#76 Reise zum Metalpunkt der Erde

Freitag, 28. Februar

Eigentlich ist erst in drei Wochen Frühling, aber der Februar gibt schon seit Tagen vor, mindestens April zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass da kein Dickes Ende mehr kommt. Weiße Pfingsten etwa. Wenn schon kein dickes Ende, dann kommt zurzeit ganz viel anderes, nämlich haufenweise neue Musik, heute zum Beispiel von Beck und Neneh Cherry, endlich auch der Soundtrack zu „Only Lovers Left Alive“, und schon vor ein, zwei Wochen warfen The Notwist und Les Claypool neue Alben auf den Markt. Man kommt ja gar nicht mehr hinterher. Fies! Und fast alle dieser Alben stehen im Riptide herum. Und dazu noch viele andere höchst interessante Sachen, mein virtuelles Bestellungsfach quillt außerdem über.

André kredenzt mir den wintergemäßen Kafka, der wirklich seine Wunder wirkt, auch im Nichtwinter. Bis auf den neuen Schülerpraktikanten Leander, der gerade außen an den Fenstern die Karriereleiter erklimmt, ist André an diesem Freitagmittag zunächst allein im Café. Von der neuen Beck schwärmt er. Zufällig hörte ich sie schon gestern, als ich in Hamburg in der Schanze bei Zardoz war, einem Plattenladen, in dem sie im Hintergrund lief. Mir kam sie, freundlich gesagt, sehr entspannt vor, verglichen mit dem vorletzten Album „The Information“, für mich eines der besten Beck-Alben überhaupt, sogar eher langweilig. Der Schallplattenhändler schwärmte indes nicht minder davon als André jetzt. „Passt doch zur Stimmung“, sagt er, und hat damit leider recht. Zurzeit ist es für viele um ihn und um mich herum recht dunkel.

Weg mit den Wolken. Marco schleppt unablässig Getränkekisten ins Café, und zwar an den Platz hinter der Theke, an dem zuvor noch das Büro untergebracht war. Es ist jetzt zu einer Art Zwischenlager geworden. „Nur das, was an dem Tag voraussichtlich verbraucht wird“, sagt Marco, stelle er dort ab. Das sei üblich im Gastro-Betrieb, den Mitarbeitern auf diese Weise die Wege zu verkürzen. Er tippt auf die leere Wolters-Kiste in seiner Hand, die er mit nach draußen nehmen will, sagt: „Ich muss noch was tun“, und geht wieder.

Die Tür zum Café öffnet und schließt sich unablässig. Der Raum füllt sich, auch im Achteck draußen sitzen Leute, und regelmäßig kommen Gäste aus der Rip-Lounge herüber und rufen André ihre Bestellungen zu. „Drei Kaffee und einen Bagel“, „Moin, machste mir ’nen Tee?“, Tür wieder zu, und immer erfüllt André diese Wünsche. Auch die, die offene Rechnung bezahlen zu wollen, wie Munir grad. André guckt auf den entsprechenden Zettel und fragt eher als Witz: „Was ist deins – oder lädst du ein?“ Dabei war es für Munir klar: „Ich lade ein.“ Beim Blick über die Thekenauslagen entdeckt er die Stempelkarte für den gesteigerten Kaffeekonsum, und André offeriert: „Du kannst eine anfangen, wenn du magst.“ Munir nimmt sich eine und sagt beiläufig: „Jaaaa – für die zwei Mal im Jahr, die ich in Braunschweig bin.“ Aus Köln ist er angereist, einen Freund zu besuchen, den, für den er die Rechnung mitbeglich. Dann hat er sich ja direkt das Etablissement mit dem größtmöglichen Großstadtflair in Braunschweig ausgesucht, stelle ich fest. „Darum geht es nicht“, stellt Munir allerdings klar. Denn: „Das ist auch ein ganz gemütlicher Laden.“

