#64 Gesunde Brutalität

Donnerstag, 14. Februar

Wenn Serges Laden zwar offen, aber menschenleer ist, bedeutet das in der Regel, dass er in der Rip-Lounge am großen Fenster sitzt und raucht, vor seinem aufgeklappten Laptop, neben sich Jakob, Laura oder andere, die mit ihm philosophieren oder über sein Buch oder auch nur irgendetwas anderes reden. Als ich aus dem schmalen Handelsweg ins offene Achteck trete, kehre ich daher dieses Mal nicht direkt ins Café ein, um Chris oder André oder den anderen den Gruß des Tages zu entbieten, sondern wende mich der gegenüberliegenden Rip-Lounge zu, und siehe, es winken mir Serge und Jakob von hinter dem Fenster aus zu, beide rauchend, beide lächelnd. Da setze ich mich doch gerne dazu. Eine gute Gesellschaft, wie ich schon öfter erleben durfte, wofür ich dankbar bin.

Jakob und Serge sind ein bewundernswertes Gespann. Serge ist 68 Jahre alt, betreibt nebenan den kleinen Laden mit vielen gebrauchten Dingen, Büchern zumeist, war Intendant des Schlosstheaters in Celle, schreibt zurzeit an einem Buch, oder besser: hat es selbstgebunden vorliegen, „Lucky Man“, Buch eins von dreien. Und Jakob ist 15, Schüler, literaturinteressiert, aufgeschlossen, neugierig, fröhlich, intelligent und gutaussehend. Von Serge lernt er viel über Literatur, kauft bei ihm regelmäßig Bücher, heute eines von Marcel Proust, und im Gegenzug bedient er Serges Laptop, kümmert sich um Updates, bearbeitet Korrespondenz, löst Probleme. „Wir sind eine Projektgruppe“, sagt Jakob. „Zwei Typen, die hier jeden Samstag rumsitzen, rumstehen, jeden Samstag, rauchen und sprechen.“ Ganz offensichtlich manchmal auch donnerstags. „Das ist ja in gewisser Weise eine Art Germanistikseminar“, konkretisiert es Serge. „Wir versuchen, Texte zu analysieren anhand eines konkreten, im Moment noch in Erarbeitung befindlichen Textes – das ist ungewöhnlich, an einer Uni wird man selten einen Autoren bei der Arbeit vor sich haben.“ Für mich ist es der umgesetzte Generationenvertrag. „Ich muss dir noch was sagen zu Colour Haze, die neue Platte – “ Doch dazu kommt Jakob nicht mehr, er folgt einer Freundin an einen der Nachbartische. Vernünftig.

Colour Haze! Kürzlich waren Maren, Arni und ich im Riptide unterwegs und gesellten uns kurz in die Runde von Serge, Jakob und noch jemandem, und als wir erzählten, dass Arni und ich vorhatten, direkt zu Raute zu gehen, leuchteten Jakobs Augen auf, und er erzählte, dass er sich dort gerade eine Anlage gekauft hatte, mit Plattenspieler, und außerdem eine Platte von einer Band, „kennt ihr Colour Haze?“ Was für eine Frage, sie uns Progrockinteressierten zu stellen, umgekehrt wäre sie angebrachter: Du kennst Colour Haze?! Die kennen nicht mal Gleichaltrige. Jakob erzählte nun überschwänglich, dass er sich bei Raute eine LP von denen gekauft hatte, signiert, weil Raute-Zweitchef Uwe Kontakte zur Band hat. Mit demselben Strahlen in den Augen freute sich Uwe kurz darauf uns gegenüber über Jakobs Interesse an der Band, LPs an sich und dem Plattenspieler. Die Welt ist nicht verloren mit jungen Leuten wie Jakob. Wir freuten uns überdies, wie grässlich wir von Uwe willkommen geheißen wurden, und nicht nur wir, Uwe war in allerbester Laune und beleidigte seine Kunden herzerwärmend mit Begrüßungen wie „Alles muss raus – das gilt auch für dich!“ Dem leistete natürlich niemand der glücklichen Kunden Folge, und das mit erheblicher Begeisterung. Uwes Laune war kein Wunder, die Eintracht hatte gerade gewonnen.

In der Rip-Lounge nimmt Milena Bestellungen auf und kommt auch zu Serge und mir. Ich bestelle das, was man bekommt, wenn man „Hausmarke“ sagt, was, wie ich wohl weiß, nicht mehr Hausmarke ist, sondern ein Fritz-Produkt, dessen Namen ich mir allerdings noch nicht gemerkt habe. „Eine Ex-Hausmarke“, bestätigt Milena. Sie habe ich noch gar nicht im Riptide-Team gesehen, „ich bin seit Ende November hier“, sagt sie, aber vor mehr als zwei Jahren machte sie einen Okerwelle-Bericht über das Riptide, und das erzählte sie mir damals, daher kennen wir uns also schon.

