#55 Flehentliche Bitte Plus

Montag, 21. Mai

Seit zwei Monaten warten wir alle darauf, dass es wieder so schön warm und sonnig wird wie jetzt. Im März hatte sich so etwas wie ein Frühling angekündigt, aber da war nicht abzusehen, wie sehr vorübergehend das werden würde. Inzwischen können wir davon ausgehen, dass wir unsere Schals und Mützen, unsere Eiskratzer und den Glühwein für ein halbes Jahr wegschließen dürfen. Die höhere Temperatur äußert sich auch darin, dass die Riptide-Gäste samt und sonders außerhalb des Cafés sitzen, im Achteck nämlich.

Nicht nur die, auch Benno sitzt dort und raucht, neben dem stimmungsvoll mit einer weihnachtlichen Lichterkette geschmückten Baum. Benno arbeitet um diese Mittagszeit noch allein und sieht etwas gequält aus. Sein Peiniger ist unsichtbar: „Pollen“, verrät er. „Das soll das schlimmste Jahr seit 15 Jahren sein.“ Seltsam, an sich habe ich Heuschnupfen von Januar bis Juni und merke zurzeit auch gelegentlich etwas davon, aber so schlimm ist es bei mir gar nicht. „Bei mir auch nicht“, sagt Benno schulterzuckend. Trotz Allergien finde ich, dass der Frühling die beste Jahreszeit ist. Benno überraschenderweise nicht: „Ich bin eher so der Herbsttyp, ich trage gerne Pullis.“ Da bin ich eindeutig anders: Im Frühling geht alles Graue weg und das Grün explodiert, und man kann endlich wieder draußen sein. Gerade jetzt, da so viel ansteht, der Mittelaltermarkt an Pfingsten, „Braunschweig International“ eine Woche später und das Festival Theaterformen mit Auftritten solcher großartigen Bands und Musiker wie Bohren & der Club Of Gore und Nils Koppruch, man soll’s kaum glauben, so etwas in Braunschweig. Außerdem macht die Okercabana bei Regen und Minusgraden einfach etwas weniger Spaß.

Nach all der Kälte freue ich mich, endlich wieder draußen sein zu können. Obwohl es drinnen im Café auch eine Menge zu entdecken gibt. Zum Beispiel zwischen den Tonträgern und Quartetten auf dem Tresen eine kleine Schachtel von Der König tanzt, dem neuen Projekt von König Boris, früher bei Fettes Brot. Als ich kürzlich mit Claudy Soundschwester zum Feierabendbier ins Riptide ging, entdeckte ich das kleine Schächtelchen. Roberto erklärte, was es damit auf sich hat: Da ist ein Button drin mit dem gesamten Album von Der König tanzt darauf. Man kann einen Kopfhörer anschließen und das Album immer mit sich herumtragen, die Musik allerdings nicht auf anderen Medien speichern. Originell ist das allemal. Im Gegenzug konnte ich Roberto mit der Information überraschen, ihn in Sülfeld auf der Bühne gesehen zu haben. Denn wenn Roberto nicht fröhlich im Riptide die Gäste umsorgt, rockt er auf Bühnen, zumindest ab jetzt wieder öfter: Ich war nicht schlecht überrascht, als ich vor einiger Zeit einen Newsletter erhielt mit der Nachricht, die alte und mir bis dato unbekannte Wolfsburger Band On The Hunt habe sich nach sieben Jahren Pause wiedervereint und gebe ihr Reunionkonzert im Irish Pub Old No.7 in Sülfeld – und als Sänger des Quartetts war Roberto aufgeführt. Für einen Augenblick – länger war es mir aus logistischen Gründen nicht möglich – war ich sogar da und hörte mir den sympathisch dreckigen Rock der Band an. Ein guter Ort für ein Comeback, nicht nur gemessen an Wolfsburger Verhältnissen: Die gemütlichsten Kneipen der Stadt findet man außerhalb des Zentrums, das Old No.7 gehört dazu. Nebenan in Mörse erhöhrt sich die Dichte der weggehbaren Lokale: Das Café Schrill, das Café Bo’Ca und der Irish Pub Chris Inn liegen in direkter Nachbarschaft zueinander. Wer weiß, vielleicht spielen „On The Hunt“ dort demnächst mal.

