#49 Hornisschen in der Geisterbucht

Freitag, 18. November

Wenn man mal echt und absolut keine Zeit hat, sollte man Pott nicht begegnen. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste und voneinander los schon mal gar nicht – auf diese Wiese habe ich schon wundervolle Stunden im Kingking Shop verbracht. Für Pott muss es noch schlimmer sein, wenn er selbst – wie heute – keine Zeit hat. Eigentlich war er nämlich nur wegen der Vorverkaufs-Abrechnung für das Konzert vom Fuck Hornisschen Orchestra und Müller & die Platemeiercombo heute Abend im LOT-Theater im Riptide. „Lass uns draußen noch eine rauchen, dann muss ich los“, sagt Pott. Wir setzen uns trotz der novembergrauen Kälte ins Achteck auf die gemütlichwarmen Sitzkissen, Pott zündet sich seine Zigarette an. Und er berichtet, zum Beispiel davon, wie schade er es findet, dass das neue Album von Müller & die Platemeiercombo zu dem Konzert heute Abend noch nicht fertig ist. „Aber gepresst wird es schon“, sagt Pott. Überraschung für mich: Das fünfte Album kommt also nicht als CDR, Premiere bei der Band. Pott kennt das Album schon, er hat nämlich das Cover gestaltet, und das macht er nie, ohne sich ausgiebig mit der Musik zu befassen. „Das wird der Dezember der Pott-Cover“, sagt er, denn das für die nächste Weihnachts-CD von The Twang hat er auch gestaltet. Und die Musik dazu also im Sommer gehört. Auf dem Weg vom Café in die Rip-Longe kommt Chris mit einem vollen Tablett an unserem Tisch vorbei. „Ihr zwei Tapferen“, bemerkt er grinsend. Ich überlege laut, mir bei ihm einen Eiskaffee zu bestellen. „Den kann ich dir machen“, sagt Chris, als er die Tür zur Lounge öffnet. Das glaube ich ihm gerne. Bevor er die Tür schließt, sagt er noch: „Oder ein Glas mit Eiswürfeln – Sie baden gerade ihre Hände drin.“ Eiswürfel on the rocks wären gut. Pott und ich verlieren uns in Themen über Technik und deren Verweigerer, gute und schlechte Satire und fantastische Graphic Novels, obwohl er dafür keine Zeit hat. Seine Zigarette hat er längst im Ascher ausgedrückt. „Wir trinken nach dem Konzert heute Abend ein Bier“, sagt er eilig zum Abschied und löst sich dann doch.

Im Café ist es deutlich wärmer und noch gemütlicher als davor. Auch der Empfang ist warm, aber das ist er jahreszeitenunabhängig ohnehin immer. Jasmin tritt ihren Dienst an, André sitzt in der Büroecke und Chris bedient die Kunden. „Wichtig“, sagt Chris und deutet auf einen grünen Flyer auf der Theke: Der Plattenladenaward von Cargo Records hat begonnen, seit zwei Wochen kann man online mitmachen. „Wie viele Plattenläden gibt es bundesweit, 300? Es gab einen Vorentscheid – wir haben Glück gehabt und sind unter den ersten 50.“ Über die kann man jetzt abstimmen, welcher der beste Plattenladen in ganz Deutschland ist. Von den Flyern liegen noch ein paar mehr neben der Vitrine mit den Muffins. „Wir bitten alle Leute, für uns zu stimmen, sofern sie uns unterstützen wollen“, sagt Chris. Von der Riptide-Webseite aus gibt es einen direkten Link zur Teilnahme. Chris schwärmt von den Gewinnen, die Cargo den Teilnehmern in Aussicht stellt: „Einen Designplattenspieler im Wert von 3000 Euro oder, fast noch interessanter, der Besuch in einem Presswerk, was ich auch noch nicht hatte.“ Auch der Gewinner-Laden profitiert, und, so Chris, mit ihm auch dessen Kunden, denn bei der nächsten Plattenladenwoche gibt es für den Besten dann besondere Konzerte und andere Specials.

Ebenfalls online ist der neue Webshop des Café Riptide. Die nächste Single der eigentlich lange aufgelösten Guided By Voices sei dort schon zu finden, sagt Chris, „unter Neuheiten Dezember, als Pre-Sale“. Da findet man außerdem die nächsten Alben von Fennesz oder Bitch Magnet, „eine legendäre 90er-Band, die den Begriff Post Rock erfunden hat – wird neu aufgelegt.“ Im Webshop wisse man als Kunde immer schon, was alles neu kommt, zum Beispiel die Alben von den Lemonheads, den Mighty Mighty Bosstones – oder eben die Single „Doughnut For A Snowman“ von Guided By Voices, dem Vorgeschmack zum Album „Let’s Go Eat The Factory“ mit vier exklusiven Bonustracks. „Es gibt ein neues Album in Originalbesetzung, zum ersten Mal seit 15 Jahren“, sagt Chris. Dabei hat sich Bandchef Robert Pollard doch zur Ruhe setzen wollen.

