#73 Rutschig geboren

Montag, 18. November 2013

Unerbittlich zeigt sich der November von der Seite, von der man ihn von Geburt an kennt: grau und feucht. Das ist unschön, aber es gibt ja schöne Gegenmaßnahmen, und sei es nur, sich einmal mehr auf ein Heißgetränk ins Riptide zu setzen. Ich stelle meine Carhartt-Papiertasche am Tresen ab, und Jasmin auf der anderen Seite des getränkespendenden Möbelstücks ist sofort neugierig, was ich darin habe. Meine frischen Einkäufe von den Boardjunkies, die sich längst schon zum Ausstatter meines Vertrauens mauserten: Jacke wie Hose, beides dort erworben. Die Jacke hält mal anders warm als meine bisherigen Winterjacken und hat im Außenmaterial einen nicht geringen Baumwollanteil. Das ist mir wichtig, weil ich es nicht leiden kann, wenn Kleidung Krach macht. Und ein Reißverschluss ist mir auch lieber als nur Knöpfe wie bei einer meiner bisherigen Standardjoppen. „Da zieht es wahrscheinlich durch“, mutmaßt Jasmin, aber das kann ich weniger bestätigen als den Umstand, dass ich geknöpfte Jacken schlichtweg komplizierter zu bedienen finde. Jasmin hat andere Erfahrungen gemacht und deutet pantomimisch an, wie sich ein Reißverschluss in ihrem Halstuch verhakt: „Ich war eingeklemmt“, berichtet sie, „André musste mich befreien.“

André ist eben nicht da, er kam mir vorhin im Handelsweg entgegen. Aber Chris rumort dort, wo sich bis vor kurzem noch das Büro befand. Sie haben jetzt ein neues, aber das ist nicht das einzige Neue heute: Das Sofa im Café ist kleiner. Einige Stühle fehlen, sie sind ersetzt durch kubisches Loungemobiliar, ähnlich dem, das es bereits in der Ecke am großen Fernsehfenster gab. Dort hängt zudem ein dickes Gemälde, ein Riesenschinken, mit einem offenbar mitternächtlich illuminierten Hirsch darauf, trotz veränderter Farbgebung ganz eindeutig ein Wolfenbütteler Sujet. „Tobias Meyer hat das gemalt“, erklärt Chris. Tobias ist ein Illustrator, Grafiker und eindeutig auch Maler aus Braunschweig, und der antike Rahmen seines Werkes wiegt laut Chris zehn Kilo. Das neue Mobiliar wurde aus zwei Gründen nötig: Einige Stühle waren nicht mehr tragbar, besser: tragend, und auf den in den Raum gestreuten weißen Loungequadern lassen sich mehr Personen unterbringen als auf einzelnen Stühlen. Besonders jetzt, da kaum noch jemand draußen sitzt, der Bedarf an Sitzplätzen aber gleich groß ist wie im Sommer, sei das wichtig. Wenn etwa der Veganstammtisch oder Scheppers Bassrunde sich gruppieren wollen, finden die Teilnehmer mehr Sitzfläche. Und das Sofa sei kaputt gewesen, sagen Chris und Jasmin gleichermaßen überzeugt. Das fand ich gar nicht, als ich mich noch vorgestern dort hineinlümmelte. Doch sie insistieren. „Jetzt ist es im Nexus“, sagt Chris. „Das ist schon das sechste Sofa, das ich dort hingegeben habe.“ Na klar, das passt, und gut zu wissen, ich werde mich dort wieder hineinlümmeln können.

Dennoch schade drum. Am Samstag saß ich noch mit Micha dort, „wie ein Liebespaar“, wie Jasmin sich erinnert, und eigentlich nur auf jeweils einen Burger und eine Fritz-Kola, denn wir hatten beide jeweils noch etwas vor am Abend. Er wollte zum Beat Box Contest im Kleinen Haus, initiiert unter anderem von Patrick Dudek, dem Michael-Jackson-Tanzlehrer, den ich kurz nach der Eröffnung im Riptide mal kennen lernte. Ich wollte in Das Kult, da war ich davor noch nie. Bis dahin sollten es tiefe Gespräche und ebensolche Getränke für eine kurze Weile sein, doch als wir uns da so lümmelnd ins Sofa verankert austauschten, etwa über die beiden Filme, die wir beim Filmfest zusammen sahen, nämlich „Post Partum“, den wir nur so mittel fanden, und „Henri“, der zumindest mir sehr gut gefiel, Micha immerhin gut, gesellten sich immerzu andere Freunde und Bekannte zu uns, erweiterten unsere Horizonte und versüßten unsere Zeit, so dass wir sie bis zum jeweiligen Veranstaltungsbeginn dort verbrachten. Serge etwa brachte mir sein neues Buch vorbei, für das Ferdinand die Illustrationen gestaltete. „Die Gesichter der Frauen“ heißt es, mit dem Zusatz: „Liebesgeschichten“. Der Blick in die Seiten zeigt, wie kunstvoll die Kooperation aussieht: Satz und schwarzweiße Grafik schmiegen sich aneinander, es lädt sofort zum Schmökern ein. „Edition Jakobsleiter“ steht unten als Verlagsname. Jakob als Namensgeber? Beide bestätigten das, Jakob war nämlich gerade bei Serge. „Ich hab noch einen Musiktipp für dich“, sagt Jakob, bevor mich Serge über das Buch informiert. „Carpet, die machen Progrock mit Jazz.“ Eine recht neue Band, sagt Jakob, und sie veröffentlicht auf dem Label Elektrohasch, das auch die Alben von Colour Haze herausbringt.