Als Serge und ich uns gerade über sein Buch „Lucky Man“ unterhalten, danach über Kinder, frühkindliche Prägung, Traumatisierungen und deren Auswirkungen, Selbstverwirklichung, selbstschädigende Rücksichtnahme und als selbsterhaltende Folge darauf, wie Serge es nennt, „gesunde Brutalität“, kommt Niclas um die Ecke und setzt sich zu uns. Er hat einen Termin beim Arzt und war früher da als gefordert, doch macht die Praxis Pause und lässt ihn nicht im Wartezimmer sitzen, und für eine Stunde will er nicht nach Hause und setzt sich zu uns, um die Zeit zu überbrücken. Obwohl, wie ich finde, er im Riptide dann wohl zu Hause ist. Er muss zur Blutabnahme, „ich darf nichts essen und trinken, ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und das war nur Müsli“, erzählt er mit Hungermiene. Milena, die mir mein Fritz-Getränk bringt, das „Kola-Kaffee-Limonade“ heißt, was deutlich schwieriger zu merken ist, aber mindestens genauso gut schmeckt wie die Hausmarke, fragt ihn ahnungslos: „Kann ich dir etwas zu essen oder zu trinken bringen?“, was bei Niclas ein hungerverzerrtes Gesicht zur Folge hat. „Ich würde gerne, aber darf nicht“, sagt er gequält. Milena stutzt: „Wie so nicht, bist du mit Vorgesetzten hier?“ Genau, ich verbiete ihm den Kaffeekonsum. „Genau, ist ja auch ungesund“, stimmt mir Milena zu. Niclas erklärt ihr den Grund und fragt: „Habt ihr Wasser ohne Kohlensäure?“ Haben sie, „Leitungswasser“, sie beugt sich verschwörerisch zu ihm und raunt hinter vorgehaltener Hand: „Ist auch umsonst.“ Die beiden sind sich handelseinig.

Die Gespräche zwischen Niclas, Serge und mir werden existentialistisch, ganz so, wie es in diesem Rahmen üblich und erfreulich ist. Zum Existentialismus gehört natürlich auch der Genuss, und auf Niclas‘ Hungerbemerkung hin bemerkt Serge, dass er nur wenig isst und sich selbst oft fragt, wovon er lebt, und ich mutmaße, dass es Rauch ist. Serge zieht an der Zigarette und fügt den abendlichen Wein hinzu. Niclas und Serge tauschen sich über Geschmack und Rauchdauer verschiedener Zigarettensorten aus. Serges Marke, eine Empfehlung von Jakob, sei teurer, schmecke aber besser, und außerdem verglühten sie nicht so schnell. Serge zahle also drauf für „Geschmack und“, er sucht nach dem Wort, das ihm Niclas reicht: „Ergiebigkeit.“ Serge nickt: „Rauchen ist das einzige, wovon ich wirklich überzeugt bin.“ Oha, was für eine Feststellung. Wovon bin ich denn überzeugt? Das ist eine Frage für zu Hause. „Die Entstehung der Literatur, besonders der modernen, verdankt sich dem Rauchen“, sagt Serge. Und dem Alkohol, finde ich. „Auch das Kino, besonders in Schwarzweiß“, fügt Serge noch hinzu, das setze den Rauch ästhetisch ein, „Farbe trägt den Rauch nicht, darin verschwindet er“. Im Kino verschwindet Rauch sowieso, außer bisweilen im Europäischen. Das hat Niclas auch beobachtet.

