Samstag, 24. Mai
Wenn man dieser Tage am Tage durch den Handelsweg geht, kreischen wieder die Schwalben zwischen den Dächern. Sie haben einen erstaunlichen Effekt: Strahlen sie selbst eigentlich eher Hektik und Nervosität aus, in ihrem lautstarken Bestreben, sich zu ernähren und damit ihr Überleben zu bewerkstelligen, flößen sie mir damit als Untensitzendem Ruhe ein. Zumindest an den Tagen, an denen ich nicht selbst für meine Nahrung sorgen muss, sondern entspannt im Riptide-Achteck Getränke und Speisen einnehmen kann.
Dieser Tage ist der Donnerstag, immer eine kurze Weile vor dem Schichtwechsel zwischen Schwalben und Fledermäusen, ideal, um durch den Handelsweg zu streifen. Es dämmert spät, ist schon angenehm warm, und es ist entsprechend viel los, zwischen Einraumgalerie und Tante Puttchen. An diesem Donnerstag zeigte das Universum den Film „Another Day Another Time“ als Begleiter zu „Inside Llewyn Davis“, dem jüngsten Werk der Coen-Brüder über einen gescheiterten Musiker der in den 60ern erst aufkeimenden neuen Folk-Szene. Kein Wunder, dass man also an einem solchen ereignisvollen Tag von den wie immer gastfreundlichen Einraum-Galeristen bis zu Filmfest-Mitgliedern überall mit Leuten ins Gespräch kommt.
Die Kulisse für viele dieser Begegnungen bildete die Ausstellung „Über Land und Mehr“ in der Einraumgalerie, in Kooperation mit blackhole-factory und dem Theater im Glaushaus, einer Schauspieler-Gruppe der Lebenshilfe Braunschweig. Am heutigen Samstag ist leider schon Finissage der Ausstellung, bei ebenso guter Wetterlage wie am Donnerstag, und dieses Mal reicht die Flanier- und Verweilmeile sogar vom Comicladen, vor dem Leute um Chef Stefan an einer Biergarnitur mit Karten handeln und spielen, bis hin zum Tante Puttchen. Überall sitzen Leute draußen und verbreiten eine der wohltuenden milden Luft angemessene Laune.
Was es mit der Ausstellung auf sich hat, erklären mir Elke und Martin von blackhole-factory. Zu sehen sind in der Galerie zwei große Projektionen, eine mit Punkten in drei Farben, von denen manche über den MS-DOS-blauen Hintergrund wandern, und eine mit Filmaufnahmen vom Hochwasser in Braunschweig im vergangenen Jahr. Die Kamera taucht bisweilen unter die Wasseroberfläche, das gibt einen gleichermaßen geheimnisvollen wie anziehend bedrohlichen Eindruck. Diverse Gegenstände und zunächst kryptische Schautafeln säumen die Schau. „Das ist eigentlich ein Performance-Projekt aus dem letzten Jahr“, erklärt Martin. Die TiG-Leute waren auf Expedition in der Stadt und im Umland zu für sie unbekannten Orten. Dort erkundeten sie, ob sie im Unbekannten etwas Vertrautes oder auch im Bekannten etwas Fremdes finden konnten. Die Künstler sammelten vor Ort Objekte und machten Aufnahmen mit Spezialmikrofonen und Unterwasserkameras. Mit Induktionsspulen spürten sie sogar brummendem Strom nach. Das mit dem Überschwemmungen sei in diesem Zusammenhang ein „Super-Zufall“ gewesen, sagt Martin, denn so erkundeten die Teilnehmer altbekannte Wege, die nun überschwemmt waren, mit den Unterwasserkameras aus einer naturgegebenen neuen Perspektive.
Rund um die Stadt herum suchten die Theaterleute nun in Teams Plätze von einem Quadratmeter Fläche, die sie mit Flatterband absperrten, erzählt Elke weiter. Das war der erste Punkt einer Liste, die sie abarbeiteten. Die nächsten Punkte: „Sie machten ein Foto von der unberührten Fläche, machten Sound mit Objekten, die sie dort fanden, drehten einen 360-Grad-Film und nahmen zwei Minuten Ton auf: Wie klingt die Umgebung?“, berichtet sie weiter. Jedes Team bestand dabei aus einem Regisseur – in der Regel Elke oder Martin – und den Schauspielern, die die Orte auswählten und die Aufgaben wahrnahmen. Zuletzt nahmen sie die gefundenen Objekte, die derzeit auch in der Galerie zu sehen sind, in Plastiktüten mit nach Hause.