Eine erstaunliche Kombination stellt Dominik dar, als er bei Benno zwei Limonaden bestellt: Er sieht sehr jung aus und trägt das „Unknown Pleasures“-Shirt von Joy Division, ohne den üblichen Schriftzug sogar. „Ich bin 17, fast 18“, verrät er. Die Band habe er für sich entdeckt und dann ein bisschen im Internet gesucht: „Das T-Shirt habe ich bei Ebay gefunden.“ Benno reicht ihm das Bestellte über den Tresen und Dominik bringt es nach draußen zu seinem Begleiter.

Bei Joy Division fällt mir ein, dass Chris mir kürzlich, als ich mit Schepper unseren personell reduzierten Stammtisch vom Hermans ins Riptide verlegte, erzählte, dass meine vor einiger Zeit schon bestellte und eigentlich längst gestrichene „Entreat Plus“-Doppel-LP von The Cure womöglich doch noch auf dem Weg ist, und frage Benno, ob sie inzwischen da ist. Er beugt sich über die Bestellungenkiste und fragt: „Hast du eine Mail bekommen?“ Stimmt, habe ich nicht, das ist ein recht sicheres Indiz dafür, dass sie noch nicht da ist. „Hast du ein eigenes Fach?“, fragt Benno. Nicht, dass ich wüsste, und es gibt sicherlich Kunden, die deutlich mehr bestellen als ich. „Ich habe auch kein eigenes Fach“, sagt Benno und hört auf, nach der Doppel-LP zu suchen. Selbst er nicht! „Selbst ich nicht“, nickt Benno, „obwohl Lukas und ich hier die Nummer-Eins-Kunden sind.“ Aha, das heißt dann also, dass sie gar nichts verdienen? „Genau“, grinst Benno, „wir werden in Platten bezahlt.“ Er stellt einige Getränke auf sein Tablett und bringt sie ins Achteck. Schepper erzählte mir bei unserem Treffen von seinem nächsten Auftritt, den er hat, am Freitag nämlich in der Galerie auf Zeit im Papenstieg, zur Finissage der Ausstellung „Small Cosmology“ von Julia Neuenhausen. Scheppers elektrischer Solo-Bass und Kunst, die Kombination klappt immer. Johanna, die zufällig am Nachbartisch saß, setzte sich zu uns, nachdem ihr Begleiter ging. Schepper und Johanna kennen sich vom Eiko-Verein, Johanna und ich uns vom Silver Club. Dessen letzte Veranstaltung in der HBK-Mensa lag gerade hinter uns. Toll unter vielem Tollen war, dass meine alten Haus-Mitbewohner Splandit dort spielten, nach einer kleinen Pause sind die drei Akustik-Skapunks nämlich wieder in Braunschweig aktiv. Zu ihrem Auftritt beim Silver Club kamen sie um ein leichtes Bisschen verspätet – weil sie noch im Riptide saßen, wie sie mir erzählten, und sich darüber Gedanken machten, ob sie ihr druckfrisches Album „Trials And Tribulations“ nicht auch auf Vinyl herausbringen sollten. Es gibt kaum akzeptablere Gründe für Verzögerungen als eine schöne Zeit im Riptide.

