Dienstag, 2. Februar
Vor 20 Uhr kommt zunächst kein Gast ins Café Riptide, denn bis dahin bereiten André und Chris den Raum für die heutige Abendveranstaltung vor. Heute Abend liest Ex-Titanic-Chefredakteur Thomas Gsella im Café, zum bereits zweiten Mal. Für die Gäste, die die Zeit zwischen Cafébetrieb und Abendveranstaltung dennoch in Reichweite des Riptides verbringen wollen, hat sich die Situation immens verbessert: Sie müssen jetzt nicht im kalten Nieselregen stehen, sondern können sich die neue Rip-Lounge setzen. Dort sitzt Sylvia und interviewt Thomas Gsella für Radio Okerwelle. Gerald Fricke und Frank Schäfer setzen sich nach einer Weile dazu. Sie kennen Thomas Gsella, denn sie hatten ihn einmal bei ihrer Literaturshow „Lemmy und die Schmöker“ zu Gast, die sie bis vor ein paar Jahren gemeinsam mit Hartmut El Kurdi im Antiquariat Buch und Kunst veranstaltet hatten. Dort war Sylvia auch immer Gast, deswegen kennt sie auch die beiden Braunschweiger Autoren.
„Hast du reserviert?“ Diese Frage wird Jana an der Kasse heute noch häufiger stellen. Die meisten Gäste bejahen sie. Statt einer Eintrittskarte drückt Jana den Gästen den Riptide-Stempel in die Hand. „Ich bin die Aushilfe für die Aushilfe“, erklärt Jana lachend. „Das mache ich gerne, wenn mal Not an der Frau ist.“ Der nächste Gast kommt an die Kasse. „Hast du reserviert?“
Noch ist im Café nicht viel los. Überall stehen Bierbänke quer im Raum, eine winzige Bühne drängt sich in die LP-Ecke, davor warten die vier schwarzen Hockerwürfel auf Sitzende. Die nehmen zuerst das Sofa am anderen Ende des Raumes ein. André kommt aus Richtung Sofa, Chris kommt von der Leiter herunter. Er hat den Beamer auf einen Lautsprecher gestellt und das Bild von Gsellas neuem Buch „Warte nur, balde dichtest du auch! – Offenbacher Anthologien“ auf die Leinwand neben der Minibühne projiziert. Chris setzt sich auf den Stuhl an dem Tisch auf der Bühne. „Thomas Gsella hat mich gebeten, euch ein paar Geschichten zu erzählen“, spricht er ins Mikrofon. „Er hat keinen Bock“, behauptet er und fügt grinsend hinzu: „Auf euch.“
Ein Relikt aus vergangener Zeit, ein Symbol für die Einzigartigkeit und den liebenswerten Charakter des Café Riptide haben Chris und André zu Grabe getragen: Den Schlüssel für das WC. Er liegt jetzt aufgebahrt in einem Holzsarg auf dem Tresen, beschriftet mit „R.I.P. 16.9.2007 – 16.1.2010“. Seit es in der Lounge Toiletten gibt, wird die Frage „kann ich mal den Schlüssel haben?“ im Riptide ebenso wenig wieder zu hören sein wie die gut gelaunt geäußerte Wegbeschreibung „wenn du hier raus gehst, nach rechts, etwa zehn Meter, dann auf der linken Seite die Glastür, die Treppe hoch“. Eine Ära geht zu Ende. Das sehen offenbar viele Gäste so, denn Chris erzählt eben jemandem, dass ein anderer Gast gesagt hätte, er würde jetzt trotzdem nur mit dem Schlüssel aufs WC gehen wollen. Überdies berichtet Chris, dass es mit der einzigartigen Klingel für die Funk-Verbindung zur Rip-Lounge nicht geklappt hat, und beruhigt: „Die provisorische Klingel funktioniert jetzt immerhin.“
Am Rand der ersten Reihe stapelt Sylvia ihre technischen Dinge und ihre Winter-Sachen auf die Bank. „Hab den Thomas interviewt drüben“, sagt sie, „und mir jetzt einen Platz in der ersten Reihe reserviert.“ Auch Chris setzt sich in die erste Reihe, neben Marcel Pollex vom Ensemble der Bumsdorfer Auslese. Mehr Platz ist im rappelvollen Café auch kaum noch zu bekommen. Aber zu finden: Auch Heike und Jerun zwängen sich noch erfolgreich nach ganz vorne.