Dort ging es weiter, berichtet Elke: „Sie haben den Quadratmeter rekonstruiert und geguckt, ob man an den Dingen den Ort erkennt und was der Ort sagt über Themen wie Arbeit, Freizeit, Natur.“ Auch imaginierten sie sich Geschichten zu bestimmten Orten, etwa am Hafen, wo sie ein Frühstücksbrett, eine Flasche, etwas Dönerpapier und ein abgeschnittenes Seil fanden und daraus eine Performance kreierten, die die Geschehnisse erzählte, wie sie sich mutmaßlich zugetragen haben konnten, in diesem Falle von einer Feier am Schiff.
Und es ging noch weiter. Auf Tablet-Computern hatten die Künstler Sounds und Filme von den Orten gespeichert und versuchten dann zu Hause, auch daraus den Ort zu rekonstruieren – und tauschten sogar Dateien untereinander aus, die nicht zusammengehörten, „remixten“ sie also, wie Martin es bezeichnet, „und guckten, passt es oder passt es nicht, erzählt es vielleicht auch eine Geschichte, zum Beispiel wenn man Wald sieht und hört eine Autobahn rauschen, was es ja auch in Wirklichkeit gibt“.
Die Projektion mit den Punkten in der Ausstellung ist nun eine vereinfachte Karte von Braunschweig, auf der die Quadratmeter-Orte markiert sind. Mit einem Tablet kann man sie ansteuern, so wandern dann also die Punkte über das Feld, und die gespeicherten Töne und Filme abrufen. Die sind dann auf der zweiten Projektion zu sehen und über Lautsprecher zu hören. Vor den Leinwänden reihen sich die gefundenen Objekte auf, an den Wänden dokumentieren Fotos und andere Fundstücke den Werdegang der Performance, zeigen also „die Expeditionsgruppe bei der Arbeit“, so Martin. Elke schließt: „Die Performance war ein Bericht einer Reise an die Grenzen des Bekannten.“
Als Ausstellung sei das Ganze eigentlich gar nicht geplant gewesen. Aber nun existierte das Material, und Leute, denen sie die Tablets zeigten, wollten auch mal damit spielen, und also kam es doch dazu, und zwar bewusst in der Einraumgalerie: „Weil es so kompakt ist und viele Leute auch beiläufig reinkommen und gucken“, so Martin. Das habe nicht den typischen Geschmack eines Besuches einer Kunstgalerie, sondern hier im Handelsweg einen anderen, fast beiläufigen und damit ungezwungenen Zusammenhang: „Es ist mittendrin – echt schön.“ Der Anstoß dazu kam von Steffi, die über blackhole-factory auf ihrem unverzichtbaren Blog Kult-Tour-Braunschweig berichtete, und als Elke und Martin weiterstöberten, entdeckten sie dort auch Berichte über die Einraumgalerie. Außer bei der Ausstellung von Christian Niwa waren Martin und Elke dort zuvor nie gewesen, obwohl sie gerne und regelmäßig Zeit im Café Riptide verbringen. „Wir waren bei der Eröffnung und haben mit Stefan Zeuke gequatscht, den kannten wir schon ein bisschen“, sagt Elke. Mit der Ortswahl ist sie mehr als zufrieden: „Der Handelsweg hat eine schöne Atmosphäre.“
