Samstag, 18. Juni
„Was ist der Sinn des Lebens?“ Da ich nicht weiß, wie ernst Toto diese Frage meint, antworte ich gewohnheitsmäßig mit „42“ und „Monty Python“. Doch Toto wirkt ruhelos, aufgewühlt und getrieben, er wünscht sich wirklich eine ernsthafte Antwort auf diese Frage. Damit habe ich nicht gerechnet. Eben war ich ins Riptide gekommen, Toto stand am Tresen, wo er jetzt auch noch steht, und André begrüßte mich. Weil er noch kurz etwas zu tun hatte, bevor er unsere Bestellungen entgegennehmen konnte, sagte er beiläufig „macht euch mal bekannt.“ Das machten wir. Dann bestellte Toto einen Kaffee und ich eine Hausmarke. „Was ist denn das?“, fragte Toto. Ich sagte, Cola mit Kaffeegeschmack, und André informierte ihn über den höheren Koffeingehalt des Getränks. „Das kenne ich noch nicht, das nehme ich auch“, bestellte Toto um. Und wandte sich dann mit der überraschenden Frage an mich.
Toto hat nämlich den Sinn des Lebens noch nicht gefunden, sagt er. Ich schon, meine ich. Und wundere mich, dass er mich nicht sofort fragt, wie meiner aussieht. Das läge für ihn nicht so nahe wie für mich, sagt er, und will es dann doch wissen. Kontinuierliche Verbesserung, aus reflektierten Fehlern in ähnliche Situationen vorbereiteter hineingehen, anderen Menschen nicht zur Last fallen. „Das hat doch jeder“, hält Toto überraschend dagegen. Das sehe ich nicht so: Wie viele Menschen hören mit 22 auf, sich zu entwickeln, weil sie Ehepartner, zwei Kinder und eigenes Haus und damit das Ende ihres Lebens erreicht haben? Toto stimmt zu. Und konkretisiert seine Frage: „Das ist der persönliche Sinn des Lebens – und was ist der der Menschheit?“ Ich entgegne, dass wir mit dieser Frage als Mitglieder einer christlich geprägten westlichen Gesellschaft automatisch bei Gott ankommen. Und dass ich, die Existenz Gottes vorausgesetzt, hinter der Existenz des Menschen einen Plan Gottes nicht erkenne: Warum hat er uns geschaffen, wenn er uns die Verpflichtung auferlegt, exakt nach seinen Vorstellungen leben zu müssen, weil es uns hinterher sonst schlecht ergeht? Damit ist die Existenz des Menschen aus der Sicht Gottes doch eine Strafe. „Das ist abgehakt“, hakt Toto den Gedanken wiederum überraschend und mit einer Wischbewegung ab. Stattdessen will er wissen: „Du glaubst also, dass es Gott gibt?“ Ich schließe die Existenz Gottes nicht aus, sage ich. „Also richtig als alter Mann mit grauem Bart auf einer Wolke?“ Ich zucke mit den Schultern. Wenn ich die Existenz Gottes für möglich halte, dann auch jede Form, also als Gedanke, Energiewelle, Geistwesen oder auch alten Mann mit grauem Bart auf einer Wolke. Das ist mir dann egal.