Sich umständlich verrenkend nimmt Thomas Gsella den Platz auf der Bühne ein. „Ich darf mich nicht bewegen, sonst rutsche ich von der Bühne“, stellt er um sich blickend fest. „Hinter mir ist ein Graben, zehn Meter tief.“ Vor einem Jahr sei er schon mal im Riptide gewesen, erinnert er sich. „Als ich vor einem Vierteljahr erfuhr, dass ich schon wieder für Braunschweig gebucht bin, stellte ich fest, dass ich noch gar kein neues Programm hatte, da musste ich schnell zwei neue Bücher schreiben.“ Zum Beispiel die „Offenbacher Anthologie“ als Antwort auf die „Frankfurter Anthologie“, die Marcel Reich-Ranicki als Lyrik-Rezensions-Kolumne in der FAZ verfasst. Gsella beschränkte sich jedoch nicht wie Reich-Ranicki auf deutschsprachige Lyrik, sondern ließ prominente Gestalten offenbar ohne deren Wissen weltweit unbekannte Lyrik-Phänomene auftun und beschreiben. Passend dazu warf er immer ein Foto des vermeintlichen Dichters an die Wand. Gsella adaptierte nicht nur absurde Lyrik, sondern nicht minder überzeugend die verbalen Auswüchse der Lyrikrezipienten. Die Genrevielfalt und das damit sehr breit gefächerte Allgemeinwissen brachten immer andere Ecken des Publikums zum Lachen. Freude hatten so alle an der Lesung.
In der Pause wechselten viele Gäste in die Rip-Lounge, nicht nur zum Rauchen. Heike und Jerun gehören dazu. Heike lobt das Riptide. „Eine tolle Atmosphäre hier“, sagt sie. Erst gestern Morgen hatte sie per Mail zwei Plätze für die Veranstaltung vorbestellen wollen. „Abends kam dann Antwort von Chris“, erzählt sie erleichtert. Die beiden gehen rauchen, wie viele andere Gäste auch.
Also haben die Nichtraucher im Riptide mehr Platz, sich in Gruppen zusammenzustellen und zu unterhalten. Mit leuchtenden Augen schwärmt Gerald von „A Serious Man“, dem neuesten Film der Brüder Joel und Ethan Coen. Das Ende habe ihn überrascht, die vielen kleinen Details gefielen ihm. „Das Parkplatz-Gleichnis“, erinnert er sich und muss sofort wieder darüber lachen. Gerald hat den Anspruch, die Filme der Coen-Brüder komplett zu sehen „‚Burn After Reading’ habe ich noch nicht gesehen, ‚Barton Fink’ war mein erster“, erzählt er. Der habe ihn damals auf den Rest erst neugierig gemacht. „Arizona Junior“ fehle ihm noch. Über „Ladykillers“ sagt er jedoch: „Das ist der Verzichtbarste.“
Zwei Gruppen von Gästen bevölkern die Rip-Lounge: Die Raucher, sitzend, und diejenigen, die sonst nach dem Schlüssel fragen würden, schlangestehend. Irgendwo dazwischen macht sich Laura auf den Weg zurück ins Haupt-Café. Laura kellnert im Herman’s, lernt zurzeit aber auch viel fürs Studium. „Ich könnte mir keinen Job vorstellen, bei dem ich nichts mit Leuten zu tun habe“, sagt sie, und erzählt: „Eine Freundin gestaltet Dinge am PC, das könnte ich nicht.“ Sie verlässt die Rip-Lounge. Allmählich leert die sich, auch Heike und Jerun rauchen auf und gehen durch den Nieselregen zurück ins Café.