Serges Buch zeigte ich sofort überall vor. Den Leuten vom Silver Club, die ab und zu hereinschneiten, denen vom Eiko-Verein und auch den anderen, die sich zu Micha und mir an den Tisch setzten. Einhellige Meinung: Das Buch sieht wertig und ansprechend aus. Zu haben ist es natürlich beim Ersteller selbst, in seinem Laden neben dem Riptide. Daran gingen wir dann Stunden später vorbei, denn irgendwann war es doch dunkel und zu spät, um noch zu Hause etwas zu erledigen, bevor es ans Abendprogramm ging. Wir trennten uns nicht ohne gepflegte Wortwitzeleien. Vermutlich bei dem Versuch, einen der nächsten Sound-On-Screen-Filme zu beschreiben, ließ Carsten die Genrebezeichnung „Drummer-Drama“ fallen. Solche Sprachspiele hörten an dem Abend nicht auf, später, nach „Der Untergang“, der höchst beeindruckenden multimedialen Lesung der neuesten Okergeschichte von Hardy Crueger im Das Kult mit Roland Kremer, Schepper und Das-Kult-Chef Thomas Hirche als Vorprogramm, rief uns Stefan die die Zunge herausfordernde „Tsunamiszene“ in Erinnerung. Und trumpfte dann noch mit dem „Buddhistischen Standesamt“ als Verdrehung des Statistischen Bundesamtes auf. In eine solche Kerbe hieb kürzlich auch Arni: Ein handgeschriebenes großes X interpretierte ich fälschlich als gekreuzte Schwerter, und er sagte: „Na, besser als geschwärzte Kräuter.“ Zumindest phonetisch hübsch war kürzlich die angekündigte Essensentscheidung eines Besuchers bei mir zu Hause: „Ich kokettiere mit Kroketten.“

Während ich meinen Milchkaffee trinke und mit Jasmin plaudere, füllt Marco das Petroleum in die Fackeln im Achteck und befasst sich Max als neuer Schulpraktikant mit seinen Aufgaben, die er in der Küche zu erledigen hat. Chris rafft einige Dinge zusammen, die er in seinem neuen Büro braucht, drückt mir Locher und Zettelhalter in die Hand und weist mir den Weg in die administrativ genutzten Räume. Die befinden sich gegenüber, ein Stockwerk über dem Riptide und mit Blick darauf. „Endlich Tageslicht“, atmet Chis auf, als er sich auf seinen neuen rückenschonenden Chefsessel wirft. „Und Lager, Lager, Lager“, fügt er mit einer Handbewegung in die entsprechende Richtung hinzu, was ich um ein „shouting“ ergänze, obwohl Underworld in „Born Slippy“ natürlich das Bier meinten. Das Büro im Riptide selbst war mit der Zeit einfach zu eng geworden, die verwaltungsbezogenen Aufgaben häuften sich an, der Papierkram ebenso. „Wir sind gewachsen“, sagt Chris, „es ist mehr geworden.“ Auch für geschäftliche Gespräche sei es in manchen Fällen besser, diese nicht mehr wie bislang mitten unter den Gästen führen zu müssen. Der Raum hat auch Bad und WC, eine Kochnische und alle erdenklichen sonstigen Annehmlichkeiten. Offen ist, was mit dem alten Büro geschieht: „Wahrscheinlich wird es Getränkelager.“ Ausschließlich oben im neuen Büro können und wollen Chris und André nicht bleiben, schließlich fehlen sie dann unten als Schallplattenberater, als Ansprechpartner für Mitarbeiter und Ähnliches. „So viel Arbeit haben wir auch nicht, dass wir acht Stunden täglich hier sein müssten“, sagt Chris. Er atmet tief durch: „Aber es tut einfach gut.“ Auch, wenn noch einiges einzurichten ist.

Ich richte mich darauf ein, allmählich den Rückweg anzutreten. Das neue Album von Sebadoh nehme ich noch mit, das gibt es in der Version mit zwei Bonus-Tracks, die dem Album als 7“ beliegen und die auch im Downloadcode enthalten sind. Ein Grund, das Album jetzt mitzunehmen, ist das Interview im Musikexpress, in dem Bandchef Lou Barlow so sympathisch wirkte. Na ja, und weil ich ohnehin von Sebadoh einen ganzen Satz Alben habe – es wäre also ohnehin fällig gewesen. Auch so lässt sich ein grauer und feuchter November ertragen: mit neuer Musik zu Hause, und dabei lesen, vielleicht gleich mal das Buch von Serge oder die neuesten Einträge Steffis Kult-Tour-Blog.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

2 Kommentare

  1. Ich vermisse Euer „themenbezogenes Frühstück“, das Ihr vor einigen Jahren mal hattet. Wäre das keine Idee, das mal wieder aufleben zu lassen?

    Herzliche Grüße,

    Kati

    • hallo kati….

      die themenbezogenen frühstücke gibt es in der tat leider nicht mehr. wir haben seid geraumer zeit sonntags geschlossen…. die idee haben wir allerdings nicht aus dem kopf, wer weiss… eines tages vielleicht… wir können nichts versprechen….

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