#56 Der fantastische Mr. Fogg

Samstag, 23. Juni 2012

„Entreat Plus“ ist da! Mit dieser Überraschung überraschten mich Chris und André kürzlich per Email. Dabei hatten wir diese Doppel-LP schon vor Monaten abgeschrieben. Anderthalb Jahre hat die Bestellung gedauert, ungefähr, mindestens, womöglich, wenn nicht sogar. Bei allen Parametern, die da zusammenkommen, ist es mehr als nur erstaunlich, dass es diese LP überhaupt ins Riptide geschafft hat. Als „Entreat“ 1990 veröffentlicht wurde, sollte es nur für eine begrenzte Zeit überhaupt erhältlich sein, weil es eine Benefiz-LP war. Oder so. Zumindest sagte man sich das in The-Cure-Fankreisen so. Das Album enthielt einen Live-Mitschnitt des ein Jahr zuvor herausgekommenen Hitalbums „Disintegration“, jedoch aus Platzgründen um vier Stücke beschnitten. Auf „Entreat Plus“ nun sind alle zwölf Songs von „Disintegration“ in der Liveversion von damals enthalten, erschien 2010, aber lediglich als Bonus-CD zur Deluxe-Version von „Disintegration“. In einer minimalst kleinen Auflage wurde es in den USA auch als Doppel-LP angeboten. Chris und André konnten die Doppel-LP bestellen, aber nur mit einer extrem geringen Lieferwahrscheinlichkeit. Und der kurz darauf erfolgten Meldung, die LP sei gestrichen. Was freute ich mich daher, dass mir Chris kürzlich im Vorbeiflug zurief, er habe eine Email erhalten, dass die LP unterwegs nach Braunschweig sei. Und jetzt drückt André sie mir in die Hand. Sie ist wunderschön, so bunt, wie The Cure eben sind. Chris selbst kann den Moment nicht erleben: Er ist in Scheeßel beim Hurricane-Festival. „Und sieht The Cure“, sagt André.

Immerhin hat es Chris dort vermutlich einigermaßen trocken und warm. Endlich. So eine Art Juni, so eine Art Frühling überhaupt, so haben wir uns die Klimakatastrophe nicht vorgestellt. Klar, Grönland schmilzt und lenkt den warmen Golfstrom weg von Europa, aber als uns gesagt wurde, die Welt würde sich erwärmen, verschwieg man, dass das für uns zunächst das Gegenteil bedeutet. So frieren wir durchfeuchtet und können kaum genießen, was der Frühling für uns bereithält. Eine Fußball-Europameisterschaft zum Beispiel. Internationale Fußballturniere finden immer zu dieser Zeit statt. Und immer hatte man ansonsten die Gelegenheit, die Spiele in ihrer Überzahl kurzbekleidet draußen verfolgen zu können, ohne sich den Tod oder Schlimmeres zu holen. Davon, dass wir vor zwei Tagen den längsten Tag des Jahres hatten, merkt man dank der dämmerungsartigen Wolkendecke auch nichts. Um der Tatsache einigermaßen gerecht zu werden, dass die Sommersonnenwende bevorstand, schauten wir uns das Spiel Italien gegen Irland auf dem Kohlmarkt bei Lino an, in Decken gehüllt und mit einer Karaffe Wein als Durstlöscher. Draußensein musste doch auch in diesem Frühling irgendwie möglich sein. Da liefen die Nasen jedoch schneller als die stolpernden Italiener und die rugbyerprobten Iren.