Mit Stefan verbrachte ich jüngst auch wieder Zeit, erst am Donnerstag vor und in der Galerie, dann am Tag darauf im Kingking Shop, da war auch Schepper dabei. Bei dem konnte ich mich endlich revanchieren: Schenkte er mir bereits CDs mit seinen beiden Alben, hatte ich dieses Mal eine eigene CD mit meiner Stimme drauf dabei. Beide Fälle – also Scheppers jüngstes Album und meine CD – wären niemals ohne Olaf möglich gewesen. Olaf macht seit über 20 Jahren zumeist elektronische Musik, zunächst hauptsächlich als Inside Agitator, zu dessen Live-Besetzung ich sogar offiziell gehörte, und heute unter dem unverwechselbaren Namen Blinky Blinky Computerband. Er produzierte Scheppers Album, und ich hatte das große Glück, bisweilen den Sessions beiwohnen zu dürfen. Außerdem lässt er bei Blinky Blinky Computerband auch mal andere Leute am kreativen Prozess teilhaben, was eine vielfältige Palette an Ergebnissen hervorbringt und mir nun schon zum zweiten Mal ermöglichte, mitzumachen. Vor anderthalb Jahren produzierten wir den Song „Meine Freizeit“, jetzt – das ist nun die mitgebrachte CD – den Track „Dem Tod den Tod“ mit der B-Seite „Verschwinden“, einem viertelstündigen Hörbuch. Auch diese Aufnahmen machten einen Heidenspaß und ich bin Olaf rasend dankbar dafür, dass er mir die Möglichkeit gab, mit ihm diese Tracks zu erstellen. Mit Schepper und Stefan saß ich nun vor dem Kingking Shop in der Sonne, und weiß der Geier wie, wenn wirre Leute zusammenhocken, aber irgendwie versprachen wir uns bei irgendeinem Thema, und daraus entwickelten wir den Namen für einen neuen Supercomputer, „Prozessor Hastig“. Aber das nur am Rande.
Es ist jedes Mal erstaunlich, wie entspannt Elke und Martin sind. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt, was sie alles machen und wo auf der Welt sie dies tun. Stressfreie Omnikreativität. Als nächstes stehen der „Club Instabil“ am Dienstag mit Ken Aldcroft aus Toronto und das große Sommerfest „Space Is The Place“ am 14. Juni an. Außerdem arbeiten sie mit dem Theater im Glashaus an einer neuen Produktion, von der sie bei dem Sommerfest erste Ausschnitte zeigen wollen: „Strawinski-Frühlingsopfer“, sagt Martin, und Elke ergänzt: „Aber recomposed.“ Das Projekt ist schon wieder so wahnsinnig, dass man es vermutlich sehen muss, um es zu erfassen: Die Theaterleute basteln einsaitige Instrumente mit Tonabnehmern, mit denen sie Krach machen. Auf dem Boden sind mehrere Flächen markiert, die wie ein Tenori-On-Synthesizer funktionieren: Die Schauspieler legen Styroporkugeln auf die Fläche und rufen damit je nach Anordnung von einer Kamera erfasst ihre vorher erzeugten Töne ab. Auch Drumsounds kreieren sie live, und wenn sie sich auf einer der Flächen bewegen, erzeugen sie tanzend virtuelle Schlagzeugsoli.
Nicht alle TiG-Schauspieler sind heute zur Finissage da. Francesco ist der erste, und gerade kommt Werner angeradelt. Er stellt sich mir vor und schiebt sein Rad am Comicladen vorbei. „Na, wer gewinnt?“, ruft er den Spielern fröhlich zu.
Helmut öffnet gegenüber seine Strohpinte. Er setzt sich nach draußen und liest ein Buch. Entspannung allenthalben. Nicht ganz überall: Chris und Felicia haben im Riptide alle Hände voll zu tun, Felicia hat ihren zweiten Arbeitstag und Chris erläutert ihr ihre Aufgaben, während er seine eigenen wahrnimmt. „Ich bin Bühnen- und Kostümbildnerin“, erklärt Felicia mir. „Und ich nähe Taschen, aus Planen und Lkw-Schläuchen.“ Sie bestückt ein Tablett mit Getränken, und während ich die Information rekapituliere, stellt sie fest, dass sie nicht ganz stimmt: „Aus Lkw-Planen und Fahrradschläuchen“, korrigiert sie sich. „Das Riptide ist ein schöner Arbeitsplatz“, sagt sie. „Das fand ich als Gast schon.“ Und huscht nach draußen zu den Gästen.
