#32 Hublot in Vancouver

Mittwoch, 16. Juni 2010

Heute soll es sein: mein erstes ganzes Fußballspiel der laufenden WM im Fernsehen. Bislang hatte ich keine Zeit dazu, da will ich mich heute ins mein erweitertes Zuhause setzen, besser: ins Achteck dazwischen. Das Riptide wirbt mit „Fußballgucken mit Niveau“, und genau das will ich haben. Denn ich erinnere mich gerne an die Fußball-WM vor vier Jahren. An sich hatte ich seit 1990 keine Lust mehr auf Fußball, vor allem nicht auf den der deutschen Fußballnational-Band. Die hatte sich in Folge ihres Weltmeistertitels dergestalt arrogant aufgeführt, dass sie vergaß, weiterhin ordentlich Fußball zu spielen. Die Europameisterschaft 1992 habe ich natürlich wahrgenommen und schon damals, ein Jahr vor meiner ersten Reise dorthin, zu Dänemark gehalten, aber das eher zufällig, eben gegen die Arroganz und für den Unterhund. Dänemark war damals ein schönes Beispiel für eine korrekt verkehrte Welt, mit Frittenbudenernährung und Europameistertitel. Folgende Weltmeisterschaften habe ich kaum noch wahrgenommen. 1998, da klingelt etwas, 2002 hab ich nicht mal den Meistertitelträger erfahren. Als dann also die WM vor der Haustür stattfinden sollte, dachte ich nur: mir doch egal. Was ist schon Fußball, wenn er nicht einmal mehr vernünftig aussieht (als Sport, nicht als Sportgerät)!

Meine Fußballsozialisation habe ich als Kind von meinem Vater erfahren, wie es sich wohl gehört. Er war gebürtiger Hamburger und naturgemäß HSV-Fan. Das hatte sich damals auch noch gelohnt, mit Uli, Manni, Felix und Horst. Und Uwe Seeler ist heute ja auch wieder in aller Munde, phonetisch jedenfalls, und dann im doppelten Sinne. Mit meinem Vater ging damals jedoch auch mein Fußballinteresse. Das weckten erst in den 90ern Kollegen wieder, als ich in Wolfsburg arbeitete und der dortige Verein in die erste Liga aufstieg. Ich kam nicht umhin, mich mit Bundesligafußball auszukennen, und wehrte mich auch nicht dagegen. Es macht mir seitdem Spaß, Woche für Woche die Ergebnisse aus mittlerweile drei Ligen zu studieren und mit den Vereinen meiner Zuneigung zu fiebern. Für internationalen Fußball hingegen hatte es bis 2006 dennoch nicht gereicht.

In allerletzter Sekunde ließ ich mich dazu hinreißen, das Eröffnungsspiel gegen Costa Rica zu gucken, und zwar in einem traditionell nicht unbedingt fußballaffinen Umfeld: im Merz und mit Frauen. Zwar verachte ich Menschen, die in typischen Rollenklischees denken, handeln und reden, aber in dem Moment hatte ich genau darauf Lust, mich selbst in die postulierte Frauenrolle zu drängen, nämlich als vermeintlich Unwissender eine Freizeitaktivität wahrzunehmen, die dem Rest um mich herum im Gegensatz zu mir etwas bedeutete. Protest, ja. Und dann kam alles ganz anders: Das Merz-Publikum bewies, dass Fußballgucken mit Massen auch richtig viel Spaß machen kann. Und die Deutsche Mannschaft zeigte, dass sie es wieder wert war, ihrem Spiel zuzusehen. 4:2, sechsmal Applaus, Costa-Rica-Fahnen wehten im Merz, alle feierten jedes Tor. Was für eine herrliche Harmonie. Und ebendiese Harmonie erlebte ich bei der WM nahezu durchgehend. Das Merz und auch die frisch eröffnete Okercabana waren Hauptanlaufpunkte für mich. 2006 hatte ich in den kuriosesten Konstellationen Fußball geguckt, aber am schönsten war es immer im Merz und in der Okercabana. Dort, am Strand, hatten sie Flachbildschirme aufgebaut und Hefeweizen zu umgerechneten 1990-Preisen ausgeschenkt. Wir saßen neben Argentiniern, die mit uns Mexico-Spiele guckten, und kuschelten uns zum Sonnenuntergang bieretrinkend in den Sand, während über uns eine verirrte Möwe kreiste und Brasilien und Frankreich eine spannende Partie austrugen.