À propos Finissage, nur noch Nägel zeugen von der Nagel-Ausstellung, die bis kürzlich noch das Riptide schmückte. Jetzt sind die Wände über den Sitzmöbeln weiß. André ächzt durch die offene Cafétür und bringt mit einer Sackkarre Einkäufe herein. Mit ihm kommt Stefan, Chef von Radio Ferner. Er setzt nahezu nahtlos an dem Gespräch an, das wir vergangene Woche in seinem Laden führten. Das war an einem der zaghaft warmen Abende, den meine Begleiterin und ich dazu nutzten, bei Guidos Pizzeria zu Abend zu essen. Dort gibt es ohnehin oft tolle Musik zu entdecken, etwa „Il mondo“ von Jimmy Fontana oder „Tu vùo fa‘ l’americano“ von Renato Carosone. An dem Abend drang aber entspannte Livemusik aus dem Nachbareingang: Bei Radio Ferner lief die dritte Ausgabe der neuen Reihe „Talentschuppen“, initiiert von der „Neuen Braunschweiger“. Nach dem Essen inspizierten wir die Geschäftsräume, kamen aber zu spät, denn die Bands „Delicate Plant“ und „Herzblut“ hatten schon aufgehört zu spielen. Stefan gab uns dafür ausführlich Auskunft über das, was wir in seinem Laden verpasst hatten. Schnell erreichten wie die Themen Audiophilität und Downloads mit hoher Qualität, denn Stefan meinte, dass er eine Flac-Datei jederzeit einer CD vorziehe, und ich, dass ich etwas Haptischem mehr abgewinnen kann als etwas Virtuellem. Jetzt hat Stefan eigentlich gerade keine Zeit, er will nur schnell ein Geschenk für jemanden kaufen, aber wir tauchen sofort in abertausende Themen ab. Benno versorgt uns mit Hausmarke und Bionade Holunder.

Zwar nähern wir uns unseren Themen und Geschmäckern von verschiedenen Seiten, stimmen aber mit unserer Haltung sehr oft überein. „Mein Geschmack hat sich geändert“, sagt Stefan etwa. Er mag heute ruhigere Sachen und Jazz. Er empfiehlt mir die Post-Rocker This Will Destroy You und das latent elektronische Portico Quartet, die ich beide nicht kenne. Einer seiner Favoriten ist Elliott Smith, den er erst nach dessen Tod kennenlernte. Der Jazz kam auch bei mir erst mit der Zeit dazu. Stefan passiere es häufig, dass andere die Musik, die er mag, für depressiv halten und glauben, man bekäme Suizidabsichten, wenn man sie hört, und er widerspreche dem. So habe er einmal sein Auto aus der Werkstatt zurückbekommen mit dem Hinweis, die laufende Musik – es war Elliott Smith – sei unerträglich deprimierend gewesen. Stattdessen habe ein Formatradiosender gedudelt. So etwas erlebte ich vor zehn Jahren im Büro auch einmal, als ich mit zwei Kolleginnen arbeitete, die dauernd N-Joy laufen hatten. Abgesehen davon, dass sie es immer erst Stunden später registrierten, wenn ich auf die entspannendere Variante NDR Info umgestellt hatte, legte ich einmal die damals aktuelle CD „White Lies“ von Deine Lakaien in den Player. Immerhin hatte das Darkwave-Duo seine musikalisch düstersten Zeiten längst hinter sich gelassen und war auch im Radio gespielt worden. Umso mehr überraschte es mich, als die beiden Kolleginnen mit Vehemenz und einer erschreckenden Heftigkeit auf das Album reagierten: „Ich bring mich gleich um“ war noch der harmloseste Kommentar. Stefan stellt fest, dass so eine Haltung zwar eine Folge des gleichförmigen Formatradios sei, dass man aber dem Hörer dafür keinen Vorwurf machen könne.

Diese unterschiedlichen Hörgewohnheiten äußerten sich in einem weiteren Phänomen, so Stefan: Er habe erlebt, dass Leute von einer seiner Vorlieben wussten und ihm eine weitere Band empfahlen, mit den Hinweis, die sei „so ähnlich“, aber wenn Stefan sie hörte, stellte er fest, dass es zwar stimme, die Band sei „so ähnlich“, aber es fehle etwas, die Ecken und Kanten, die schräge Stimme, die harte Gitarre, was auch immer, um ihn zu berühren. Das kenne ich „so ähnlich“: Wenn ich etwas höre, das so klingt wie etwas, das ich schon habe, dann brauche ich es nicht, sondern suche nach etwas, das ich noch nicht kenne. Das trifft nicht auf alles zu; eine Band wie etwa Alien Sex Fiend ist auch nach 30 Jahren noch so einzigartig, dass es außer ansatzweise Sigue Sigue Sputnik in den 80ern bis heute niemand gewagt hat, „so ähnlich“ wie sie sein zu wollen, und wenn doch, dann würde ich sie partout nicht hören wollen. Bei reinen Genrebands hingegen ist es anders: Den Übergang zum Post Punk haben in den 80ern viele Gruppen mitgemacht, die alle nur marginal voneinander abwichen, aber für das Genre Essentielles leisteten, und da finde ich es angebracht, davon eine ganze Reihe an Best-Ofs und ganzen Sammlungen anzuhäufen.