Wenn ich allerdings mal ernsthaft zurückblicke, hatte ich in diesem Frühling dann doch erstaunlich viele tolle Draußenerlebnisse. Pfingsten war doch fantastisch. Warm und trocken, dazu ein entspannender, weil erstaunlich mittelmäßig besuchter Mittelaltermarkt, mit Familie und Freunden, lustiger Livemusik – Mittelalterbands kann ich allerhöchstens live ertragen, auf CD sind sie langweilig – und mit Mokka, Apfelringen, Met und mehr. Der Met-Händler fand es wohl besonders mittelalterlich, Met mit „th“ zu schreiben, und wir waren versucht, bei ihm „Kristallmeth“ zu bestellen. Wir lungerten stundenlang beim Mokkamaker auf den Teppichen herum und waren erstaunt, wie wenige Bekannte dieses Mal rund um Burg Dankwarderode unterwegs waren. Der skurrile Humor des Weltengeistes offenbarte sich mir auf dem Weg zum Mittelaltermarkt: Zufällig trug ich mein Hoax-T-Shirt, das mir Sänger Boris Neubrandt 2006 schenkte, weil ein Auftritt seiner Band im B58 nicht zustande gekommen war. Damals organisierte ich zum ersten und bislang einzigen Mal ein Konzert (mit der Experten-Unterstützung von Inside-Agitator-Olaf) und Hoax sollten dabei sein. Hoax ist eine Punkband aus Groß Oesingen, aus der Heide also, aus meiner ehemaligen Nachbarschaft, die für sich reklamiert, älter zu sein als Die Toten Hosen. Obwohl wir selbst als Schüler nie Punks waren (und Hoax eigentlich auch nicht), hörten wir die Platten natürlich. Eine war so schön im dunklen Magentavinyl. Irgendwann gab es Hoax nicht mehr. Und wieder irgendwann – 2005 nämlich – stand die Reunion an, live in Groß Oesingen, mit Dietmar Wischmeyer im Vorprogramm. Die Kneipe war rappelvoll, die Party klasse und das Wiedersehen mit Altbekannten riesig. Wischmeyer veröffentlichte dann sogar auf seinem Frühstyxradio-Label eine Best-Of-CD von Hoax. Im März 2006 sollten Hoax dann auch in Braunschweig spielen. Vier Bands sollten es sein: Müller & die Platemeiercombo, Die Weltenretter, Tanzende Kadaver und Hoax. Eine für mich traumhafte Zusammenstellung. Doch dann kam die bittere Nachricht: Der Hoax-Schlagzeuger hat wie der von Def Leppard nur einen Arm und musste an genau dem operiert werden. Damit fiel die gesamte Hoax-Reunion ins Wasser, bis heute. Als Ausgleich schickte mir Boris das T-Shirt und die mir fehlende LP und die 7“-Single – und organisierte einen Ersatz: WKA, Wir Können Auch Anders, die Band von Konrad K. von den Abstürzenden Brieftauben. Trotz des im März unerwarteten und auch für Winterverhältnisse unverhältnismäßig heftigen Wintereinbruchs an genau dem Tag war die Bude voll und die Stimmung geil. Und Konrad K. nur zwei Monate später tot, beim Spazierengehen mit dem Hund am Maschsee zusammengebrochen. Konrad gab sein letztes Konzert in Braunschweig, bei meinem kleinen Festival, im Verbund mit Bewunderern und darüber Erstaunten, wie unerwartet fit er doch eigentlich war. Das Hoax-T-Shirt trage ich daher mit doppeltem Respekt. In der Einkaufsmenschenmasse vor dem Mittelaltermarkt nun kamen mir am Pfingstsamstag Teenager entgegen, von denen einer auf meine Brust deutete und laut „Hoax!“ rief. Mir schwoll der innere Kamm: So respektlos verhielten wir uns als Teenager Erwachsenen gegenüber nie, dass wir öffentlich über deren Bekleidung lästerten. Wie reagieren? Anmotzen? Ich versuchte es mit einem diplomatischen „kennst du nicht, bist du zu jung für“, und durfte staunen über ein „Boris ist mein Onkel“. Und weg war er, irgendwo in der Konsumentenmasse.

An Pfingsten fand auch die Wasserschuh-WM statt, eine der erstaunlichsten Veranstaltungen der Welt. Wood, den ich vor einem Jahr beim Silver Club kennengelernt hatte, organisierte die, um seine patentierten Wasserschuhe publik zu machen. Dabei handelt es sich um lippenartig zusammengebundene Treckerreifenschläuche, auf die er Crocs montierte. Mit je einem solchen Schuh pro Fuß und einer Stange mit Trichtern an den Enden als Ruder und Stütze bewegt man sich übers Wasser. Um das Ganze auch eine WM werden zu lassen, ließ er Bekannte aus Braunschweig antreten, die eigentlich aus anderen Ländern stammten, aus dem Senegal und aus Australien nämlich. Die drei Teilnehmer liefen mit Wasserschuhen gegeneinander über den Ölper See. Pfingstmontag war ein lauschiger, warmer, sonniger Tag. Am Nordufer versammelten sich Freunde, Bekannte und Vertraute von Wood, der damit auch gleich seinen 50. Geburtstag feierte. Es war eine Familienfeier, viele breiteten ihre Decken aus und hatten Kinder aller Altersstufen dabei, zwei Akustikgitaristen verzauberten das Ereignis, jemand brachte seinen Graupapagei mit, Hunde liefen umher, drei irre Typen übers Wasser und die Zeit nur so dahin. So schön war danach das Wetter bis heute nicht mehr.

Immerhin, für die beiden mir wichtigsten Konzerte beim großartigen Festival Theaterformen hielten sich die Wolken mit dem regnen zurück. Kalt war’s, aber nicht nass, bei Bohren & der Club Of Gore und Nils Koppruch zumindest. Beides großartige Auftritte. Bohren, Doom-Jazzer aus Mülheim, waren so witzig, wie es angesichts der todesdunklen Musik niemand erwartet hätte. Mit geschlossenen Augen wähnte man einen anderen wichtigen Mülheimer Doom-Jazzer auf der Bühne, wenn Ansager Christoph Clöser Ansagen machte: Helge Schneider nämlich. „Warum seine Zeit mit sinnlosem Tun vergeuden, wenn man sie auch sinnlos verstreichen lassen kann?“, fragte Clöser etwa berechtigt. Für Ex-Fink Nils Koppruch brauchte man eigentlich ganz viel Ruhe, um sich auf seine Texte konzentrieren zu können, denn die sind besonders gut, weil sie sich nicht eindeutig entschlüsseln lassen, aber jedem Hörer eine eigene Deutung ermöglichen. Dafür hatte er es mit dem Humor nicht so. Ergriffen waren aber alle, die ihm lauschten. Und noch lange nach dem Verklingen des letzten Akkords standen die Leute in unveränderten Konstellationen vor der Bühne herum und taten das, was sie auch während des Konzertes taten: Sie unterhielten sich miteinander. Das ist wohl der kleine Nachteil am Umsonstkonzert. Egal, schön war’s, und schon jetzt freue ich mich darauf, dass das Festival Theaterformen in zwei Jahren wieder in Braunschweig gastiert. Man trifft viele Leute und bekommt qualitativ ein Programm geboten wie weiland im FBZ.

Ansonsten war das Wetter aber wirklich nicht besonders dazu einladend, seine Zeit bis in die Dämmerung hinein draußen zu verbringen. Einmal Erdbeeren essen an der Oker, und das war noch im Mai, das ist zu wenig. Keinmal Fußball-EM gucken im Riptide, das ist mal entschieden zu wenig. Dafür ist es heute immerhin so schön, dass Maren, Arni und ich nur noch drinnen einen Platz bekommen. Das ganze Achteck ist bevölkert, auch Serge sitzt vor seinem Laden, alle sehen gutgelaunt aus, wir sind es auch. Das heißt nicht, dass drinnen nichts los sei: Die ganze Schallplattenecke des Cafés ist voller in den Schallplatten stöbernder Menschen. André bekommt Hilfe von Lennard, der mit der vertrauten Riptide-Galanterie die Kunden bedient. Wir drei sitzen am Tisch und freuen uns darauf, bald beim freundlichen Personal unsere Burger-Bestellung aufgeben zu können. André stellt sich bald zu uns und fragt nonchalant: „Habt ihr’s jetzt?“ Wunderbar, wie zu Hause! Wir sind überglücklich. Eigentlich habe er einen Kniefall vorgehabt, sagt André, und stellt mit Blick auf Stift und Block in seiner Hand fest: „Dafür habe ich für euch die Farbe der Liebe gewählt.“ In der Tat, unsere Bestellung nimmt er in Rot auf. Arnis Burgerwunsch empfiehlt der Wirt mit Mozzarella, Marens Rhabarberschorlebestellung quittiert er mit „eine gute Wahl“ und auf meinen Hinweis, dass ich gerne eine Hausmarke hätte, sagt er: „Natürlich.“ Pause. „Natürlich hättest du die gern.“ Ach, André, der Charmeur, weiß einfach, wie er mit uns umgehen muss, damit wir glücklich sind. Und wir sind glücklich.

Zielstrebig biegt da Phileas mit seinem Vater Vincent im Schlepptau von draußen um die Ecke und steuert auf das große Fernseh-Fenster zu. Der Dreijährige trägt eine Mütze wie Benni Bärenstark und sieht auch so aus. Der Junge freut sich, als er sein Lieblingsauto in der Spielzeugkiste unter dem Fenster findet, nimmt es heraus und geht mit seinem Vater zurück nach draußen, zu seiner Schwester Elisa, die im Kinderwagen liegt und schläft. Nach einer Weile kommt Phileas, jetzt ohne Mütze, zurück und holt sich zwei große Baufahrzeuge aus der Kiste, einen Kipper und einen Bagger. Die bunten Autos sind größer als die Augen, die der Kleine macht. Er kurvt durchs Café und entzieht sich draußen unserem Blickfeld. Wir sind entzückt.

Drinnen nehmen wir wahr, dass die Wände nach wie vor ungeschmückt sind und dass auch die T-Shirts, die sonst über den Platten am Rohrgestänge hingen, gegen einen T-Shirt-Ständer in der Mitte des Cafés ausgetauscht sind. „Das ist optisch besser“, erklärt André. „Auf dem Ständer kann man sie auch in die Hand nehmen und blättern.“ Und sie nicht mit der langen Stange von der Decke angeln. „Mit der patentierten“, grinst André. Die übrigen Wände seien noch von der letzten Ausstellung zwar renoviert, aber ohne neue Bilder. „Wir warten bis nach der EM“, sagt André.

Und dann endlich ist Micha wieder da. Was für eine Freude! Nachdem wir uns ansonsten ständig über den Weg liefen, haben wir uns jetzt schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Deswegen wünsche ich ihm erstmal ein frohes Neues Jahr – unsere letzte Begegnung war im November. Wenig überraschend sagt er: „Ich gehe gleich ins Kino.“ Alles ist wie immer, wie schön. Er will „Moonrise Kingdom“ gucken, den neuen Film von Wes Anderson, der mich wiederum nicht interessiert, weil ich „Rushmore“ und „Die Royal Tenenbaums“ schon nicht mochte. Mein nächster Film ist nach Möglichkeit der über Ai Weiwei. „Der interessiert mich nicht“, grinst Micha. Wie auch mir gefällt ihm aber das Plakat mit dem Stinkefinger. Arni und Maren stimmen zu: Das ist gelungen. Simpel, aber wirkungsvoll. Und Micha geht auch schon wieder, wie gewohnt in Eile.

Dafür setzt sich Janna in unseren kleinen Kreis. Sie blättert in der Karte. André zieht sich einen der Sitzwürfel vom Sofa heran, setzt sich mit schreibbereiter Stift-Block-Kombination neben sie und macht „hm?“. Janna sieht ihn an: „Ich glaube, ich fange mit einer Apfelschorle an und trinke mich dann hoch.“ André sagt „ok“, schreibt und nickt und steht auf.

Nicht nur Lennard ist neu hinterm Tresen, noch neuer ist Anthea. Sie bedient die komplizierte Kaffeemaschine, werkelt in der Küche und guckt sich bei Lennard ab, wie das mit der EC-Kartenzahlung funktioniert. „Das weiß ich nämlich noch nicht“, sagt sie. Im Riptide ist sie zwar neu, in der Branche aber nicht: „Ich habe das schon zwei Jahre lang gemacht.“ André bringt uns unsere Burger. Die sind wie versprochen und wie immer super und die Chips am Tellerrand ein gerngegessener Nachtisch. Phileas kurvt wieder durch die Tür, bringt sein Spielzeug zurück in die Kiste und kurvt zurück. Mit der Benni-Bärenstark-Mütze auf dem Kopf und einem Schein in der ausgestreckten Hand stellt er sich kurz darauf vor die Theke: „Tsalen!“ André beugt sich weit über die Theke zu ihm herunter, nennt den Betrag und nimmt ihm das Geld ab. „Da bekommst du noch etwas wieder“, sagt er und reicht Phileas weit heruntergebeugt das Wechselgeld in die Hand. Der wetzt hinaus und kurz darauf wieder hinein. Verloren steht er vor der Theke, denn André ist kurz an den PC gegangen. Phileas blickt zu uns und sagt: „Muss warten!“ Nicht lange, André beugt sich wieder über die Theke zu ihm herunter und fragt: „Ja, bitte?“ Phileas reicht ihm das Wechselgeld, sagt: „Trinkgeld!“ und wetzt wieder zurück zu seinem Vater. Noch einmal kehrt Phileas zurück, dieses Mal mit seinem Laufrad, und ruft: „Tsüss!“ Wir sind allesamt hingerissen. Vincent freut sich, dass sein Sohn so große Begeisterung auslöst. Er sei nur selten im Riptide, aber: „Hier sind fast nur junge Leute“, stellt er fest, da könne man mit Kindern gut hingehen. „Phileas sucht gern Kontakt“, sagt Vincent, und nicht überall sei das willkommen. Benni Bärenstark ficht das alles nicht an. Er ist die Extraportion Sonne für heute.

Auch wir haben zu gehen. „Entreat Plus“, wie schön, und weil es so schön ist, lege ich „Valtari“, das neue Album von Sigur Rós, noch mit drauf. Heute ist Sankt Hans, das nordische Johannesfest. Das hab ich in Dänemark noch nie erlebt. Sie feiern es ungefähr so, wie wir Walpurgis: Holz aufschichten und anzünden und dazu in lustiger Gesellschaft ein oder zwei Getränke zu sich nehmen, nur mit dem Unterschied, dass sie das Holz nicht auf einem Berg, sondern am Meer auftürmen. Dafür jetzt extra stundenlang im Auto sitzen? Ach, nö. In Braunschweig ist es doch auch schön. „Valtari“ heißt „Walze“ und hat nichts mit Waltari zu tun, der finnischen Band, die sich wiederum nach dem Schriftsteller Mika Waltari benannt hat. „Valtari“ klingt eigentlich auch gar nicht nach einer Walze, das passt eher zu Neurosis. Sigur Rós machen nach dem eher rumpeligen „Inni“ wieder ein, zwei Schritte zurück und lassen die Soundteppiche flirren. Eigenretro. Bei retro fällt mir das Album „Not Bleeding Red“ von Nothing But Noise ein, das ist nagelneu und auch retro, es klingt nämlich nach Jean Michel Jarre, wäre für mich also überflüssig, wüsste ich nicht, wer denn da mitspielt. Drei Leute nämlich, von denen zwei für mich das Kaufargument waren: Daniel Bressanutti und Dirk Bergen. Beide sind Gründer von Front 242, allerdings stieg Bergen nach dem Debütalbum „Geography“ aus. Bressanutti ist bis heute dabei, wenngleich „dabei“ heißt, dass er mit den anderen dreien als Front 242 lediglich Live-Konzerte gibt. Das letzte Studioalbum ist neun Jahre alt, das vorletzte 19. Als Fan freut man sich also über Nebenprojekte, und davon gab es einige sehr gute, wie Male Or Female, Speed Tribe, Cobalt 60, C-Tec und mehr. Einzig 32Crash sind etwas mittelmäßig. Daher finde ich „Not Bleeding Red“ also trotz latenter Uneigenständigkeit durchaus hörbar. Und war dann neugierig, was es mit dem dritten Mann auf sich hat: Erwin Jadot. Nie gehört. Wikipedia weiß nichts über ihn, Discogs führt ihn nicht einmal als Mitglied von Nothing But Noise auf, sondern nur als Performer auf dem Album. Discogs weiß immerhin, dass Jadot 2005 eine Solo-CD unter dem Namen Dream Invasion veröffentlichte, das Album „Inspiration For A Daydreaming Nation“ nämlich. Niemand kennt es, eBay nicht, Amazon nicht, einzig Discogs. Und dort im Marketplace bietet es nur ein einziger Händler an. Und das auch noch mit der Option, einen Preisvorschlag zu senden. Beim Blick in sein Angebot dann die Überraschung, dass er die CD von The Art Corporation, einem Projekt von Bressanutti und Bergen aus dem Jahr 1996, das es außerhalb der dazugehörigen Kunstausstellung nie zu kaufen gab, ebenfalls mit Preisvorschlag anbietet. Ich sendete dem Menschen meine Preisvorschläge. Der Händler akzeptierte sie und ich bezahlte per Paypal an eine kryptische Emailadresse. Paypal wiederum scherte sich eins um Datenschutz und zeigte mir den Klarnamen an: Erwin Jadot. Milch direkt vom Erzeuger! Die CD hab ich mir signieren lassen, außerdem ließ er sich die Nachricht entlocken, dass „Not Bleeding Red“ keine einmalige Aktion sein soll. Die Globalisierung hat doch ihre Vorzüge.

Tja, und jetzt, da man wirklich mal draußen sitzen kann, ist es schwierig, mit frischgekauften Schallplatten nach Hause zu gehen. Was soll’s, draußen sitzen kann ich auch im Winter noch. An die Witterung bin ich nach diesem Frühling gewöhnt.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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