So will ich es heute auch wieder haben, eben „Fußballgucken mit Niveau“. Also ab ins Riptide. Noch schnell vorher im Curry House eine gute Mahlzeit verdrücken, dann rüber ins Achteck. Die Bedingungen könnten besser kaum sein: blauer Himmel, vereinzelte Wolken, es ist warm, ein leichter Wind weht. Nichts ist mehr zu spüren von drückender Schwüle und anschließendem Kälteeinbruch. Doch im Achteck ist von der Leinwand gar nichts zu sehen. Ich gehe ins Café und begrüße André und Chris. André steht in der Küche, Chris sitzt im Büroteil. „Wo habt Ihr denn die Leinwand?“, frage ich. „Die rollen wir gegenüber aus“, antwortet André. Ein Blick aus der Tür zeigt mir eine weiße Querstange über dem großen Fenster der Rip-Lounge. „Ich suche mir mal einen Platz“, sage ich. Chris nickt: „Plätze sind rar heute.“ Kann ich verstehen, Fußball läuft ja gleich. Ich bewundere das Vertrauen in Technik, das Chris und André zeigen, denn schließlich steckt die Leinwand immer noch unausgerollt in der weißen Rolle. Lara kommt zum Dienst, ich bestelle mir ein Wolters bei ihr und setze mich draußen an einen frei gewordenen Tisch. Mit zwei Freunden bis ich verabredet, zum Quatschen und Fußballgucken. Ich warte.

Im Achteck ist es wie immer wunderschön. Das Gildenschild am Caféeingang trägt eine Blumenampel, links und rechts von der Tür sind zurzeit nicht brennende Ölfackeln aufgestellt. Zwischen dem Balkon und der zurzeit noch optionalen Leinwand sorgt ein grünes Sonnensegel für Schatten auf dem hoffentlich bald flackernden Fernsehbild. Auf dem Balkon macht es sich ein Mensch mit Laptop bequem. Ein Deutschlandfähnchen steckt in einem Blumenkasten, bunte Wimpel umkreisen die Reling des Balkons. Die Sonne beleuchtet den oberen Rand der maurischen Mauern. Der Clown, der einige Wochen lang den Elektroschaltkasten neben dem Riptide geziert hat, ist weg. Schade! Schwalben kreischen über den Dächern. Die Tische sind voll besetzt, überall sitzen Menschen, die essen, trinken, sich unterhalten und lachen. Eine angenehme Geräuschkulisse. Aber eigenartig entspannt: Sollte sich nicht langsam das Fußballfieber einstellen? Die beiden Frauen direkt unter der immer noch eingerollten Leinwand gehen. Klar, würde ich so kurz vor Anpfiff auch machen. Zwei andere Frauen setzen sich. Ich überlege, sie zu warnen, denke aber, dass André oder Lara das auch machen werden, wenn sie die Leinwand ausrollen. Chris nicht: Der hat bereits Feierabend und sich schon verabschiedet. Diese Gelassenheit ist aber wirklich rätselhaft. Ich suche den Beamer und kann ihn nicht finden. Was ist das für Technik, die sie hier haben? Eine Plasmaleinwand, ein einrollbarer Fernseher? Das kann doch nicht sein. Gleich ist es halb. Auch meine angekündigten Begleiter sind noch nicht da.

