pausenende aufmerksam zu machen. Roland startet als erster Leser mit einem kurzen Ausschnitt aus einer Bukowski-Geschichte, danach ist Toddn wieder an der Reihe. Der will aber nicht vorne sitzen, sondern am Tisch. Also muss Till einen Platz nach links rutschen. Toddn liest aber nicht sofort los, sondern holt erst mal Getränke für alle. Als er sich setzt, richtet Roland das Mikro ein. Toddn rückt den Stuhl etwas vor uns rummst mit der Nase ans Mikro. „Das ist immer so bedrohlich“, findet er und dreht das Mikro zur Seite. „Bukowski und ich haben eines gemeinsam: schlecht bezahlte Jobs“, beginnt er. Axel unterbricht: „Ja, aber Bukowski ist schon irgendwann zu Geld gekommen.“ Toddn dreht sich zu ihm um und sagt: „Ja, er hat eine reiche Frau geheiratet – das macht Hoffnung!“ Axel grinst: „Sie hat ihn zum Arbeiten gebracht, das ist der Trick!“ Ums Arbeiten handeln dann auch Toddns Texte, davon, wie aussichtslos es heute ist, ehrliche Jobs zu bekommen, von deren Lohn er seine Stromrechnung bezahlen kann.

Nach einem Ben-Intermezzo ist Axel dran. Er will aber wieder vorne lesen, also schiebt er den Tisch zurück und setzt sich auf den Barhocker. Nach einer Kolumne über Telefonterror angesichts eines zu erwartenden Kindes kündigt er einige Termine ab. Erneut spielt Ben, Till drängt sich nach vorne. „Ich warte auf ‚Highway To Hell’“, grummelt er Ben zu. „Das ist ‚Highway To Hell’“, behauptet Axel. Allmählich schälen sich wirklich Elemente des AC/DC-Stückes aus Bens Keyboardspiel heraus. „Darf ich dich Helmut Zerlett nennen?“, fragt Till jetzt anerkennend. „Mambo Kurt nimmt so was auf CD auf!“ Tills Geschichte handelt vom Moorkater, der alternativen Disco-Kneipen-Legende in Gifhorn, und seiner Heavy-Metal-Sozialisation.

Als Till fertig ist, drückt Ben kurz eine Taste. Roland wartet kurz und fragt dann irritiert: „Das war’s von dir, Ben?“ Roland kündigt Gerald an, der dieses Mal aus seiner Kolumne „Gerald Fricke hat kein Ballgefühl“ einige Texte liest, in denen er den typischen Fußball-Sprachgebrauch aufs Korn nimmt. Gelassen lümmelt er sich auf den Barhocker, eine Hand in der Tasche und in der anderen die Textzettel, und berichtet von Hallenfußball und Trikotwerbung.

Abschließend will Roland noch einmal dran. „Die nächsten Termine hat Axel schon gesagt“, einer fällt ihm wohl noch ein, „ich weiß nicht, hat er das angekündigt…?“ Till: „Ja, hat er!“ Hat er natürlich nicht, den Poetry Slam am 27. März im Roten Saal. Zum Ausklang groovt und swingt Ben auf dem Keyboard herum. „Das nächste Mal wünsche ich mir von dir Volksfestmusik“, sagt Axel.

Die Show ist vorbei, die Lachmuskeln entspannen sich wieder, die Leute finden zusammen, trinken, rauchen draußen, erzählen. Chris, André und Marcel räumen die Bänke weg, Andreas und Ben bringen die Technik beiseite. Frank, Till und Axel hatten zwei Monate zuvor im Riptide die Heavy-Metal-Lesung gehalten und kürzlich in Hamburg ausprobiert, ob das Konzept woanders ebenfalls aufgeht. „Das hat auch sehr gut funktioniert“, bestätigt Frank. „Das war in so’nem Schuppen auf dem Kiez.“ Gerald will sich nun verabschieden und meint grinsend, mit Blick auf Chris, der eine Bank zusammenklappt: „Ich gehe, bevor ich hier noch zum Aufräumen verhaftet werde!“ Axel platzt heraus: „In Hamburg mussten wir aufräumen, bevor wir gelesen haben!“

Die Gerüchteküche verabschiedet sich. Dieser Ausflug hat Herzlichkeit, Harmonie und ganz viel Gelächter ins Riptide gebracht. Auf jeden Fall hat der Restwinter ganz viel Farbe und Wärme bekommen. Das Frühjahr kann kommen.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de

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