Am Eingang steht André im Niesel und raucht. „Am 13. haben wir wieder die Party mit dem Superbonz Soundsystem“, sagt er. „Da lassen wir in der Rip-Lounge entspanntere Musik laufen, da können die Leute dann chillen.“ Er zieht an der Zigarette, da kommt Ben den Handelsweg entlang. Der Play-It-Again-Ben der Bumsdorfer Auslese wundert sich, was im Café los ist. „Thomas Gsella hält eine Lesung“, sagt André. „Ich komme nur zufällig vorbei, will mit Arbeitskollegen etwas trinken gehen“, sagt Ben. Er fragt André: „Haste mal Feuer?“ und hält ihm eine Selbstgedrehte hin. André hat Feuer. Ben dankt und verschwindet grüßend und Rauch in die Luft blasend in der nassen Kälte.
Kabel und Mikrofone türmen sich auf Sylvias Platz. Sie schneidet Gsellas Programm auszugsweise mit: „Mal sehen, was noch kommt.“ Den Anfang habe sie jedenfalls mitgeschnitten, berichtet sie, und freut sich: „Besonders Franks Lachen, das hört man ja immer und überall heraus.“
Jetzt ist auch Thomas Gsella aus der Raucher-Lounge zurück an seinen Bühnenplatz gekehrt. „In der Pause haben Leute gesagt, die Lesung wäre scheiße, weil zu wenig Gedichte vorkamen“, setzt er an. Den Missstand behebt er, indem er für Spiegel-Online verfasse Sudel-Gedichte über Städte rezitiert. „Über Braunschweig habe ich auch eines geschrieben auf der Fahrt hierher“, sagt er und liest es vor. Die „Offenbacher Anthologien“ bestimmen danach auch den zweiten Teil der Lesung, obendrauf gibt es Prosa sowie Texte aus der Titanic-Rubrik „Vom Fachmann für Kenner“ zu hören.
„Es ist schön, jemandem zu lauschen, der weiß, was er da macht“, kommentiert Janna an deren Ende die Veranstaltung. Für Gsella erfindet sie das Lob „ich find den krallenett“. Heike, die vor ihr sitzt, bedient sich an Jannas Kleidungsstücken, bis sie bemerkt, dass es gar nicht ihre sind. Beide lachen. „Ich war mal auf einer Party, da haben alle ihre Jacken aufs Bett geworfen, um die 30 Gäste“, erzählt Heike. „Das war im Winter, und als ich nach Hause wollte, musste ich erst meine Jacke suchen – alle waren schwarz“, sagt sie. Im gehen macht sie noch einen Vorschlag: „Im Winter sollte man mal etwas anderes als Schwarz tragen, zum Beispiel Orange.“
Auch Sylvia sucht ihre ganzen Sachen zusammen. „Am Sonntag von zwölf bis 13 Uhr mache ich über Chris eine Sendung“, kündigt sie an. „Den ganzen Werdegang, vom Mailorder bis zum Café, und André sucht die Musik aus.“ Kabel landen in Sylvias Tasche. „Das Interview mit Thomas ist am Donnerstag in ‚Pandora’ zu hören, zwischen 19 und 20 Uhr“, sagt sie. Die Sendung „Pandora“ läuft an jedem Donnerstag auf Radio Okerwelle. Der Sender residiert in der Brunsviga, dort ist Sylvia also oft anzutreffen. „Da kommt Hartmut El Kurdi hin, am 26. Februar, zum Satire-Fest“, sagt Sylvia begeistert. „Und am 27. März kommt er mit The Twang auch in die Brunsviga“, schiebt sie hinterher. Kaum weniger begeistert berichtet sie von der neuen The-Twang-CD: „Klaus Voormann hat das Cover gemacht, die Band in einem Stetson – Voormann hat in der Band von Manfred Mann gespielt und das Cover von der Beatles-LP ‚Revolver’ gestaltet.“ Im Vorbeigehen hat auch Frank, dessen Lache Sylvia so mag, noch einen Veranstaltungstipp: „Am 4. März ist Frank Schulz im Riptide, das stand auch unten im Newsletter zu Gsella.“
Die Show ist lange vorbei, das Riptide leert sich. André klappt Bänke zusammen, Jana gibt an der Theke das Pfandgeld aus. Chris dankt Thomas Gsella an der Bühne für den Abend. Wird Gsella ein drittes Mal ins Riptide kommen? „Wenn ich darf?“, hält er grinsend dagegen. Chris spielt empört: „Aber sicher!“
Matze (van Bauseneick)
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