Aus einer der Nachbarkneipen im Handelsweg dringt Vuvuzelageräusch herüber. Kein Anlass für meine Kneipiers, die Leinwand auszurollen. Viel nerviger als die Vuvuzelas finde ich überdies das Gemecker über sie. Ist es denn so, dass die Spieler sich nicht mehr verständigen können? Dass sie den Schiedsrichter nicht mehr pfeifen hören? Dass sie Traineranweisungen nicht mehr wahrnehmen? Umso besser, dann sind die Chancen endlich mal gleich. Die bisherigen Ergebnisse geben mir recht: So gleich schlecht haben bei Weltmeisterschaften selten alle Mannschaften gespielt. Was für trübe Tassen! Überraschend ist es in der Vorrunde bislang lediglich die deutsche Mannschaft, die grandiosen Spielspaß zeigt und so spielt, wie man es von Brasilianern kennt. Im ersten Durchgang der Vorrunde haben nur zwei Mannschaften aus eigener Kraft mehr als ein Tor geschossen. So betrachtet, ist es nicht schlimm, das ich bislang nicht zum Fußballgucken gekommen bin. Na ja, gestern Abend habe ich mir die zweite Halbzeit von Brasilien und Nordkorea angeguckt. Ohne Originalton zunächst; ich dachte, wenn ich eh schon den Anfang verpasst habe, dann kann ich auch die neue CD der Chemical Brothers noch fußballbebildert zuende hören. „Further“ wird ja überall eher mäßig beurteilt. Zu wenig Hits, zu wenig geile Gäste, zu sehr auf Disco gemacht soll sie sein. Klingt für mich nach: Sie besinnen sich aufs Wesentliche, oder im VW-Sprech: aufs Kerngeschäft. Und so ist es auch. Man hört typische Chemical-Brothers-Sounds, nur eben nicht so brachial wie etwa auf den beiden sehr guten Alben davor. Die Brüder klingen gereifter, die Sirenen heulen nicht mehr so im Mittelpunkt. Dafür ertönt ein Pferdewiehern. Während ich also den chemischen Brüdern lauschte, sah ich die Einblendung, dass Béla Réthy das laufende Spiel kommentiert. Nein! Und ich höre die Chemical Brothers! Béla Réthy, der Gott unter den Fußballkommentatoren. Der Grund, Gurkenspiele zu gucken. Der Mann der redundanten Floskeln und des galoppierenden Unsinns. Bei der Europameisterschaft vor zwei Jahren sind wir im Freundeskreis regelmäßig lachend vor dem Fernsehgerät zusammengebrochen. „Für Italien steht es genauso 0:0 wie für Spanien“ ist zum Klassiker geworden. Oder der Moment in der Nachspielzeit, als Réthy mal minutenlang gar nichts sagte und man lediglich die Stadiongeräusche aus dem Fernseher hörte. Man versank allmählich in schöner Entspannung, als Réthy unvermittelt hektisch rief: „112. Minute!“ Ah! Danke, Herr Réthy, und gut beobachtet! Musste der uns deshalb wecken? Sehr schön auch Réthys Off-Kommentar, als beim Spiel Deutschland gegen Türkei das Bild kurz weg war: „Und da Sie einen Mann mit Vollbart sehen, können Sie auch erkennen, dass das Bild wieder da ist.“ Bei unseren Fußballguckrunden im Freundeskreis ist übrigens noch ein geflügeltes Wort entstanden. Maren, die selbsternannte Madame Réthy, fragte – bescheidwissend! – beim Gruppenspiel der Niederlande gegen Frankreich mit Blick auf die Tafel mit den roten und grünen Digital-Nummern, die ein Spielfeldrandmann immerzu in die Kamera hielt: „Wer ist eigentlich dieser Hublot, den die Franzosen ständig einwechseln?“

Das Brasiliennordkoreaspiel nun war langweilig und kann fehlerfrei als nicht geguckt verbucht werden. Die CD war schneller aus als das Spiel. Ich schaltete den Réthy dazu, aber der war leider nicht witzig. Anders offenbar beim bislang einzig guckbaren Spiel der WM, Deutschland gegen Australien, da berichtete Maren, Réthy habe angesichts einer nicht vollzogenen Rachemöglichkeit eines Spielers kommentiert: „Klug genug.“

