Donnerstag, 21. März
Ein seltsamer März. Obgleich deutlich länger als noch der Februar, lässt er mir ebenso deutlich weniger Freizeit als jener. Nach weniger Winter sieht er auch nicht aus, aber mit dem Thema sollen sich andere beschäftigen, das kauen zurzeit genügend Leute durch, die nichts Wichtigeres im Leben haben als Schnee zu Ostern. Wegen der wenigen Freizeit jedenfalls war ich im März viel zu selten im Café Riptide. Viel zu selten.
Einmal fragten Maren und Arni, ob ich sie begleite, ich hatte aber bereits eine andere Verabredung und sagte immerhin für den kurzen Moment dazwischen zu. Wie es sich gehört, traf ich auf dem Weg Micha, der gerade Poster verteilte, für den Poetry-Slam-Städtewettkampf, den Pott im Rahmen der städtischen 1913-Veranstaltungen ausrichtet, bei dem Slammer aus Hannover gegen Slammer aus Braunschweig antreten. Wenn man mit Micha im Auftrage seiner Dienstherren unterwegs ist, bekommt man einen ganz neuen Blick auf Geschäftseingangstüren. Überall hätte Platz für ein Plakat gewesen sein können. Wenn andere nicht schneller gewesen wären. Oder Micha nicht schon längst selbst da gewesen. So schlenderten wir ins Riptide, und natürlich saß Serge am Fenster in der Rip-Lounge, seinen Laden stets im Blick und jemanden bei sich, am PC sitzend, rauchend, redend. Serge und seine Begleiter sind immer einladend für langes Verweilen, aber Maren und Arni waren inzwischen auch da, gegenüber im Café auf dem Sofa, und Micha und ich setzten uns dazu. Zumindest kurz. Wir sprachen darüber, wie man den Titel eines Filmes herausbekommen kann, von dem man nur einen Ausschnitt kennt, von früher aus dem Fernsehen etwa. Maren erzählte von einem Film, den sieh sah, der einen Drogentrip in der Wüste zeigte, den ein Mann hatte, der von einer Frau ins Krankenhaus gebracht wurde und die dafür nicht mal so recht Dank annehmen wollte. Google habe beim Eingeben der Beschreibung keine brauchbaren Treffer gezeigt. Kam mir bekannt vor, diese Beschreibung, aber eher wie ein Musikvideo. Oder so. Ein Kurzfilm. Von Wim Wenders. Klare Farben. Flirrende Drogeneffekte. „Ja, genau“, rief Maren. Eine Kurzfilmsammlung, wie „Ten Minutes Older“. „Ach, von dir hatte ich den ausgeliehen“, stellte Maren fest. Muss so gewesen sein. Ein Blick auf die DVD bestätigt die Assoziation zu Hause. Micha erzählte von einem Film, in den er drei Jahre zuvor im Fernsehen zufällig hineingeschaut hatte, der völlig abstrus gewesen und dessen Titel im Abspann nicht gezeigt worden war. Drei Jahre später habe der Film als DVD einer Zeitschrift beigelegen, „Symbol“, ein japanischer Film über einen Raum, in dem jemand gefangen war, und an dessen Wänden Putten erschienen, deren Penisse, wenn man sie drückte, andere absurde Gegenstände in dem Raum erschienen ließen, etwa einen Kaktus. Ich frage Micha, warum er denn nicht einfach auf Videotext geguckt habe, während der Film noch lief. Er stutzt und lacht laut: „Daran habe ich nicht gedacht.“
Ein anderes Mal wollte ich wenigstens meine eingetroffene Bestellung abholen. NoMeansNo veröffentlichten nämlich nach ihrem bis dato letzten Album „All Roads Lead To Ausfahrt“ aus dem Jahr 2006 zwei 12“es, schlicht betitelt mit „Tour EP 1“ und „Tour EP 2“, 2010 und 2011, und – der Titel verrät’s – ausschließlich auf Touren erhältlich. Nun sind die Rentner aus Kanada dieser Tage nicht mehr allzu oft unterwegs, und also muss man andere Quellen finden, die EPs zu finden, und das war gar nicht so einfach, weil die Dinger sehr sehr sehr limitiert sind. Von der ersten gab es ein Reprint namens „Old“, das erwarb ich glücklicherweise zu einem fairen Preis über einen Onlineversand in England. Die zweite gab es nicht mal überteuert überhaupt