Das rhythmische Quietschen hat aufgehört, Leander unterbricht also das Fensterputzen für seine Mittagspause. Er holt sich einen Teller und legt sein Paket mit in Alufolie eingepackten Broten darauf, die er jetzt auswickelt. Extra aus Seesen kommt er täglich mit dem Zug angefahren, um hier sein dreiwöchiges Praktikum zu machen, „ich bin seit Montag dabei“. Ursprünglich hatte er sich bei der Polizei beworben, doch musste er das Praktikum aus Termingründen wieder absagen. Seinen Musiklehrer fragte er, ob der nicht etwas wüsste, wo er etwas „mit Musik und Platten“ machen könnte. Der Lehrer empfahl ihm dann unter anderem das Riptide. Und da ist er jetzt. Interessanter Musiklehrer, nebenbei. „Der ist noch relativ jung und interessiert sich für so etwas“, sagt Leander. Beispielsweise habe er einmal seinen Wahlpflichtkurs Musik mit ans Staatstheater Braunschweig zu einer Orchesterprobe genommen. Mit Schallplatten kam Leander über seinen Vater in Berührung: „Der hat 850 Platten und war früher selber mal DJ.“ Aufgelegt habe der Vater in Göttingen in Discos. „Und er hat mit zwei Freunden zusammen selber Boxen gebaut.“ Zwei davon hat Leander selbst zu Hause: „Das ist eine Riesenanlage, voll cool.“ Für ihn selbst sind das Abitur und ein Studium die mittelfristigen Ziele, aktuell freut er sich aber über den Job im Riptide. Zwar seien seine ersten Aufgaben eher reinigender Natur, doch: „Im Service habe ich ab und zu Bestellungen aufgenommen und serviert“, strahlt Leander. Man merkt, dass er daran Spaß hat. An das Thema Schallplatten soll er wohl am Montag herangeführt werden: „Da freue ich mich schon drauf.“ Er selbst hört Underground-Hip-Hop aus Berlin, „keinen Mainstream“, und zwar Morlock Dilemma und Hiob, „das sind meine Faves“, und DJ Suff Daddy, den er „ßaff däddi“ ausspricht. Anders also, als ich es instinktiv immer tat. Die letzten Krümel vom Brot sind vertilgt, die Pause ist vorbei. Er schlängelt sich an Marco vorbei, der gerade eine Kiste Astra bringt, und geht mit ihm zu André in die Küche.

Während André – um sie durchzulassen im Küchendurchgang – eine Tüte mit Lebensmitteln öffnet, sieht er Corinna die LPs durchsuchen. „Ich bin gleich bei dir, wenn du mich brauchst“, ruft er ihr über die Theke hinweg zu und kehrt in die Küche zurück. Dadurch verpasst er Frank, der gerade von draußen herein kommt und schnell noch etwas bestellen möchte. „Die Suppe war verdammt gut“, berichtet er mit Nachdruck. Eine Paprika-Tomatencreme-Suppe ist es in dieser Woche. „Ich schwör“, fügt er lachend hinzu und blickt sich um: „Das sieht alles gut aus hier.“ Auch wenn es so wirkt, sein erster Besuch im Riptide ist dies nicht: „Ich habe ab und zu mal abends hier gesessen.“ Jetzt kommt André und Frank kann sein Fladenbrot bestellen. Und Corinna hat tatsächlich eine Frage an den emsigen Händler: „Habt ihr noch die Platte von den Libertines?“ André kurvt um die Theke herum: „Die müsste noch da sein, ‚Up The Bracket‘?“ Corinna bejaht. „Die müsste im Fach sein, die war vor kurzem noch da.“ Sie gucken zusammen im entsprechenden Fach nach, jedoch beide erfolglos. André verspricht: „Die kommt wieder rein.“ Etwas gefunden hat Corinna trotzdem: „Substance“ von New Order als gebrauchte Doppel-LP. Vermutlich das einzige New-Order-Album, das mir selbst noch fehlt. „Temptation“ und „Ceremony“ sind die Stücke, die sie besonders hervorhebt: Der Rest sei ihr zu typisch 80er, und wenn, dann bevorzuge sie ohnehin Joy Division. Das verstehe ich, aber gerade New Order gehören zu denen, die in den 80ern guten Synthiepop machten. Wir finden in der Tracklist der LP noch einige dies bestätigende Beispiele. „Aber ich stehe zurzeit auf 60er, die Kinks“, sagt Corinna, „und 90er, die Libertines.“ Sie sinniert: „Die Engländer machen die beste Musik, Punk und Rock.“ André nimmt den entsprechenden Betragt für die LPs entgegen und verspricht, dass er ihr eine Mail schickt, sobald ihre Bestellung da ist.

Es ist mal wirklich ziemlich voll im Café. Nett, eine Kundin sitzt allein auf dem Sofa und liest ein Buch, augenscheinlich vergnügt. Ein Baby quietscht nicht minder vergnügt. An einem Tisch sitzen Leute um einen aufgeklappten Laptop herum und sprechen Englisch. „Ich spreche kein Russisch, sie kein Deutsch“, erklärt Maik schulterzuckend, als er kurz zum Bestellen an die Theke kommt. „Also sprechen wir Englisch.“ Maik ist der Kopf der Braunschweiger Ortsgruppe von Peer Leader International, einem „entwicklungspolitischen Netzwerk in Deutschland“, wie er erklärt, das Bildung von Jugendlichen für Jugendliche anbietet und mit verschiedenen Partnern zusammenarbeitet. Die Leute an seinem Tisch kommen aus Weißrussland, der Kontakt kam über die dortige Organisation АСДЕМО – Asdemo – zustande, der wiederum über Janun lief, die gemeinsame Jugendorganisation von Nabu und BUND in Niedersachsen. „Wir bereiten eine Reise nach Weißrussland vor“, erklärt Maik. Thema ist Atomenergie und deren Gefahren, denn die Jugendlichen an seinem Tisch kommen aus Gomel (Гомель), das in der Nähe der Ukrainischen Grenze liegt und 1986 nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl einiges an Strahlung abbekam. „Sie besuchen uns und erzählen, wie es dort aussieht“, sagt Maik. Damit bereiten sie den Weg für die Braunschweiger Jugendlichen, die im April den Gegenbesuch vorhaben und dort zum Thema Energiewende, Fukushima und lokalen Problemen diskutieren wollen. Maiks Gäste warten auf ihn, er gibt schnell seine Bestellung auf und kehrt an seinen Platz zurück.

Andrea, Tuija und Lina stehen auf und kommen zum Bezahlen an die Theke. Tuija entdeckt dabei den Aufsteller mit den Drei-Fragezeichen-Kassetten und nimmt staunend die neue Dreifach-Folge „Das Rätsel der Sieben“ vom Stapel. Die Dreifach-Picture-LP dieser Kurzgeschichten-Folge gehört zu den Bestellungen, die noch unabgeholt im Riptide für mich bereit liegen. Andrea, nach eigener Aussage „fast 50“, sowie die zu „Master Of Chess“-Zeiten noch Minderjährigen Tuija und Lina sind große Drei-Fragezeichen-Fans. „Wir haben Tickets für den 2. April“, sagt Andrea. Da sehen wir uns dann wohl wieder: Die Original-Sprecher kommen nämlich mit ihrer dritten Tour „Phonophobia“ auch nach Braunschweig. Die beiden anderen Touren, eben „Master Of Chess“ und „Der seltsame Wecker“, erlebten die drei Fans ebenfalls live. „Bei ‚Master Of Chess‘ war ich noch klein, das habe ich in Bonn gesehen“, sagt Tuija. Seit neun Jahren wohnen sie in Braunschweig, vorher in Remagen, da war Bonn das Nächstgelegene. So alt ist „Master Of Chess“ schon? Andrea bestätigt das und erinnert sich, dass die Show damals in Bonn in einem großen Zelt lief. Bei Andrea war es mit den drei Detektiven so wie bei vielen, die heute über 40 sind: Irgendwann entdeckte man seine alten Kassetten wieder und kam erneut auf den Geschmack. Andrea kaufte die Episoden dann auf CD wieder, auf Flohmärkten oder, sie zeigt auf die beiden Jugendlichen neben sich, „wenn mal ein Zahn raus war“. Zu hören bekamen sie die Folgen dann insbesondere im Auto, und da Andrea selbst nie eins besaß, war das immer nur im Mietwagen im Urlaub, „auf Mallorca“, wie Lina anführt. Die Dreifach-Kassette legen sie zurück, Andrea begleicht die Rechnung für alle drei. Für sie war es der erste Besuch im Riptide. Für Tuija nicht: „Ich war schon öfter hier.“ Andrea schließt: „Ich komme wieder.“