Die Zeit schreitet voran, noch immer hat es niemand eilig, die Leinwand auszurollen und den Beamer aufzustellen. Das nenne ich mal Gelassenheit. Die Vuvuzuelas aus der Nachbarschaft werden immer lauter. Ich kann die Aufregung um die Tröten nicht verstehen. Ich bin mir sicher, dass alle Fußballgucker das Geräusch ab dem 12. Juli vermissen werden. Man kann vielmehr die Durchhaltekraft der Trötenden bewundern: Beim gestrigen Spiel ebbte der Geräuschteppich zu keiner Zeit ab. Das sind mal Lungen! Und der Geräuschteppich erinnerte mich an etwas. An die Horns Of Dilemma nämlich, das Begleitensemble der Violent Femmes. Auf deren Best-Of „Add It Up“ gibt es den Live-Track „Vancouver“, der klingt wie das Vuvuzelagedröhn aus dem Fernseher. Ich höre also ein anderthalbstündiges Horns-Of-Dilemma-Konzert, im Idealfalle mit Béla-Réthy-Kommentar. Wie schön!

Und à propos Live-Konzert: War das Festival Theaterformen nicht schön? Zwar hatten die Veranstalter es nicht drauf, dafür vernünftig Werbung zu machen, und trotzdem jede Menge Leute mobilisiert, aber das Programm war endlich mal wieder wie weiland zu seligen FBZ-Zeiten. Los ging’s schon mit einem Knaller: Tamikrest sollten spielen, kurz vor WM-Anpfiff. Doch vor das Konzert hatten die Veranstalter Hürden gestellt: Im Theaterplan stand es unter „Haus III“ aufgelistet, also im Magniviertel. Das überhaupt herauszufinden war schon eine Meisterleistung. Zwar lagen überall die Programmbüchlein aus, auch im Riptide, aber wer sich für Theater nicht grundsätzlich interessiert, nimmt das alternative Konzertprogramm dahinter gar nicht wahr. Davon habe ich im Musikexpress erfahren, als ich scherzeshalber die Tourdaten von Dirtmusic/Tamikrest las – und überrascht feststellte, dass da Braunschweig aufgelistet war. Bei Die Zukunft ebenso. Warum, so fragte ich mich, wusste ich davon nichts? Sofort wollte ich Tickets haben. Im Ticketcenter war das Konzert in keinem System aufgelistet. Es dauerte bestimmt zehn Minuten, bis wir auf die Idee kamen, mal im Theaterplan nachzusehen, in dem dann unter „Haus III“ bei jedem Konzert stand: „Eintritt frei“. Wie bitte? Erneut: Warum weiß davon niemand? So also pilgerten wir an jenem Mittwoch zu Haus III und wunderten uns, warum wir die einzigen waren. Wir führten dies auf die eben sehr schlechte Werbung zurück. Na ja, und auch auf die Abwesenheit einer Bühne. An Haus III gab es keinerlei Hinweis auf das Konzert. Dort hing auch der Theaterplan aus, ja, vergewisserten wir uns, es stand unter „Haus III“, und klein darunter stand „Gartenhaus Haeckel“, offenbar der Sponsor. Das Haus III war verschlossen, also machten wir uns auf den Weg zu den Häusern Klein und Groß. Klein war ebenfalls verschlossen. Dann entdeckten wir ein riesiges Zelt mit Wimpeln daran im Museumspark. Dort sprach uns eine Frau an, ob wir uns in Braunschweig auskannten. Die Nachtigall hörte ich ganz laut trapsen: Auch sie suchte Tamikrest und konnte uns versichern, dass die Band im Zelt vor unserer Nase nicht spielen würde. Am