irgendwo angeboten. Wie das so ist bei Sammlern, guckte ich gelegentlich auf meinen Standardinternetseiten, ob sich da etwas in Sachen „EP 2“-Verkauf tat. Und las zu meiner Überraschung, dass die tatsächlich nur wenige Tage nach dem jüngsten Nachgucken bestellbar sein sollte, ebenfalls als Reprint, unter dem Titel „Jubilation“. Das Riptide, wie so oft, half, und bald hatte ich die erfreuliche Email im Kasten, die 12“ sei da. Und also holte ich sie ab und wollte eigentlich auch eine Weile im Riptide bleiben. Schließlich bot es sich an, denn mit einer NoMeansNo-EP vor mir war ich offenbar ansprechwürdig, für einen Gast, der eigentlich seine Getränkerechnung begleichen wollte, auf die EP schielte und anerkennend „NoMeansnNo“ sagte. Er erzählte dann seinem Begleiter, Chris und mir von – ich glaube – den Dropkick Murphys. Jedenfalls mit derselben Anerkennung vor alten Männern, wie er sie gegenüber den alten Männern von NoMeansnNo auch zeigte. Eine teilbare Haltung. Als ich dann auch ging, überholte ich ihn und seinen Begleiter im Handelsweg, und wie es bei Fremden mit gleicher Neigung ist, man ist sich nicht lange fremd, und er rief mir „viel Spaß beim Lauthören“ hinterher. Solche Leute trifft man an Orten wie diesen. Die EPs laut zu hören, lohnt sich auch, und das, obwohl NoMeansNo offenbar altersbedingt langsamer geworden sind, aber nicht weniger wuchtig, und irgendwie machen sie heute mehr denn je progressiven Punkrock.
Gegangen war ich nur deshalb so schnell wieder, weil ich per Telefon eine der tollsten Einladungen des jungen Jahres erhalten hatte: Ein befreundetes Paar hatte ein Kind bekommen und ich durfte die drei beim Spaziergang durch den Park begleiten. Kinder anderer Leute sind toll. „Es tropft, es ist deins, nimm du’s.“ Wir drehten eine Stunde lang eine Runde durch den Park, das war der Moment, als man noch glaubte, der Frühling käme, bevor also das Schneechaos zurückkehrte.
Tja, aber dann blieb die Zeit fürs Riptide für mich erst so richtig aus. Ich verpasste die Lesung „Tiere streicheln Menschen“, die Sound-On-Screen-Ausgabe mit „24 Hour Party People“ und überhaupt die ganzen schönen Momente im Riptide. Ich feierte nicht einmal in den St. Patrick’s Day hinein. Aber heraus, im Wild Geese, das war wieder großartig dort. Wie Schepper vorab bemerkte, ist St. Patrick’s Day „das Fest, bei dem die Iren Kürbisse ausblasen“. Und wie.
Es gibt ja nun aber immer auch mal einen Grund, im Riptide anzurufen, zum Beispiel, um eine Schallplatte zu bestellen, das soll mal vorkommen, auch bei mir. Dann verpasse ich zwar die guten Burger, das kühle Bier und die schönen Begegnungen, wenn ich nicht persönlich erscheine, habe aber zumindest André oder Chris am Apparat. Chris dieses Mal. Im Stress, zwischen Büroarbeit und Kundschaft, und doch so hörbar strahlend schwärmend von dem, was ich verpasste, etwa die Party nach „24 Hour Party People“, mit einem DJ aus Berlin. Dessen Set hätte mir gefallen, mutmaßt Chris, „man kannte vier Stücke, der Rest war alles Dark-Wave-Zeug, der sammelt sowas“. Und zwar das alte Zeug, nicht das gleichförmige moderne. Ja, da hätte ich sicher Freude dran gehabt.
Vielleicht schaffe ich es ja zum Record Store Day am 20. April. Die Liste der Sonderveröffentlichungen liest sich mal wieder gigantisch, so viel Zeug, das einem die Sammlung versüßt, wenn man es denn bekommt, da ist im Riptide sicher wieder eine Menge los, ein Riesenandrang, wie im vergangenen Jahr, als ich auch keine Zeit hatte, na ja, es muss ja mal klappen. Denn „wir sind offizieller Teilnehmer“, sagt Chris, „einer der ausgesuchten Plattenläden in Norddeutschland, da dürfen ja nur kleine Plattenläden mitmachen“. Und das Riptide ist darin ganz groß.
