#29 Schäfers Stündchen

Mittwoch, 3. März

Zwischen zwei Terminen, bepackt mit einer Tüte voller LPs, schneit Arni am Abend förmlich ins Café Riptide. Er kommt direkt von Raute Records und verspricht André augenzwinkernd, sein nächstes Geld im Riptide auszugeben. Für heute investiert er es zunächst in einen Milchkaffee, den er gegenüber in der Rip-Lounge zu sich nehmen will. Die kennt er nämlich noch nicht. „Ich geh rüber in die Lunge“, sagt Arni zu André, der dies registriert. Viel Zeit hat Arni jedoch nicht: Er will noch in die Volkswagenhalle, zu Jean Michel Jarre. Bei Raute hat er einige Zeit lang gestöbert und sich von Uwe kompetente und gute Musik-Tipps geben lassen. Zum Beispiel Uwes „Platte der Woche“, „King Of The Black Sunrise“ von Thunder And Roses. Außerdem erzählt Arni von einem Aufkleber, den Uwe auf die LP „Viva“ von La Düsseldorf geklebt hatte, auf dem stand etwas wie „Du hast Scheißfreunde, wenn dir 13 nur eine LP schenken und alle darauf unterschreiben“ – die LP-Hülle war völlig bekritzelt. Nach einer Zigarette und dem Milchkaffee kehrt Arni in die Haupt-Filiale des Cafés zurück. Dort hat er ohnehin seine LPs auf der Theke vergessen. Doch so schnell, wie er es eigentlich vor hat, kann Arni nicht in die VW-Halle gehen: Er kommt bei den Platten mit Micha ins Gespräch.

Der blättert eigentlich in den LPs herum, in den gebrauchten ebenso wie in den neuen. Zum Thema Hörgenuss gibt Micha Arni einen eigenwilligen Tipp: „Nimm ein Buch, klappe es auf, lege eine Alufolie hinein, mit der stumpfen Seite nach unten und der glänzenden nach oben, lege darauf die CD, klappe das Buch zu, streiche ein paarmal darüber, klappe es auf, nimm die CD und lege sie sofort – nicht erst durch die ganze Wohnung rennen – in den Player.“ Den Unterschied werde Arni hören, beteuert Micha. Er erklärt die Sache mit den digitalen Informationen auf der CD, die sich statisch aufladen und verschieben. „Das Alu entmagnetisiert die CD“, sagt Micha. Er gibt ein Beispiel für audiophile Tonträger: Bei Ofra Haza etwa rücke diese Methode die Stimme von der Ecke zurück ins Zentrum.

Während die beiden sich unterhalten, steht Joel hinter der Theke und André an der Tür. André ist vollgeladen mit einem Getränketablett, das er in die Rip-Lounge bringen will. Vorsichtig, so als ob er niemanden stören dürfe, öffnet André die Tür, zwängt sich zögerlich durch den Spalt und will gerade umgreifen, als ihm wie in Zeitlupe auf dem Tablett die Gefäße umkippen. Einige Flaschen fallen zu Boden. Nichts geht zu Bruch, aber die Getränke laufen aus und ergießen sich auf den Holzfußboden des Cafés. Das Ganze passiert so langsam, das es fast lautlos und eigenartig unecht abläuft. André dreht sich in der Tür und macht einen Schritt über die frische Pfütze hinweg, Joel verlässt seinen Platz hinter der Theke und kommt mit einem Handtuch in der Hand auf ihn zu. Vorwurfsvoll grinsend fragt ihn André: „Wieso ist dir das eigentlich nicht passiert?“ Joel pariert: „Ich wollte mir erst von einem Profi zeigen lassen, wie das geht.“

Jetzt reißt sich Arni doch los und verabschiedet sich von allen. „Wo gehst du denn hin?“, fragt ihn Micha, dem Arni das tatsächlich noch gar nicht erzählt hat. „Zu Jean Michel Jarre“, antwortet Arni also. Er erntet ein Raunen, das zwischen Verwunderung und Respekt changiert. Vom Milchkaffee gestärkt und mit den Platten in der Hand macht sich Arni auf den Weg. André fragt noch: „Bist du morgen hier, bei Frank Schäfer und Frank Schulz?“ Doch schafft Arni das nicht, obwohl er seinen alten Bandkollegen – „Operation Daisyland“ – Frank Schäfer gerne einmal wiedersehen würde.

Donnerstag, 4. März

Heute Abend ist es Gesa, die die Frage „Stehst du auf der Gästeliste?“ an die eintreffenden Gäste richtet. Seit etwa einem Monat unterstützt Gesa das Riptide donnerstags und freitags. An sich ist sie im Thekenbereich tätig, doch heute nimmt sie Eintritt für die Lesung von Frank Schäfer und Frank Schulz. Chris ist wieder da. Er war im Urlaub, zum ersten Mal seit fünf Jahren. So stand es auf der Internetseite des Nexus, wo er erstmalig seine monatliche „Pleasure Park Party“ nicht geben konnte. „Ich war am Roten Meer, in Ägypten“, schwärmt Chris hinter dem Tresen. „Ich habe am neuntgrößten Korallenriff der Erde getaucht – deshalb war ich da.“ Mehr kann Chris nicht erzählen, denn er ist im vollen Café mit Bedienen gut beschäftigt.