„Ich hatte einen Robinson-Burger, eine heiße Zitrone, einen Schoko-Muffin und einen Kaffee mit Sojamilch“, zählt Juliane am Tresen mit dem Portemonnaie in der Hand auf. „Und es war alles superlecker, echt“, setzt sie hinzu. „Gut, dass es euch gibt – ich bin hier am allerliebsten.“ Juliane ist vor einem Jahr von Jena nach Braunschweig gezogen. Jena habe 100.000 Einwohner, von denen 23.000 Studenten seien – „das macht viel aus, Jena hat ein anderes Flair als Braunschweig“. Da freue sie sich umso mehr, dass sie das Riptide entdeckt hat: „Das ist so ein kleiner Schatz, ein bisschen versteckt unter den anderen Kneipen.“ Ihr gefalle, dass das Café gemütlich ist und dass es hier vegane Burger gibt. „Und letzte Woche die Soul-und-Funk-Party, die war auch sehr angenehm.“ Chris strahlt.

Und hat schon den nächsten Kunden: Benjamin hat auf einem Zettel notiert, in welche Musik er gerne reinhören würde. Er liest ab: „Dillon, Radiohead, Gui Boratto…“ Chris nimmt den Zettel entgegen: „Die neue Dillon haben wir da, die Radiohead auch, aber erstaunlicherweise nur auf CD, nicht auf Vinyl.“ Benjamin nickt: „Das ist wirklich erstaunlich.“ Chris fährt fort: „Die neue Gui Boratto ist da, als Twelve Inch.“ Benjamin hakt ein: „Wo stehen die?“ Chris macht einen Schlenker um den Tresen herum: „Zeig ich dir.“ Gemeinsam blättern die durch die Neuheiten-Kiste, Chris kommentiert die Wünsche auf Benjamins Liste. Einzig die Dillon-LP bleibt unauffindbar: „Ich dachte, die wäre da, da muss ich im Rechner gucken“, sagt Chris. „Das macht nix, ich hab Zeit“, sagt Benjamin und setzt sich an den Tisch neben der Theke. „Ich hab noch eine Suppe zu essen.“ Die Suche übernimmt André. Er klickert in der schmalen Büroecke auf der Tastatur herum, umkurvt die Theke, greift in ein Plattenfach und legt die gewünschte LP auf die Theke. „Wo hast du die gefunden?“, fragt Chris staunend. „Bpitch Control“, nennt André das entsprechende Fach und kehrt an seinen Arbeitsplatz zurück. Chris reicht die Nachricht gleich an Benjamin weiter, der seine Suppe isst: „Die Dillon haben wir schon mal gefunden.“ Ich wundere mich: Wie kommt es zu dem Rollentausch von Chris und André? Sonst ist es doch Chris, der im Büro sitzt, und André bedient die Kunden. Chris erklärt, dass diese Verteilung tatsächlich seit Jahren so besteht. Eben deshalb der Tausch: „André soll mal in die Vorgänge reingucken, bis es klappt – und ich will auch mal raus.“

Nach einigem Stöbern legt Moritz die neue CD von Bon Iver auf die Theke. Das Cover kommt mir vertraut vor: Es klebt als Poster an der Kiste mit den Second-Hand-LPs neben dem Eingang. „Nicht alleine hören“, warnt Chris, während er die CD aus der Kiste in der Schublade holt und ins leere Digipak steckt. „Die ist auch nicht für mich“, entwarnt Moritz, „die ist für meine Freundin.“ Chris klappt das Cover zu und reicht ihm die CD: „Die ist schaurig, traurig, schön – passend zur Jahreszeit eigentlich.“ Moritz ist neu in Braunschweig, er kommt aus Osnabrück und studiert hier. Das Riptide hat er zufällig entdeckt: „Ich habe einen Comicladen gesucht.“ Chris nickt: „Comiculture nebenan ist wohl der letzte Comicladen in Braunschweig.“ Den Trivial Book Shop, einst am Hagenmarkt gelegen und jetzt seit Jahren in der Holwedestraße geschlossen, gibt es ja auch nicht mehr. Moritz fährt fort: „Da bin ich hier vorbeigegangen, es sah cool aus – es bietet auf der einen Seite alternative Musik, die ich höre, und vegane Speisen, die ich esse.“