Mit meinen Bestellungen unterm Arm gehe ich jetzt auch, komme aber nicht weit, da im Achteck an einem Tisch unter anderem Corinna und Jakob sitzen. Jakob erzählt mir, dass Uwe und Katrin bei Raute wohl bald die Wiederveröffentlichung des ersten Colour-Haze-Albums bekommen. Auf dem Rückweg schaue ich bei ihnen vorbei. Sie haben zurzeit eine Musikbox aus dem Jahr 1967 zum Verkauf bei sich stehen. Sie ist mit 100 Singles bestückt. Wir drücken diverse der altertümlichen Tasten und entlocken dem wundervollen Gerät die wenigen Perlen inmitten des typischen Jukeboxmülls, etwa Judge Dread, Hamilton Bohannon, Cindy & Bert, Mike Krüger und Torfrock. Katrin lässt mich immer wieder einen Blick auf die Technik im Inneren der Box werfen, die anspringt, wenn man einen Song auswählt, die große Spindel mit den Singles rotieren lässt, mit einem Arm nach der Gewählten greift, sie auf den Plattenteller legt und den Arm darauf herabsenkt. Faszinierend. Ein amerikanisches Modell, dass nur Belgische Francs fraß, wie Uwe erklärt. Zum Abschied hat er noch eine Weisheit für mich: „Der Generationenvertrag ist neu verhandelt“, sagt er. „Gebt der Jugend mehr zum Saufen, damit die Alten mehr Flaschenpfand zum Sammeln haben.“

Ach ja. So schön schlagfertig war Philipp kürzlich, als wir in einer großen Gruppe um Serge herum in der Rip-Lounge saßen und standen und diskutierten. „Wem gehört der Kaffee, der hier kalt wird?“, erkundigte sich Serge nach einer mittelgroßen Lachsalve. „Mir“, sagte Philipp. Serge behauptete, sich wiederholend: „Der wird kalt.“ Philipp widersprach: „Der reift, der zieht Luft.“ Wortspielerisch wiederum ging es jüngst bei einer Geburtstagsfeier zu. Arni sprach von der „Reise zum Metalpunkt der Erde“, und Jörg fragte: „Wo ist das, Wacken?“ Die Pointe nach der Pointe hörte ich ein andermal bei einer Party, als Jogi Axel und mir einen Witz erzählte. Der ging so: Ein Bänker, ein Bild-Leser und ein Asylant sitzen an einem Tisch, in der Mitte eine Schüssel mit zehn Keksen. Der Bänker isst neun und sagt zum Bild-Leser: „Pass auf, der Asylant will deinen Keks.“ So weit, so gut, doch Axel rief laut aus: „Jetzt verstehe ich ihn! Toddn hat vorhin die ganze Zeit versucht, mir den Witz zu erzählen.“

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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