Während Stefan also eigentlich gar keine Zeit hat, sich zu unterhalten, entdeckt er nebenbei vier LPs, die ihn interessieren, und bezahlt sie schließlich bei Benno. Nach Stefan ist Peter an der Reihe, der sich „Fear Fun“ von Father John Misty auf CD geben lässt. Das bunte Cover habe ich gerade erst im Intro gesehen, in der Ausgabe, die ich kürzlich unter dem inzwischen dritten Gratis-Visions im Riptide fand. Peter moderiert die Sendung „Moonshiner“ auf Radio Okerwelle und hat das Album digital bemustert bekommen. „Über die Fleet Foxes wäre ich allein aber auch drauf gekommen“, sagt er. Das mit der digitalen Bemusterung sei inzwischen immer öfter die Regel, Vollalben bekomme er kaum noch zugeschickt. Was ihm gefällt, kauft er – so machen es Sammler und Liebhaber. Seine Sendung läuft immer mittwochs um 23 Uhr. „Moonshiner“ heißt sie nach dem Bob-Dylan-Song – „da wusste ich aber noch nicht, was das heißt“, sagt Peter. „Moonshiner“ sind illegale Schnapsbrenner. Wird er den Namen ändern? Peter schüttelt den Kopf: „Weiß ja keiner, was es bedeutet.“ Bei Radio Okerwelle ist Peter schon lange. Das alte Studio in der Leopoldstraße habe ich damals nur von außen gesehen. „Das war gut, mit dem großen Foyer“, erinnert sich Peter. „Damals dachten wir: Wir machen Bürgerradio, das braucht viel Platz, wir hatten viele Schnittplätze – von denen wir viele gar nicht genutzt haben.“ Den Wechsel in den Rebenring habe ich gar nicht verfolgt, kenne aber die jetzigen Räume in der Brunsviga. „Das sieht endgültig aus“, ist Peter zuversichtlich. Er packt seine CD ein, nimmt eine Cola auf die Faust und geht in die Sonne.

Bevor ich ihm nacheifere, stelle ich mich vor die innere Diskussion, ob ich die letzte Vinyl-Version des neuen Die-Ärzte-Albums „Auch“ mitnehmen soll oder nicht. Mir hat schon „Jazz ist anders“ nicht gefallen, weil es thematisch nicht mehr altersgemäß und musikalisch an aktuellen Mainstreamgeschmack angepasst war. Dafür war die Verpackung mit der Pizzaschachtel bombastisch, die LP-A-Seite mit einer Pizza und die B-Seite mit dem Pizzaboden bedruckt, die Bonus-7“ war eine Tomatenscheibe und der Downloadcode eine Peperoni. „Auch“ ist ein Gesellschaftsspiel, bei dem die CD wie bei „Spiel des Lebens“ den Würfel stellt. Die Single „M-F“ kenne ich bereits, die ist mir allerdings zu Mario-Barth-mäßig, um lustig zu sein, und ich fürchte, dass sich Die Ärzte auf Albumlänge nicht signifikant bessern. Nun also: Form über Inhalt? „So günstig kriegst du nie wieder ein Gesellschaftsspiel“, sagt Benno und überzeugt mich damit. Während er spricht, malt er beiläufig mit einem roten Filzstift auf einem bedruckten Papier eine Linie um seine Hand, ergänzt die Finger um Nägel und setzt auf die Handfläche einige Punkte. Das Riptide, ein Haus voller Künstler. Es ist schön draußen. Zu schön, um zu Hause Die Ärzte zu hören. Irgendwo finde ich sicherlich ein grünes Plätzchen, die Sonne zu genießen. Die Ärzte höre ich, wenn ich krank bin.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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