Diese Lesung als gut besucht zu beschreiben, ist eine wahre Untertreibung. Die Gäste rangeln bei dem Versuch, anderen nicht die Sicht zu nehmen, selbst um die unbequemsten Plätze an der Tür. Viele Gesichter sind zu sehen, die auch die alte Show „Lemmy und die Schmöker“ im Antiquariat Buch & Kunst schon immer besucht haben. Unter den Gästen ist auch Andreas, der jetzt Gesas Platz am Kartenschalter einnimmt. „Frank Schäfer war Schüler an unserer Schule, bevor ich dort war“, erzählt er. Seit 1990 unterrichtet Andreas an einem Gifhorner Gymnasium. Mit ihm sind noch weitere Kollegen ins Riptide gekommen, um ihrem alten Schüler zuzuhören.

Der sitzt neben dem weißbärtigen Frank Schulz an einem Tisch auf der Bühne in der Schallplattenecke und lässt soeben eine Bombe platzen: Er kündigt an, im Riptide eine vierteljährliche Lesereihe zu etablieren. Titel: „Frank Schäfer proudly presents“. „Ich werde mich im Abglanz berühmter Autoren sonnen“, sagt er. „Ich werde Bücher vorstellen, dreckige Filmchen zeigen und auch die Gitarre rausholen – all das mache ich aber heute nicht.“ Stattdessen spricht er ein Loblied auf Frank Schulz und dessen „Hagener Trilogie“: „Wer sie gelesen hat, hat darin die besten Stellen angestrichen und auswendig gelernt“, sagt er. Einzig von Frank Schulz’ Musikgeschmack behauptet er lachend, der sei Scheiße. Aus alten „Lemmy“-Zeiten reaktiviert Frank Schäfer die unentschlossene Bezeichnung „Stargast-Gaststar“ und begrüßt damit Frank Schulz.

Der hat die „Hagener Trilogie“ zwar dabei, doch steht die nicht im Mittelpunkt. Stattdessen präsentiert er seinen neuen Erzählungsband „Mehr Liebe“ und einige Texte daraus. Denn, so Frank Schulz, „es soll heute ausschließlich Musikgeschichten geben“ – Vorgabe vom Gastgeber. Und Frank Schulz weist darauf hin, dass sich der Tonfall des neuen Bandes von dem der Trilogie distanzieren soll, die in Medien als „saukomisch“ bezeichnet würde: „Saukomisch ist er deshalb nicht.“ Um Frank Schäfers Vorgabe zu erfüllen, liest Frank Schulz auch nur die Texte mit Bezug zu musikalischen Themen. Der erste dreht sich um „I Believe In Love“ von Hot Chocolate. Frank Schäfer wirft ein: „Ich sag doch, er hat einen Scheißgeschmack!“ Als Frank Schulz in seinem Text an die Stelle mit dem Lied kommt, singt er den Refrain – und fährt die Ernte in Form eines tosenden Applauses ein. „Dein Publikum“, sagt Frank Schäfer sichtlich stolz. Frank Schulz lächelt verlegen: „Das hätte ich mir auch nicht gedacht, dass ich mal mit Singen reüssiere.“ Frank Schäfer lügt: „Die wollen nur höflich sein.“ Vor der Pause steht noch eine weitere musikalische Kuriosität im Frank Schulz’ nächster Geschichte: „Loop di Love“ von Juan Bastos. Das kennt nicht jeder im Riptide.

Andreas kennt es. Als die Pause den Rauchern das Bedürfnis ermöglicht, sich in die Rip-Lounge oder ins Achteck zu stellen, erinnert sich Andreas an seine Zeit als Schüler am MK. „Da sind wir hier auch immer durch die Passage gegangen“, erzählt er. „Da hatten sie im Hinterhof eine Kneipe aufgemacht…“ Der Name fällt ihm nicht mehr ein, Andreas winkt vage in die Richtung der ehemaligen Kneipe, aber er erinnert sich noch an Blumenmotive an der Wand. Mit seinen begeisterten Kollegen vertieft er jetzt die jüngsten Eindrücke.

„Die zwei ersten Texte habe ich mitgeschnitten“, sagt Sylvia, die sich zur Pause nach draußen schlängelt. Sie grinst: „Ich kann einfach nicht anders.“ Sie hat wieder ihre Utensilien dabei, mit denen sie Material für Radio Okerwelle erstellt. „Mal sehen, wie ich es senden kann“, überlegt sie und erreicht die Tür.