Auf der Theke liegen unter anderem auch Flyer für die nächste Ausgabe der gemeinsamen Filmreihe Sound On Screen von Universum-Kino und Riptide. In „All You Need Is Klaus“ geht es am 8. Dezember um Klaus Voormann, der die grafische Seite der Beatles mit seinen Arbeiten einzigartig machte. Ein Glück, dass es Sound On Screen gibt, wenn schon das Filmfest nicht ewig dauern konnte. Das war aber auch wieder ein Spaß vergangene Woche. Schon am Eröffnungsabend ist man aus dem Händeschütteln und Leutedrücken im Foyer von C1 oder Universum nicht herausgekommen. Wie üblich nahmen sich viele Leute Urlaub, kauften sich eine Dauerkarte, markierten das Programmheft kunterbunt und schraubten auf dem Sitzplatz nebenan ihre Thermoskanne auf. In den Pausen packten sie Butterstullen oder Obst aus, trafen Freunde und Bekannte und tauschten sich über die gesehenen Filme aus. Ein wahres Fest eben. Da kam es auch vor, dass ich Leute traf, die in gar keinem Film waren, sondern nur zum Leutetreffen ins Kino gingen. „Ich habe viel mitgeholfen, auf einer internen Party für die französischen Stargäste aufgelegt und nur einen Film gesehen“, erzählt Chris. „Der war zum Glück gut.“ Ein Film von 1997, „Love And Death On Long Island“, mit John Hurt, laut Chris der Charakterschauspieler schlechthin, und als Gegenspieler jemanden, der, so Chris, kaum entgegengesetzter als Hurt sein könnte: „Jason Priestley.“ Chris guckt erwartungsvoll, doch mir sagt der Name zu seiner Verwunderung nichts. Und zur Verwunderung von Jasmin, die aus der Küche um die Ecke blickt. „Beverly Hills 90210“, erklärt Chris. Hab ich nie gesehen. „Schon vergessen?“, fragt Jasmin. Nein, die Existenz der Serie ist mir schon bekannt, aber gesehen habe ich sie nie und mir auch keine Schauspielernamen gemerkt. Manchmal muss man etwas nicht sehen, um zu wissen, dass es einem nicht gefällt, wie etwa Baywatch. „War doch geil“, ruft Chris breit grinsend. Jasmin dreht sich zurück in die Küche und winkt ebenfalls grinsend ab: „Das hab ich mir gedacht.“ Von dem Film haben in den Pausen auch andere Kinogänger geschwärmt. Ich hab es immerhin auf drei Filme gebracht: „Morgen“, bei dem mittendrin zwei Filmrollen vertauscht waren, was offenbar niemandem auffiel, vermutlich, weil das Filmkunst-Publikum an seltsame Handlungsstrukturen gewöhnt ist, den sehr guten und todtraurigen „Halt auf freier Strecke“ vom endlich wieder guckbaren Andreas Dresen und „Another Earth“ mit den von Clemens umschwärmten Fall On Your Sword als Gästen. Ihren Youtube-Hit „Shatner Of The Mount“ hatten sie entgegen ihrer Aussage leider nicht als CD dabei – er ist auch grundsätzlich gar nicht erhältlich, aus Rechtsgründen gibt es lediglich ein Remake als Download. Schade. Zu mehr Filmen habe ich es nicht gebracht, weil immerzu andere Sachen anstanden, Freunde besuchen etwa, eine supertolle Freizeitverbringungsidee übrigens, oder als Krönung davon auch Geburtstagfeiern, im Idealfalle im Riptide. Den Auftakt dieser kleinen Feier habe ich leider verpasst: Als Maren an ihrem Geburtstag ins Riptide kam, überraschten sie Chris und André – Facebook sei Dank – mit einem kleinen Muffin und einer Kerze. Maren war gerührt und meinte, dass es schon seinen Grund habe, warum das Riptide für sie ein Zuhause sei. Ich konnte erst später zu der Feierrunde stoßen. Auf dem Weg ins Riptide kam ich bei Raute Records vorbei und wollte nicht einfach grußlos weiterziehen. Also reichte ich Uwe und Katrin die Hand und begründete meine Eile mit dem bereits laufenden Geburtstagsfest im Riptide. Eile gibt es jedoch nicht mit Uwe: „Moooment.“ Katrin half ihm, seinen Beitrag zum Thema aus der Singleskiste zu fischen: „Es lebe das Geburtstagskind“ von Manuela. Die beiden haben es eben immer passend. Unseren vermeintlichen neuen Running Gag, die Compilation „What Is Beat?“ von The Beat, habe ich überdies bereits anderswo gefunden, da muss also wieder etwas Anderes her. Vielleicht angelehnt an unseren ersten Gag die „Animals“ von Pink Floyd, die hat mir schon von Les Claypool sehr gut gefallen. Und: Auch in die Filmfest-Zeit fiel die Aktion „Occupy Bankplatz“, von der mir ein Filmfest-Gast erzählte und die auch ein achtlos weggeworfener zerknitterter Zettel im Riptide ankündigte – und zu der wir mitten in der Nacht nach einem privaten Filmfest mit Freunden – „Die Braut des Prinzen“, zu Unrecht nahezu völlig unbekannt – zu spät kamen. Kreidezeichen auf dem Bankplatz mit Sprüchen wie „Widerstand ist sexy“ oder dem Wort „REVOLUTION“ mit farblich abgesetztem „EVOL“, bei dem das E und das L zudem spiegelverkehrt gemalt waren, zeugten davon, dass da immerhin wirklich etwas passiert war, jedoch offenbar ohne New Yorker Ausmaße.