Mobiltelefon hatte sie Leute, die bereits dort waren, wo wir hinwollten, und die uns lotsten. Und noch weitere Menschen, die so orientierungslos waren wie wir. Irgendwo am Ende des Theaterparks nun entdeckten wir weitere Menschen, die Bühne und den Grund dafür, warum auf dem Spielplan „Gartenhaus Haeckel“ stand: Das war der Name des Veranstaltungsortes. Den kein Braunschweiger kannte. Aber wir waren in der Zeit: Die Band hatte noch nicht begonnen. Am Merchandisingstand saß eine junge Frau, der ich erzählte, dass ich mir Tamikrest nur deshalb ansehen wollte, weil die auf der Dirtmusic-Platte „BKO“ unter anderem mit Hugo Race musizierten, den ich sehr schätze und vor Jahren schon einmal im Brain bewundert hatte. „Der ist heute auch hier, wenn du willst, kannst du nachher mit ihm sprechen“, sagte sie wie beiläufig. Okay. Alles war gut. Tamikrest auch: Mitnichten war es eine Rockband aus der Wüste, die Rockmusik spielte, sondern eine traditionelle Band aus der Wüste, die lediglich Rockinstrumente benutzte. Es war sehr chillig und entspannend. Nach und nach kamen die Darsteller von benachbarten Theaterveranstaltungen herüber und begannen, exstatisch zu tanzen. Exstatisch und ansteckend, der Raum zwischen Klappstühlen und Bühne füllte sich mehr und mehr mit ausgelassen zuckenden Menschen. Ein weiterer in Tuaregkleidung gewandeter Musiker enterte die Bühne und stöpselte sein Instrument ein. Völliges Understatement: Niemand nannte den Namen Hugo Race, nur wenige im Publikum wussten, um wen es sich da handelte. Race gab dem Quintett weiteren Schub, die Musik wurde zusehends mitreißender, die Menschen ließen sich mehr und mehr mitreißen. Furios! Noch furioser: Nach dem Auftritt hatte ich auch ohne Merchandisingstanddamenvermittlung die Gelegenheit, mit Hugo Race zu sprechen. Zweimal in zehn Jahren habe ich ihn gesehen, sagte ich ihm. „Wo war denn das andere Mal, im Brain?“, fragte er. Das war ja ein Ding: Er erinnerte sich! Und erzählte viel, davon, dass am Vorabend in Paris das vorerst letzte gemeinsame Konzert von Tamikrest und Dirtmusic stattgefunden hatte und dass er auf dem Weg nach Berlin in Braunschweig Halt machte, weil er sich an die Stadt erinnerte. Und dass er die Band gewarnt hatte, das Publikum in Braunschweig bei ihrem ersten Gig als Headliner in Europa nicht misszuverstehen, dass nämlich verhaltener Applaus keine Aussage über die Qualität des Auftritts mache, und dass er sich enorm wunderte, wie ausgelassen ebenjenes Braunschweiger Publikum dann tatsächlich war. Und er erzählte davon, dass viele Wüstenbewohner mit E-Gitarren und akkubetriebenen Verstärkern eigene Musik machten, sie auf USB-Sticks oder Mobiltelefonen speicherten und über Tausende von Kilometern hinweg via Bluetooth irgendwo in der Wüste mit anderen ebenfalls musizierenden Nomaden austauschten. Ich fühlte mich wieder wie ein Teenie, der seinen Lieblingsstar trifft, und ließ alle sechs Musiker die gemeinsam aufgenommene Doppel-LP „BKO“ bekritzeln. So einfach kann Glück sein.