Groß auch als Label, das etwa das neue Album vom Roskinski Quartett herausbringt, „Roskau“, „das wird etwas Besonderes“, sagt Chris, nämlich eine Veröffentlichung ausschließlich auf Vinyl, nicht auf CD, wie es auch das Album „Röhrenstrom“ von Grass Harp war, damals zu einer Zeit, als von LPs niemand mehr sprach, oder noch niemand wieder. Die „Roskau“-LP gibt es mit Download, „oder nur als Download, aber nicht als CD“, betont Chris. Auf Riptide Recordings veröffentlichen auch Just A Pilgrim, deren Sänger Björn Bleicher ich kürzlich zufällig im Wolfsburger Kulturzentrum Hallenbad kennenlernte. Da trat er solo beim zweiten Singer-Songwriter-Festival „Abtauchen“ auf und erzählte das zufällig. Erbsenwelt mal wieder.
Alles neu macht der April, kündigt Chris an. Neu sind zum Beispiel die Öffnungszeiten: „Die werden wir komplett nach hinten schieben“, sagt Chris, „wir werden jeden Tag erst um 12 Uhr aufmachen.“ Davon versprechen sich Chris und André „einiges“, sagt Chris, zum Beispiel könne er dann vormittags in Ruhe Büroarbeit machen. Geöffnet hat das Riptide dann montags bis samstags, der Sonntag bleibt seit September Ruhetag. Und: „Wir kriegen dann eine komplett neue Speisekarte, mit ein paar neuen Sachen und ein paar Sachen weg.“ Getränke und Kleinigkeiten gebe es dann neu, etwa „eine schöne geile Biolimonade mit einer neuen Geschmacksrichtung, die wir noch nicht hatten“. Anstatt weiterzusprechen, lässt er mich warten. „Soll ich’s verraten?“, fragt er. Ich bin viel zu neugierig, um Nein zu sagen. „Von Voelkel eine Himbeerlimonade, was Seltenes, und ich steh drauf.“ Kann ich verstehen, als ich im November in Kopenhagen war, probierte ich im Café Lyst eine Bio-Himbeerlimonade, von der Ebeltoft Gaardbryggeri die Hindbærbrus. Das war beeindruckend lecker. Und süß. Bio-Limonaden gibt es droben auch eine Menge, zum Beispiel schenkte man mir im Beboerhus eine Øcola aus. Erstaunlich, dass es kein Komplementär dazu in Deutschland gibt, das Wortspiel ist doch so naheliegend. Aber zurück zur Himbeere: „Als Obst find ich’s den Knaller“, schwärmt Chris, „weil’s so weich ist und so geilen Geschmack hat.“ Auf die Karte hat es auch ein alkoholfreies Getränk geschafft, das weder mit „Longdrink“ noch mit „Cocktail“ treffend zu umschreiben ist, „das ist ein Sonnenknaller mit frischer Minze und Zitrone und heißt Mintcooler“, sagt Chris. Das Speiseangebot erweitert sich um den Hawaii-Burger, mit Ananas. Der ist aber nicht ganz neu im Hause Riptide: „Im ersten Dreivierteljahr hatten wir den schon“, erzählt Chris. Damals war der aber noch nicht so begehrt, „da wurden zehn Burger die Woche bestellt, heute sind es zehn am Tag“, und da ist die Chance für den Hawaii-Burger zurückgekehrt. Von der Karte geflogen ist die Marke Bios, und „von Bionade haben wir nur noch Holunder, wir haben lieber verschiedene Sachen im Angebot, Spezi ist ja auch dazugekommen“, sagt Chris. Er überlegt eine Weile und stellt dann fest: „Sonst geht kaum was raus.“
Rein indes sind drei neue Bedienungen gekommen, „wir haben zwei Herren und eine Dame eingearbeitet“, sagt Chris, und zwar Milena, Frederik und Marius. Mich haben sie auch schon bedient, freundlich wie alle, sie passen gut. „Kunden“, ruft Chris jetzt in den Hörer, die kurze Pause zwischen Büroarbeit und Bedienen ist um, wir verabschieden uns voneinander. Ob ich morgen einfach mal nach Feierabend vorbeischaue? Doch da liegt so viel an: „Eiko Goes Loud“ in der früheren Schweinebärmannbar und „Kopf und Kragen“ in der KaufBar, Braunschweigs neue Lesebühne, von Marcel Pollex, der noch zwei Wochen zuvor am selben Ort die andere Lesebühne, die „Bumsdorfer Auslese“, zu Grabe tragen half. Habe ich leider auch verpasst. Bald ist Ostern, da findet sich hoffentlich mal wieder Zeit fürs Riptide. Ich bin gespannt auf die Himbeerlimonade.
Matze Bosenick
www.krautnick.de