Das Kino rappelvoll bekamen Riptide und Universum jüngst bei Sound On Screen, mit dem Sigur-Rós-Film „Heima“. Das dritte Mal überhaupt, wie Beate erzählte, war Sound On Screen ausverkauft, nach dem The-Doors-Film und dem Blue-Note-Film. Das Kino war so voll, dass das Universum den Film noch an zwei weiteren Abenden zeigte. So voll, dass Janna und ich beim Gang ins Kino fürchteten, die zwei überzähligen vorbestellten Karten auch noch bezahlen zu müssen, weil unsere beiden angesagten Begleiter abgesagt und wir vier Karten vorbestellt hatten. Wir stellten uns artig in die Schlange, in die sich als nächstes Iris gesellte, fröhlich strahlend, aber ahnungslos, dass sie hätte vorbestellen müssen, und dann mit uns froh, dass sie eines der zwei überzähligen Tickets haben konnte, und die Frau am Schalter beteuerte dann auch noch, dass wir das letzte Ticket nicht zu zahlen hätten, dass es genug Nachfrage gebe uns sie es schon loswerde. Aha, dachte ich. Jetzt bin ich mal gespannt, wer sich neben mich setzt. Das Kino füllte sich, es liefen Werbefilme, unter anderem vom Kingking Shop, in dem in der Woche davor gewesen war, um Stefan mal wieder zu treffen, und bei ihm war eine junge Studentin, Vera, die sich mit ihm über ihre Kunst und eine potentielle Ausstellung in der Einraumgalerie unterhielt, und währenddessen stöberte ich in den Büchern, wie es sich in einem halben Buchladen auch gehört, und entdeckte dort „Speichelfäden in der Buttermilch“, eine Zusammenstellung diverser Veröffentlichungen von Stermann und Grisseman, zwei für meinen Geschmack ernsthaft lustigen Humorschaffenden, die allerdings außerhalb Österreichs und Süddeutschlands sowie Berlins niemand kennt, abgesehen von Studio Braun, die mit den beiden befreundet sind, nachvollziehbarerweise, und ich wunderte mich, das Buch in Braunschweig zu finden, und Stefan zitierte gleich den Youtube-Film „Cordoba 1978“, und darüber kamen wir drei über lustige Bücher zu sprechen, und Vera nannte „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ von Hans Traxler, einen satirischen Bericht über einen erdachten Forscher, der die Lage des Hexenhauses und die Identität der vermeintlichen Hexe und die Wahrheit hinter dem Märchen herausgefunden zu haben behauptet hatte, der damals, in den späten 60ern, in der Bundesrepublik noch für Aufsehen gesorgt hatte, und ich bestellte das Buch sogleich bei Stefan, und als ich ging, rief mir Vera hinterher, „sag mir, wie du es findest“, und ich sagte, na klar, mache ich, und auf dem Heimweg dachte ich noch, wie denn? Und als dann im Universum kurz vor „Heima“-Start mein Überraschungssitznachbar endlich eintraf, fragte sie: „Und, wie fandest du das Buch?“ Das war wirklich eine Überraschung. Die Antwort konnte ich ihr noch nicht geben, weil ich das Buch bis dahin noch gar nicht abgeholt hatte. Wir tauschten dieses Mal Emailadressen aus. Am nächsten Tag rief ich gleich bei Stefan an und fragte nach dem Buch und danach, ob er sich ausdenken könnte, neben wem ich „Heima“ gesehen hatte, und er sagte: „Vera“, worauf ich erheblich stutzte, und er klärte mich auf: „Ich saß zwei Reihen hinter euch.“ Braunschweig, eine Erbse.

Der Film selbst war auch Jahre später noch so anrührend wie beim ersten Mal, die mittleren Sachen von Sigur Rós lösen einfach immer etwas in mir aus, und die Bilder dazu auch. Nach dem Film waren wir noch mit Axel bei Guidos Pizzeria, bevor wir uns die Aftershow im Riptide ansahen, mit Livemusik und Islandfilmen, und Beate verriet uns dort schon, dass in der nächsten Staffel von Sound On Screen „24 Hour Party People“ und „Searching For Sugar Man“ laufen. Ersterer hatte keinen Deutschen Kinostart, den hatte ich seinerzeit in Kopenhagen gesehen, in einem Kino zwischen Hauptbahnhof und Rotlichtviertel und mit nur einem weiteren Gast, Original ohne Untertitel, was nur vermeintlich okay gewesen war, weil der Film ja auf Englisch ist, obwohl, ist er nämlich nicht, jedenfalls nicht so richtig, er spielt in Manchester, allzuviel hatte ich also nicht verstanden, aber dennoch viel Spaß an dem Ding, und Beate erläuterte den anderen Film, eine Dokumentation, die von der Suche eines Südafrikaners nach dem verschollenen Sänger Rodriguez handelt, und die eine unvorhersehbare Pointe hat, die sich Beate allerdings nicht entlocken ließ. Morgen Abend läuft aber erstmal „You Instead“ bei Sound On Screen, die beiden anderen Filme kommen im März und im April.

Zwischendurch geht Serge immer wieder mal nach gegenüber, um in seinem Laden Kunden zu bedienen. Stets kommen die lächelnd wieder heraus. Niclas muss jetzt wirklich los zum Arzt, Serge sitzt wieder bei mir, als Helen hereinkommt und ihn begrüßt und eine Verabredung mit ihm dingfest macht. „Ich muss ein Babygeschenk kaufen“, sagt sie, eine Freundin in Hannover habe ein Kind bekommen. Eine Freundin von mir auch, vorgestern. „Ich habe noch nie ein Babygeschenk gekauft“, sagt Helen. Sie ist noch jung, das wird ihr jetzt vermutlich öfter passieren.

Serge will Feierabend machen, dann gehe ich auch, erstmal nach gegenüber ins Café, zum Zahlen und um endlich meine Grüße zu entrichten, und stelle fest, dass das Café bis auf den letzten Platz und im Grunde sogar darüber hinaus besetzt ist, und freue mich darüber. Chris arbeitet in der Küche und hat wegen des vollen Cafés alle Hände voll zu tun und keine Zeit, was man seiner Freundlichkeit indes nicht anmerkt. „Morgen kommt nach langem Warten die neue Nick Cave heraus“, sagte er noch schnell und bringt Teller mit Fladenbroten an die entsprechenden Tische. Guter Tipp. Hinaus in die Sonne, die den achteckigen Innenhof fröhlich aufhellt, und die trotz der Minusgrade wärmt.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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