Nach der Pause bewahrheitet sich, dass nicht alle Texte von Frank Schulz „saukomisch“ sind. Er liest einen, bei dem den Zuhörern das Lachen im Halse stecken bleibt. Frank Schäfer gleicht das mit seinen Texten aus „Die Welt ist eine Scheibe“ und „Generation Rock“ deutlich aus, die Gäste lachen laut und viel. Erst spät in der Nacht endet die Leseshow. Wer nicht schnell nach Hause geht, weil er morgen wieder arbeiten wird, steht in Grüppchen herum. „Ich bin zum fünften Mal in Braunschweig“, sagt Frank Schulz. Einen Bezug zu der Stadt habe er zwar dennoch nicht herstellen können, aber: „Meine Verbindung ist Frank Schäfer.“ An den wendet er sich und fragt: „Mein erstes Mal in Braunschweig – Frank, wann war das?“ Frank Schäfer weiß es: „Das war zum ‚Lemmy’.“ Bei Frank Schäfer steht gerade Gerald Fricke, der wie er zur „Lemmy“-Besetzung gehörte. Frank Schulz grübelt weiter: „Dann war ich in einer Buchhandlung…“ Auch hier hilft Frank Schäfer weiter: „Neumeyer, im Bohlweg.“ – „Dann die große…“ – „Graff.“ – „Ja, und dann hier!“ Frank Schäfer wirft ein: „Im Spiegelzelt nochmal.“ Frank Schulz nickt. „Genau, das fünfte Mal also.“ Und das erste Mal im Riptide: „Das gefällt mir gut, gutes Publikum.“ Das wiederum verlässt das Riptide jetzt nach einem unterhaltsamen, witzigen, sprachlich anspruchsvollen Literaturabend. Die Fortsetzung hat Frank Schäfer für den 6. Mai angekündigt. Gast und Star wird die Fitzoblongshow aus Hannover sein – auch die war schon bei „Lemmy“ zu Gast. Mit dieser Empfehlung streunen die Gäste in die Braunschweiger Nacht.

Freitag, 19. März

Selbst am Abend ist es noch erstaunlich warm, der tolle Winter scheint endgültig vorbei zu sein. Gelegentlich nieselt es zwar, aber selbst der schmale Regen lässt niemanden frösteln. Das Café Riptide ist voll, auf beiden Seiten des Achtecks. André und Gesa kümmern sich in Windeseile um ihre vielen Gäste. Tobias kommt mit einer Freundin und zwei Freunden ins Riptide und sieht sich um. „Vier Personen, ja?“, fragt André hinter der Theke. „Ja, genau“, sagt Tobias. „Ich habe gesehen, in der Ecke ist ein Tisch frei, fehlen nur die Stühle.“ André nickt: „Ich kann euch welche holen – oder ihr setzt euch nach gegenüber, wir haben jetzt erweitert.“ Tobias hakt nach: „Drüben ist Raucherbereich, oder?“ André bestätigt begeistert: „Ja, drüben darf jetzt geraucht werden.“ Doch Tobias’ Miene verzieht sich, er schnippt in einer Pech-gehabt-Geste mit dem Finger: „Mist.“ André grinst: „Dann hol ich euch vier Stühle.“ Tobias ist einverstanden: „Wenn wir dir helfen können…“ André nickt: „Das könntet ihr sogar, ihr könnten von draußen Stühle reinholen.“ Tobias und seine Freunde sind einverstanden, wenden sich nach draußen und schließen die Tür. Nach einer sehr kurzen Weile kommen sie zurück. „Habt ihr Stühle mit?“, fragt André und kann keine entdecken. Tobias verneint und nennt die pragmatische Lösung: „Wir setzen uns raus.“ Doch vorher bestellen die vier ihre Getränke bei André.

Aus dem Cafébereich stürmt Gesa an die Theke, schnappt sich einen Block und einen Stift und beginnt zu schreiben. Dann hält sie inne, grübelt kurz und schreibt wieder. Hält inne, grübelt, schreibt. Hält inne, grübelt, sagt „Ah, ja!“, streckt kurz den Zeigefinger in die Luft und schreibt. Erklärend fügt sie an: „Ich hatte den Block vergessen und versucht, mir die Bestellung zu merken.“ Das ist ihr gelungen, sie holt die bestellten Flaschen aus dem Kühlschrank und stellt sie aufs Tablett.

In der Küche bereitet André Baguettes, Bagels und Crêpes zu. „Eine regelmäßige Lesung mit Frank Schäfer ist angedacht“, sagt er. „Einen Termin gibt es noch, den 6. Mai – mal sehen, wie es angenommen wird.“ So voll, wie die erste Show war, und so glücklich, wie die Gäste darüber sprachen, steht da aber nichts Schlimmes zu befürchten. Über den abebbenden Winter freut sich André. „Vor zwei Tagen ging’s los, da hatte man selbst schon den Frühling in der Nase“, schwärmt er, während er Mozzarella auf ein Baguette legt. Da ging es nicht nur ihm so, dass er den Frühling begrüßen wollte: „Ich musste Tische und Stühle rausräumen.“ Grund und Anlass, schon jetzt über den Sommer nachzudenken: „Wir haben Bierbänke gekauft, rollen unterm Balkon eine Leinwand herunter und gucken WM.“ André legt die fertig zubereiteten Leckereien auf Teller und bringt sie zu den Gästen.

Matze (van Bauseneick)
www.krautnick.de

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