Dabei fällt mir ein: Auf dem Kohlmarkt sind heute diverse Stände aufgebaut, darunter wie öfter am Samstag ein Stand von einer Gruppe, die Bibeln verteilt. Jemand erzählte mir von einem Schild, auf dem sinngemäß stand: „Glaubst du an die Bibel oder die Evolution?“ Und ich meine: Wenn der Mensch schon laut Bibel vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, warum sollte ihn dann diese Erkenntnis nicht dazu in die Lage bringen, die Art und Weise, wie Gott die Erde geschaffen hat, zu entschlüsseln? Warum also sollte nicht die Evolution genau das Werkzeug Gottes sein? Für mich schließt sich das nicht aus. Ich sage das Toto, der den Gedanken mit nach draußen nehmen will. Er hat’s mit dem Rücken und einen Stuhl bei Serge. Mit der Hausmarke in der Hand geht er vor. Im Achteck sitzen trotz trüben Wetters und nicht eben sommerlicher Temperaturen viele Riptide-Gäste. Ich nehme mir einen Stuhl und geselle mich zu Serge und Toto. Der hat seinen Gastgeber offenbar schon auf unser Thema eingestimmt. „Ich wusste nicht, dass Serge Gott ist“, empfängt mich Toto. Ich ahne, wie Serge das meint, und sage, dass jeder Mensch Verantwortung trägt. Serge grinst. „Lange nicht gesehen“, sagt er. Und lange nicht philosophiert, sage ich. Eine Woche? „Zwei Wochen“, weiß Serge.
Stimmt. Anfang Juni, Internationales Fest auf dem Kohlmarkt. Da gehe ich immer gerne hin. Dieses Mal war aber einiges anders: So sehr, wie die Linken mit ihrer Anti-Nazi-Plakat-Aktion den Nazi-Aufmarsch bekannt gemacht haben, lenkten die Nazis mit ihrer Anti-Überfremdungs-Aktion den Blick aufs Internationale Fest. Das war daher so gut besucht wie nie zuvor. Entsprechend waren einige von mir sehr begehrte Leckereien schon früh ausverkauft: Keine finnischen Piroggen, keine syrischen Falafel. Schade! Aber dafür thailändische Zucchinipuffer, haitianische Bananenfladen, Bier und Bratwurst aus Polen und spanisches Bier. Stefan, der einst das Portal Gandula gegenüber des Riptide betrieb, hat dort jetzt die Galerie Einraum 5-7 eingerichtet und mich für später dorthin auf ein Bier eingeladen. Mit einem stadtbekannten Schriftsteller nahm ich nach vielen spanischen und braunschweigischen Bieren die Einladung an. Da das Bier der Einraumgalerie alle war, bedienten wir uns beim Frischgezapften der Strohpinte gegenüber. Ein Einraum-Gast zeigte mir stolz seine LPs, die er beim Geburtstagsfest von Raute Records gekauft hatte. Das war ja auch! Ich werde Uwe und Katrin bei nächster Gelegenheit unbedingt gratulieren gehen. Vielleicht haben sie ja die „Meddle“ vorrätig. Jedenfalls saß auch Serge spät an diesem Abend im Riptide und holte sich mit den Worten „Komm her, Dichter!“ den Schriftsteller an seinen Tisch. Im Laufe des Abends landete auch ich an ebenjenem Tisch und mitten in existenziellen Gesprächen. Eine Woche später trug sich eine ähnliche Konstellation zu, nur ohne Serge. Nachdem ich mit meinem Lieblingsbassisten diverse Stunden beim Mittelaltermarkt verbracht hatte, trafen wir den Dichter in der Strohpinte, als wir Toddns Mugshot-Ausstellung im Einraum sehen wollte. Dafür kamen wir am Abend ganz knapp nicht zu spät: Toddn machte noch Mugshots, Polizeifotos, von uns und packte dann seine Sachen zusammen. Ein Gezapftes in der Strohpinte sollte es dann doch sein, weil nicht nur die Galerie geschlossen hatte, sondern auch das Riptide Feierabend machte. Eigentlich. Eine Stunde später waren immer noch einige Stühle im Achteck besetzt: mit fröhlicher Belegschaft. Wer da nicht mittun wollte.
Toto sagt, dass er ausschließt, dass es einen Sinn gibt, dass er aber dennoch nach einem sucht. Ich frage ihn nach dem Widerspruch darin. „Ich erkläre das mit einem Wort: Hoffnung“, sagt Toto. Und schwenkt in eine völlig andere Richtung aus: „Weiß du, woher ‚Spam’ kommt? Also nicht, woher Spam kommt, sondern, warum das so heißt?“ Ja, weiß ich: Von Monty Python’s Flying Circus, die Wikinger im Schnellimbiss. „Spam, egg, bacon, spam and spam.“ Und alle singen „Spam, spam, spam.” Serge nickt, Toto wirft die Hände in die Luft: „Wärst du gestern hier gewesen, hätte ich mir eine Nacht am PC gespart.“ Vor dem Gerät verbringe er schnell zu viel Zeit, sagt Toto.
Und kehrt dann wieder zum Thema zurück. Alte Schriften etwa: „Ich habe die Hoffnung, dass man immer ältere Schriften findet, die immer näher an einen Ursprung kommen.“ So etwas wie einen Punkt, von dem aus alles andere strahlenförmig abgeht, hake ich nach. Toto nickt. Serge denkt weiter: „Das ist der Zustand absoluter Gnade, die Idee vom Paradies.“ Serge fragt, warum wir dort nicht mehr sind. Aus biblischer Sicht weiß ich das: Weil der Mensch die Dinge hinterfragen wollte. Vom Baum der Erkenntnis essen. Das hat Gott nicht gepasst, also sind wir nicht mehr im Paradies. Doch Serge ist schon wieder woanders: beim Ursprung des Monotheismus’. Denn bis zu einem bestimmten Punkt sei es üblich gewesen, dass der Mensch einen Pantheon für selbstverständlich hielt. Erst das schriftliche Fixieren und dem Gedanken, dass in der Niederschrift Göttliches liegt, habe sich der Gedanke an einen einzelnen Gott entwickelt. Toto schwenkt zu seiner Ursprungsangelegenheit zurück: „Der Monotheismus erst wirft die Frage auf: Was soll das alles?“ Innerhalb eines Pantheons hätten die Menschen ihre Rolle nicht hinterfragt, sondern für selbstverständlich genommen.
Serge und Toto diskutieren, ob die Philosophie ein weltweites Phänomen ist oder nicht. Toto ist der Meinung, dass dem so ist, doch Serge hält dagegen: „Metaphysik im Rahmen der ontologischen Fragestellung ist ein rein westliches Produkt.“ Ich werfe ein, dass die Philosophen am Ende das gleiche wollen wie die Religionen, wenn man die von ihren menschengemachten Dogmen befreit. Doch das sieht Serge nicht so: „Die Philosophen entledigen sich Gottes, sie respektieren ihn aber, und werfen Fragen auf nach dem Ich – jeder von uns ist Gott, wenn wir die Philosophen beim Wort nehmen.“ Religion setze das Denken aus. Es gebe, so Serge, einen Unterschied: „Was ist denken, was ist glauben?“ Religion sei für Serge, die Verantwortung des Menschen auf etwas Übergeordnetes zu übertragen. Dem stimme ich aus eigener Erfahrung mit religiösen Gemeinschaften zu. Meine Interpretation dessen, was Gott von den Menschen will, ist hingegen die, dass wir Menschen die Verantwortung für unser Leben selber tragen. Viele Religiöse indes schieben sie auf Gott ab. Serge nickt.
Die Runde bekommt interessierten Zuwachs. Nach einigen Begrüßungsformalitäten wirft Toto das Wort „Bewusstsein“ in die Runde. Serge, der seine Auslagen vor spärlich, aber beharrlich fallenden Regentropfen in seinen schützenden Laden bringt, sagt erst abwinkend „es gibt keinen Sinn“, hört Totos Einwurf und korrigiert dann: „Das Bewusstsein ist der Sinn.“ Er setzt sich wieder. „Die Fähigkeit, die Frage nach dem Sinn zu stellen und ihn sofort zu negieren.“ Der Rundenzuwachs sagt: „Tiere haben kein Bewusstsein.“ Das erschreckt Toto und mich. Toto fragt, ob ich auf Youtube die Dokumentation „Earthlings“ gesehen habe. Ich verneine, das kenne ich nicht. Für mich ist „Earthlings“ ein David-Bowie-Album. Toto sagt, in „Earthlings“ gehe es um Tierversuche und Ähnliches. „Das kann man nur machen, wenn man so denkt“, sagt er und nickt in Richtung Rundenzuwachs. Toto überlegt: „Vielleicht sind die Tiere auch auf einer höheren Ebene, eins mit allem, und wir als Denkende glauben nur, dass wir darüber stehen.“ Ich versuche, den Gedanken zu verstehen: Die Tiere sind bereit, zu akzeptieren, während wir noch denken? „Genau“, sagt Toto. Unser Zuwachs muss weiter, er hat Serge nur eine Zeitung mit einem ganz bestimmten Artikel bringen wollen.
Dafür erweitert Heiko die Runde. „Worüber redet ihr denn?“, fragt er. „Den Sinn des Lebens“, sagt Toto mit ordentlich Nachdruck. Heiko zuckt mit den Schultern und hat sofort eine Antwort parat: „Einfach leben, nicht drüber nachdenken.“ So geht’s natürlich auch. Toto überlegt kurz und bekräftigt: „Mir geht es nicht um meinen Sinn des Lebens, sondern um den Sinn der Menschheit.“ Serge ist inzwischen bei den Neurobiologen angekommen, die herausgefunden haben, dass Quallen punktgroße Sinnesorgane entwickelt haben, mit denen sie Helligkeit wahrnehmen, und dass sich daraus zwangsläufig die Sehrinde entwickelt hat, die wiederum logisch und automatisch eine Art Gehirn sei. Zur Datenverarbeitung, sage ich. Serge nickt und spinnt den Faden weiter zum Gehirn des Menschen und darüber hinaus. „Sobald das Denken begreift, dass es Denken kann, explodiert es.“ Er fuchtelt mit den Händen. Ich werfe ein, dass das aber nicht die grundsätzliche Frage beantwortet, warum wir existieren. Heiko, der sich mit seinem dazugekommenen Sohn Ben an das Schaufenster von Serges Laden lehnt, fragt gedehnt: „Ist das denn jetzt wichtig?“ Ben tippt vertieft auf einem kleinen elektronischen Gerät herum, vermutlich ein Mobiltelefon. Die Runde ist zu angespannt beim Thema, um einfach loslachen zu können. „Splendid isolation“ nennt Serge Heikos Haltung: „Was geht mich das an?“ Heiko weiß, was: „Ich kann sagen, ich war dabei.“
Eigentlich will Philipp Serge nur nach einem Buch fragen. Serge geht in seinen Laden und guckt, ob er es da hat, und Philipp setzt sich neugierig in die Runde. Heiko sagt: „Das Wichtigste im Leben ist Humor.“ Philipp stimmt zu: „Lacht kaputt, was euch kaputt macht.“ Serge hat das Buch zwar nicht, kehrt aber zum Thema zurück: „Sobald wir das Bewusstsein entwickelt haben, geben wir uns auf.“ Das Internet sei der Beleg dafür: Der Mensch werde immateriell. „Wir zerstören uns selbst, die Erde zerstört sich selbst.“ Toto wirft ein, dass sich die Erde nicht selbst zerstören kann. Serge gibt statt: „Der Mensch zerstört die Erde.“ Philipp erwähnt die Chaosphysik, nach der sich die Atome ohnehin lediglich in einer kurzfristigen zufälligen Ordnung befänden. „Ihr diskutiert und diskutiert“, ruft Heiko, „und Ben sagt es: ‚Ich bin ein Genie’.“ Ben grinst, überall fliegen Hände in die Luft, die Spannung ist verflogen, Serge sagt: „Das ultimative Wort – Kinder, Kirche, Amen.“
Matze Bosenick
www.krautnick.de
Leute, passt auf, was ihr sagt, wenn der Matze in der Nähe ist.
Der merkt sich ja wirklich ALLES!
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