Dort sitzt unter anderem Simone, mit drei Stapeln Drei-Fragezeichen-CDs auf dem Tisch vor sich. Ein guter Grund, sie anzusprechen. Etwa 35 CDs müssten es sein, sagt sie ohne zu zählen. Sie möchte sie auf Kommission übers Riptide verkaufen lassen und die dafür nötigen Details mit den Chefs besprechen, „aber Chris weist gerade eine Neue ein“, erzählt Simone. „Deshalb habe ich die CDs schon mal ausgepackt.“ Sie muss ihre Wohnung aufgeben und umziehen und will sich deshalb von einigen Dingen trennen, zum Beispiel auch einem Technics-Plattenspieler, den sie für einen Milchkaffee bei Chris lässt, „und er gibt ihn in liebevolle Hände“, sagt sie. Es sei ein wertiges Gerät: „Und ich habe letztes Jahr erst die Nadel erneuert.“ Was die Drei Fragezeichen betrifft, sei sie ein Späteinsteiger gewesen, „erst 2007“. Damals hatte sie einen längeren Krankenhausaufenthalt zu überstehen und von Freundinnen einige Folgen geschenkt bekommen. „Ab da war ich drauf“, grinst sie. Jetzt ist Simone 44 und also in der Generation, die eigentlich mit den Drei Detektiven aufgewachsen ist. Das bestätigt sie: „Ich habe als Kind den Karpatenhund gelesen, das kam damals frisch raus, da hab ich mich so gegruselt, dass ich nie wieder was von denen lesen wollte.“ Der ältere Bruder einer Freundin habe ihr das zwar immer wieder angeboten: „Aber ich wollte nicht.“ Bis zu dem schicksalhaften Krankenhausaufenthalt. Von den CDs will sie sich trotzdem trennen, weil sie auf die digitale Speichermethode umgestiegen ist.
Ihr fällt ein, dass wir uns schon einmal unterhalten haben, und zwar bei einer Nachfeier vom Silver Club in der KaufBar, da saßen wir mit Helge vom Silver Club an einem Tisch. Markus und Dorith hatten sie mitgebracht, deshalb dachte Simone zunächst, das wäre bei einem Kufa-Stammtisch gewesen. Den nächsten Kufa-Stammtisch, am Mittwoch, will sie unbedingt wahrnehmen, da geht es um Foodsharing, ein wichtiges Thema für sie, wie Ernährung überhaupt. Sie geht auch deshalb ins Riptide, „ich komme immer wieder gerne, wenn ich in der Stadt bin, weil ich Vegetarierin bin, seit meinem 15. Lebensjahr“, sagt Simone. „Weil ich hier meine Speisen bekomme, ohne dass ich nachfragen muss, was drin ist.“ Und aus einem anderen für sie wichtigen Grund: „Sie nehmen Ökostrom.“
Auch Serge ist wieder da. Vor seinem Laden neben dem Riptide sitzen oder stehen Niclas, Philipp, Markus und Anita in vertrauter Runde und diskutierten in vertrautem Ernst schwere Themen. In der Mitte liegt eine angefangene Tüte Weintrauben, drumherum stehen teils leere Gefäße, die zuvor Wein, Kaffee oder Limonade enthielten. „Das einzige, wo ich weiß, dass es mir gut geht, ist, dass ich meinen heiligen Zorn habe“, höre ich Serge zur Begrüßung sagen. Ja, hier bin ich zu Hause.
Aber ich bin jetzt im Riptide verabredet. Zwischen den vollbesetzten Tischen unter dem Segeltuch im Achteck finde ich einen Platz. An einem Tisch spielen junge Frauen Karten, an einem anderen reden junge Männer auf Spanisch und Englisch miteinander. Gideon tritt seinen Dienst an, indem er wie gewohnt die Ölfackeln an den Türen zum Café und zur Rip-Lounge nachfüllt, und zu seiner dienstlichen Unterstützung kommt Nina angeradelt.
Schwalben kreischen, die Getränke schmecken, alles ist entspannend, aber das Schönste ist, dass mein Patenkind Antonia nach einigen Runden an meinen Händen zum ersten Mal drei, vier Schritte ohne Hilfe und ganz frei auf mich zu läuft. Selten habe ich einen so glücklichen Menschen gesehen wie dieses vierzehnmonatige Mädchen. Ein beglückendes Geschenk! Und ein schöner Kick für die Indie-Ü30-Party heute Abend.
Matze Bosenick
www.krautnick.de
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