Um das Sofa herum gruppiert sich mittlerweile eine anwachsende Menschenmasse: der Drum-and-Bass-Stammtisch, wie an jedem Freitag, initiiert von Ly.da Buddah, wie Chris berichtet. Er überschlägt sich vor lauter Schwärmen: Ly.da Buddah habe in der Europa-Rangliste der D’n’B-DJs einen Platz in den Top Ten inne. „Das ist der einzige Superstar, den Braunschweig zu bieten hat“, strahlt Chris. Ly.da Buddah hatte früher einen kleinen D’n’B-Plattenladen, so Chris, „oben bei Boardjunkies“, was er aus Zeitgründen – Tourneen! – aufgeben musste. Er betreue jetzt die D’n’B-Abteilung im Riptide. Chris: „Es gibt eine Gruppe bei Facebook, die zum Stammtisch immer ein Motto ausruft – dieses Mal: Jazz.“ Interessant wird es noch, wenn sich der Drum-and-Bass-Stammtisch und der Bass-Stammtisch rund ums Sofa treffen.

Chris klebt Preis- und „Nicht öffnen“-Etiketten auf CDs und LPs, entnimmt CDs ihren Hüllen und verstaut sie in der Kiste in der Schublade, steckt Digipaks in Plastikhüllen und öffnet Kartons. Unter den neu angekommenen LPs ist auch „Inni“, das neue Live-Album von Sigur Rós, das eigentlich schon seit einiger Zeit im Riptide zu haben ist. „Nachschub“, sagt Chris. Der Film, das Haupt-Ding an der Veröffentlichung, ist ganz gut, schwarzweiß, künstlerisch, wegen des Flackerns anstrengend zu sehen, aber damit immerhin anders als „Heima“, die andere DVD der Isländer. Auch musikalisch: Da das Streichquartett Amiina auf der Tour 2008 nicht dabei war, fehlt dem Sound der Kitt, der ihn zusammenhält. „Inni“ ist mehr Drone als von Sigur Rós gewohnt. Als ich kürzlich in Kopenhagen war, haben sie „Inni“ im Rahmen eines Dokumentarfilmfestivals im Kino gezeigt. Ich hätte ihn mir gerne angeguckt, wenn ich nicht parallel bei dem bombastisch guten Konzert von Under Byen gewesen wäre, das ebenfalls im Rahmen des „CPH:DOX“-Festivals stattfand, begleitet von Videofilmen der Regisseurin Sidse Carstens. Da habe ich doch lieber eine Liveband als einen Film von einer Liveband. „Sowas gibt’s nur in Skandinavien“, sagt Chris seufzend über die „Inni“-Kinovorführung. Ich dementiere, indem ich auf den Sound-On-Screen-Flyer tippe. Doch Chris insistiert: „Wir haben ‚Inni’ für Sound On Screen nicht bekommen.“ Als Alternative dazu gibt es im Januar „Backyard“: „Damit haben wir Island abgehandelt“, sagt Chris. „‚Backyard’ handelt von einem Festival, bei dem ein Typ auf seinen Hinterhof alle isländischen Bands einlädt – das ist berühmt, weil da dann Björk mit irgendwem jammt und so.“ Für den Anschluss steht auf dem Flyer, den Chris eigens aus der noch verschlossenen Flyerkiste fingert, ein „Secret Gig“. Doch da bleibt er eisern: „Der bleibt bis dahin geheim.“ Vorfreude ist ja auch fein. Besonders zu dieser Zeit: Nächste Woche beginnt der Weihnachtsmarkt. Dann wird’s ernst.

Die Drei Fragezeichen werden mich retten: Chris überreicht mit die Dreifach-Picture-LP der neuen Folge 150, „Geisterinsel“. Ich freue mich schon auf Oliver Kalkofe als Inspektor.
„Die Nachfrage nach der Vinylversion war so groß, dass das Label nicht alle Bestellungen erfüllen konnte“, sagt Chris. Danke, Riptide: Meine hast du erfüllt.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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