Nicht so viel Glück hatte ich damit, die anderen Konzerte der Reihe wahrzunehmen. Lediglich bei Kristof Schreuf war ich noch. Das war ein gigantisches Familientreffen: Freunde an der Zahl, Leute vom Silver Club, von Radio Okerwelle, von überall. Und Schreuf auf der Bühne, der zwischen neuen eigenen, in Bastard-Pop-Art gecoverten und alten Brüllen- und Kolossale-Jugend-Liedern lustige ernstgemeinte Sachen sagte wie: „Glaubt nicht an die Wahrheit dahinter!“ Wir nahmen ihn beim Wort. Gern gesehen hätte ich auch Die Zukunft mit Bernadette La Hengst, Knarf Rellöm und Olifr Guz, oder Hans Unstern, von dem im Nachhinein erfuhr, dass ihn Nackt produzierte, Bandmitglied von Warren Suicide, einer der wenigen Nullerjahrebands, die mich nachhaltig und dauerhaft überzeugen. Und To Rococo Rot, die hab ich auch verpasst, aber an dem Tag war ohnehin viel los in der Stadt. Bei Graff war Verleihung des Daniil-Pashkoff-Preises, im Riptide spielte Maximilian Hecker. Das war einer der vielen späten Abende, an denen ich meine Zeit im Riptide verbrachte und mich freute, dass der Laden so brummte. Wenn sogar Literaten und Angestellte ihre Freizeit an ihrem gelegentlichen Arbeitsplatz verbrachten!

Ich blicke auf die Uhr. Das Wolters geht zur Neige, meine Begleiter sind noch nicht da, der Anpfiff ist längst erfolgt, die Leinwand jedoch noch immer nicht ausgerollt. Und es scheint auch niemanden zu beunruhigen. Ja, bin ich denn der einzige…? Ich gehe ins Café. „Äh. Nur mal so zu meiner Information: Zeigt Ihr das Spiel heute gar nicht?“, frage ich. „Ich dachte, Ihr zeigt jedes Spiel.“ – „Erst ab K.O.-Runde“, sagt André. „Vorher nur die Deutschland-Spiele.“ Er berichtet begeistert davon, wie voll es im Riptide beim Spiel gegen Australien war. Ich bin neidisch und nervös. Hey, ich habe mal einen Abend frei, da möchte ich endlich ein Fußballspiel sehen. Ganz. Das ist jetzt schon nicht mehr möglich. So gesehen erstaunt es dann doch, dass das Achteck so rappelvoll ist mit Leuten, die während der WM keinen Gedanken an sie verschwenden. Also zahle ich, verabschiede mich von Lara und André und beordere meine immer noch nicht anwesenden Begleiter per Kurznachricht zur Piazza Lino. Am Kohlmarkt hat Lino nämlich vor seinem Restaurant einen Flachbildschirm aufgestellt. Die Vuvuzela leitet mich dorthin. Das Spiel hingegen interessiert dort fast niemanden. Meine Begleiter treffen jetzt ein, wir ordern Wolters-Biere. Auf dem Schirm gurken auch Uruguay und Gastgeber Südafrika nur vor sich hin. Wir scherzen flach über Urumilitärs, Uruglider und Urupluies. Was ist denn bloß los bei dieser WM? Zwar gewinnt mit Uruguay mal eine Mannschaft 3:0, aber wie denn bitte! Das 2:0 war schon dubios. Torwart-Rot und Elfmeter, dem sich ein Feldspieler im Kasten ausgesetzt sieht. Der richtige Torwart versäumt das nächste Spiel, heißt es. Schön ist die dazugehörige Einblendung: „Misses Next Match“. Das ist eine Band! Deren Album hat das Label vom Riptide herausgebracht, die Plakate hängen dort im Achteck. Das ist dann ja doch noch fast wie Fußballgucken in Riptide.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

1 Kommentare

  1. Madame Réthy

    Hui, ein klasse Blog Monsieur Hublot, ich bin begeistert!!! Nur ein winzig kleiner Zusatz, mein Lieblingskommentar des Herrn Réthy aus dem Spiel Deutschland-Australien: ‚Die kombinieren sich rein, da wird nicht sinnlos in der Gegend rumgeschossen‘. Jawollja Herr Réthy, bestens beobachtet und mein Gott: hat DAS Spiel Spaß gemacht!!!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert