#57 Im Stereozentrum

Donnerstag, 19. Juli

Mittagszeit. Welcher Platz könnte jetzt schöner sein als der an dem Tisch, der am dichtesten am Meer steht. Er ist frei. Ein sonnengelber Sonnenschirm über mir verhindert den Sonnenbrand, in einer Vase vor mir kämpft eine violette Rose vergeblich gegen die Hitze. Ein mit azurblauen schmalen Streifen durchzogenes Tischtuch liegt quer auf dem Holztisch, an dem ich Platz nehme und von dem aus ich aufs Mittelmeer und den Strand dazwischen blicke. Dort sind nur wenige Menschen unterwegs, einmal wegen der immens hohen Temperatur, und dann, weil dies einfach keine Touristenmetropole ist. Die Italiener vor Ort wissen einfach, dass es nicht ratsam ist, an so einem Tag im Hochsommer mehr als nötig unterwegs zu sein. Daran nehme ich mir ein Beispiel. Hinter der Vase liegt die Speisekarte. Die brauche ich aber nicht, ich weiß, was ich jetzt am dringendsten brauche. Aus dem Lokal jenseits der Promenade, zu dem dieser Tisch gehört, kommt Chris mit einem Tablett und einem Zettelblock. „Corrente di ritorno“ steht kunstvoll beschriftet über dem Eingang. Chris geht langsam, das kann ich verstehen, ich habe auch lange gebraucht, um diesen Tisch zu erreichen. Er muss auf seinem Weg zu meinem Tisch keinen Spaziergängern auf der Promenade ausweichen, es ist einfach nichts los. Ein Kind mit einem Eis rollert träge vorbei, mehr nicht. Über dem Arm hat Chris ein feuchtes Geschirrtuch hängen. „Prego?“, fragt er. Was braucht man jetzt, um glücklich zu sein? Hier, am Mittelmeer, Cinque Terre, nördlichstes Dorf, Monterosso al mare, wo man schon merkt, dass der romantische Charme der anderen vier im Gebirge versteckten Örtchen noch nicht ganz gegeben ist, weshalb es hier eben auch so still ist. Kaffee, Salat mit Brot, Wasser, Rotwein: „Vorrei un caffè, un insalata mista con un pane, una bottiglia d’acqua minerale gassata e mezzo litro di vino rosso per favore.“ Solches brachten mir meine Kollegen bei VW in Wolfsburg am Band bei. Chris nickt, notiert und geht mit einem vielversprechenden „subito“ zurück ins klimatisierte Lokal. Fein. Ich lehne mich zurück, blicke aufs glänzende, fast wellenlose Meer. Es ist so still hier, dass man nicht einmal das Meer an den flachen Strand spülen hört. Das Zirpen einiger nimmermüder Zikaden aus dem nahen Pinienhain ist alles. Ich schließe die Augen, atme tief ein und langsam wieder aus.

Als ich die Augen öffne, guckt Chris mich über die Riptide-Theke an, als wäre ich mindestens reif für den Urlaub. Bin ich auch. Gerade passte ich den Moment zwischen zwei Regengüssen ab, um trocken ins Riptide zu kommen. Dabei ließ ich mich davon blenden, dass die Sonne schien, und ging ohne Jacke los, doch ist es dafür viel zu kalt, jedenfalls mir. Offenbar haben sich die Braunschweiger mittlerweile ans Mistwetter gewöhnt, denn das Achteck ist gut gefüllt, aber auch das Café und die Rip-Lounge sind voller Gäste. Der Schirm im Achteck wechselt in seiner Aufgabe ständig zwischen Schattenspenden und Trockenhalten. Beides macht er ganz gut. Weil es so voll ist, rotieren Chris und Jasmin mächtig umher. Zum Bestellen komme ich aber nicht deshalb nicht, sondern, weil Lord Schadt zur Tür hereinkommt, um seine Rechung zu begleichen. „Man wundert sich, wer aus der Szene mittags alles hier ist“, stellt er fest, denn er saß bis eben in der Rip-Lounge, „Jogi ist auch da“. Wir unterhalten uns über Ironie, Selbstreflexion und darüber, wie wir Dummheit definieren. Passend dazu zieht er ein eben erworbenes Buch aus der Tasche: „Keine Macht den Doofen“ von Michael Schmidt-Salomon. „Der Titel ist doof“, findet auch Lord Dirk, „aber Michael Schmidt-Salomon schreibt gut.“ Mir sagte der bislang nichts. Dirk muss los, aber Chris und Jasmin sind in der Küche oder an den Tischen beschäftigt, daher fällt Dirks Blick auf die Tresenklingel zwischen den Quartetten, limitierten CD-Boxen und Drei-Fragezeichen-Hörspielen. „Das hat etwas Edles, wie in einem Nobelhotel“, bemerkt er und betätigt einmal dezent die Klingel. Ohne direkten Effekt. „Aber wenn dann keiner kommt, ist man wieder in einem Szene-Café.“ Ist ja auch dichter am eigenen Leben. Chris kommt aus der Küche und wickelt Dirks Anliegen ab.

Da Chris wieder in der Küche verschwindet, bevor ich aktiv werden kann, nutze ich die Gelegenheit und stöbere in den Second-Hand-LP-Kisten. Zufällig fiel Chris nämlich eine Hoax-LP in die Hände, nachdem er von meiner überraschenden Begegnung mit dem Neffen des Sängers erfuhr. Weit komme ich in der Kiste nicht, denn Jörg tritt ins Café. Er ist jahreszeitengemäß gekleidet, mit Strickmütze und Sonnenbrille. Auch er saß in der Runde in der Rip-Lounge, die Dirk eben verließ, und lässt jetzt auch die Second-Hand-LPs zwischen seinen Fingern flippen. Bei Santana bleibt er hängen und beginnt zu schwärmen. Ich mag Santana nicht. „Die ersten drei sind gut, die höre ich auch gerade wieder“, sagt Jörg. Selbst die mochte ich nie, ganz besonders wenig aber die neueren Sachen. „Nach den ersten dreien hat er gegniedelt“, findet auch Jörg. „Und heute macht er Pop-Scheiße.“ Jörg lässt seinen Obolus bei Chris, der in der Küche gerade fertig ist, und wendet sich zum Gehen: „Jogi wartet schon.“

Der Einfachheit halber und weil ich zu faul zum Suchen bin frage ich Chris, ob er die Hoax-LP in die Kiste gestellt oder zu Hause gelassen hat. „Die ist da, unter Punk“, hilft Chris und findet sie dort auch fast auf Anhieb. „Ohne Mwst“, das dritte und leider letzte Album aus dem Jahr 1991. „Ein Kunde hat gesagt: Oh, mit dem bin ich zur Schule gegangen“, erzählt Chris. Hoax aus Groß Oesingen und Die Toten Hosen aus Düsseldorf diskutieren seit jeher, welche der beiden Bands älter ist. Und haben in den 80ern sogar zusammen auf einer Bühne gestanden. Eine Best-Of-CD kam vor ein paar Jahren bei Dietmar Wischmeyers Label heraus. Auch mit dem sind Hoax aufgetreten, im Heimatdorf in einer der beiden Kneipen. Chris staunt: „Groß Oesingen, der Nabel der Welt.“

Die Wände sind nicht mehr kahl. Dort hängen Fotos und schwarze Dinge, die von den Heizungsrohren herabbaumeln. „Tobias Teich zeigt Tretmühlen“, erklärt Chris. „Deswegen hängen da lauter Fahrradschläuche.“ Ach, Fahrradschläuche sind das. „Ach, das sind Fahrradschläuche“, sagt auch Johanna, die mit dem Bezahlen nach Birte an der Reihe ist und Zeit hat, sich im Café umzusehen. „Ist doch klar“, findet Birte, „ist doch eine Fahrradausstellung.“ Birte macht für Johanna den Platz an der Theke frei. „Das ist übrigens mein Bein da“, sagt Birte und deutet auf das Foto links an der Wand hinter dem Sofa. „Ist es auch dein Fahrrad?“, fragt Chris, der Johanna das Wechselgeld aushändigt. „Ja“, sagt Birte, „mein Fahrrad ist das auch, aber das ist jetzt noch schrottiger.“ Auf jeden Fall einen genauen Blick wert.

Chris kümmert sich jetzt um die eingehende Post. Er etikettiert eine CD von den Levellers. „Sind das die alten Helden?“, fragt er erstaunt. Sind sie. Chris legt das Digipak auf einen CD-Stapel und widmet sich einem etwa zwölf mal zwölf Zoll großen Karton. Von den Levellers hat er lange nichts gehört, da fallen ihm gleich Dexy’s Midnight Runners ein: „Nach 27 Jahren ein neues Album.“ In der einen Hand hält er Luftpolsterfolien, in der anderen eine Schere. „27 Jahre dürfte die längste Zeit zwischen zwei Alben einer Band sein“, überlegt Chris, sticht die Luft aus den Polstern und knüllt die Folien zusammen. Vashti Bunyan hat auch lang gebraucht, die New York Dolls, Mission Of Burma, Gang Of Four. Alle kommen sie irgendwann wieder. Mit den meisten hätte niemand gerechnet, auch nicht mit Dexy’s Midnight Runners. „Sie haben ihren Namen verkürzt“, sagt Chris, „und es ist kein ‚Come On Eileen‘ drauf“, das sei auch gut so. Zwei Songs vom neuen Album hat Chris auf Samplern gehört und schwärmt von ihnen. Auch die Musikpostillen sind voller Lob. „Die Band ist nach einer Droge benannt“, berichtet Chris und nimmt einen Schwung Schutzpappe aus dem Karton. „Das war ein Medikament, Dexyirgendwas, da waren die Tänzer drauf so wie heute die Raver auf Ecstasy, die haben die ganze Nacht durchgezappelt, und danach sind sie benannt – Dexy’s Midnight Runners.“ Er legt die Pappe zum Altpapier und grinst: „Chris-Nerdwissen.“ Aus dem Karton holt er schließlich zwei Doppel-LPs mit dem Titel „Verschwende deine Jugend“ und strahlt.

An Ulrike, die sich nun mit Chris unterhält, fällt sofort der Dialekt auf. Er ist mir vertraut, aber weniger vom direkten Hören als davon, dass ich Kulturprodukte konsumiere, auf denen Leute mit diesem Dialekt sprechen. Ich kenne ihn etwa von den alten Alben der Ersten Allgemeinen Verunsicherung oder aktuell von der neuen DVD von Stermann & Grissemann. „Ich komme aus Wien“, bestätigt Ulrike meine Vermutung. In Braunschweig ist sie nur zu Gast, „ich fliege heute wieder zurück“, sagt sie. „Aber ich war am schönsten Café in Braunschweig.“ Und ich war noch nie in Wien.

Regen und Sonne wechseln sich in einem wahnwitzigen Tempo ab. Deutlich langsamer wechseln die Gäste im Café – und nach langer Zeit wechselt auch die Belegschaft: Roberto und Benno sind nicht mehr da, dafür Christof, Lennart, Anthea und Nina. Die ich teilweise noch gar nicht kenne. „Einige sind aber schon länger da“, stellt Jasmin mit einem freundlichen Vorwurf im Tonfall fest und bringt Bestellungen ins Achteck. Ein Sturzbach ist soeben verklungen, halbwegs trocken kommt Maren ins Café und bestellt eine Rhabarberschorle. „Den Sommer wenigstens trinken“, sagt Chris. Wir setzen uns in die Ecke mit den Sitzkisten neben dem Fenster. Maren geht noch die Hände waschen, da stellt Chris ihr das Getränk an den Platz. Sie begegnen sich auf halber Strecke zwischen dem Sitzplatz und der Theke. „Es ist angerichtet“, sagt Chris im Vorbeigehen. Und unsere Burger sind in Vorbereitung.

Am Nachbartisch performen Sarah und Mareike einen Science Slam in Organischer Chemie. Zumindest ist ihre Art, für die Uni zu lernen, sehr anschaulich und unterhaltsam. Es fällt der Begriff „Stereozentrum“. Damit ist das Kohlenstoffatom in einem Molekül gemeint, von dem nichtsymmetrische Verbindungen ausgehen. „Das Vanillearoma hat drei Stereozentren“, sagt Mareike. Und Sarah: „Das Zimtaroma nur eins.“ So anschaulich kann also Chemie sein. Mareike kommt aus Bad Bevensen, also wie ich aus der Lüneburger Heide, und Sarah aus Lübeck. Sie hat einige Jahre „in Ostholstein“ gewohnt, wie sie sagt. Genauer: Auf Fehmarn. Ach, an der Ostsee, dort ist sogar so ein Wetter wie dieses erträglich.

Auf diese Weise, mit Burgern, Getränken und mit mitteilsamen Tischnachbarn, lässt es sich gut aushalten. Maren und ich überbrücken so die Zeit zwischen einem halben Dutzend Schauern und gehen dann irgendwann. Marco ist da und füllt Öl in die Lampen. Hinter der Theke steht jemand, den ich nicht kenne. „Du bist Christof“, rate ich. Und liege richtig. Chris, Christof, Jasmin und Marco haben zu tun, wir verabschieden uns und schreiten mutig in den Schneesturm draußen. Ein Tornado entwurzelt die Krüppelkiefer im Handelsweg und reißt die Thermozelte fort. Ein Glück, der Eisbär geht in Richtung Martino-Katharineum weiter. Wir drücken uns an den lodernden Feuerkörben vorbei, rutschen ein wenig auf dem zugefrorenen Gehweg herum und winden die Schals enger um unsere Hälse.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

1 Kommentare

  1. Hallo ich komme aus Gr. Oesingen
    Nur mal zu eurer info …
    Die Hoax tretten wohl 17.02.15 als Vorgruppe bei UK Subs Konzert in Gr. Oesingen wieder auf 🙂

    gruß Thomas

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