#78 Das Leben ist kein Schimmel-Hof

Dienstag, 22. April

Fein: Außer Blitzeis hat der April in Sachen Wetter alles zu bieten, wie es sich für einen April gehört, und das im Fünfminutenwechsel. Man fühlt sich fast wie in Irland, da ist das in manchen Ecken immer so. Einmal erlebte ich es dort sogar, dass wir mit dem Auto eine längere Zeit lang direkt neben einem Regenschauer her fuhren, ohne dass dabei die Windschutzscheibe nass wurde. Gestern, am Ostermontag, saß ich, weil das Riptide verdienterweise Pause machte, auf dem Kohlmarkt, für ein Schokoladeneis und einen Kaffee, und während ich so bei strahlendem Sonnenschein in meinem Buch las – „Schmorwurst am Brocken“, das neue von Axel Klingenberg –, regnete es mir plötzlich in die Seiten. Geblendet und verwirrt legte ich das gute Buch zur Seite.

Natürlich, ein „gutes Buch“, das ist das, was jeder liest: „In meiner Freizeit ein gutes Buch.“ Dieser Satz ist komplementär zu „Ich höre eigentlich alles“. Den neuen Klingenberg erwarb ich im Kingking Shop, gleichzeitig mit „Höllenglöckchen“, Micha-El Goehres Fortsetzung zu seinem Roman „Jungsmusik“, und von ihm steht noch das Kompendium „Monster, Monster“ aus, das Andreas Reiffer in seiner Edition Wissenswertes zu veröffentlichen beabsichtigt. Es wird Zeit, wir alle warten darauf! Bei Andreas Reiffer ist auch der Klingenberg erschienen, und ganz neu auch „Sandow: 30 Jahre zwischen Harmonie und Zerstörung“, eine Bandbiografie von Ronald R. Klein, die deutlich mehr ist als nur das, denn das Buch bildet auch den Musik- und Kulturbetrieb der DDR ab, mit allen Ressentiments, denen vor allem eine nicht mal im alternativen Bereich hinreichend anerkannte Punkband ausgesetzt war, sowie die Schwierigkeiten, sich dann im postsozialistischen Kapitalismus als wiederum nicht angepasste Punkband zurechtfinden zu müssen.

Interessanterweise greift das Buch ein Thema auf, das wir mit dem Silver Club vor anderthalb Jahren bedienten. Im Dezember 2012 bespielten wir die Mensa der HBK mit der „DDR Independent Musiknacht“. Wir zeigten auch den Film „Flüstern und Schreien“, offizielle Schreibweise: „flüstern & SCHREIEN“, eben auch über Sandow, und hatten den Drehbuchautoren Jochen Wisotzki als Talkgast auf der Bühne. Schön, wie sich das Thema nun in meine Aufmerksamkeit zurückschiebt.

Den Silver Club gibt es in seiner jetzigen Form seit satten fünf Jahren, selbst dabei bin ich seit 2009, als Gast zunächst, bei der „Französischen Indiesound Kulturnacht“ in der früheren Krabbenkuppel, in der jetzt laut Silver-Club-Chef Skapino wieder ein griechisches Restaurant geöffnet hat, und dieser für mich erste und in tatsächlicher Zählweise bereits vierte Silver Club begeisterte mich dergestalt, dass ich sofort mitmachen wollte. Tja, und vor wenigen Wochen feierten wir nun den fünften Geburtstag, in der Jugendkirche, die wir dankenswerterweise zum zweiten Mal bespielen durften, und wie da die Leute mit dem offenen Bier ehrfurchtsvoll in der überwältigend illuminierten Kirche standen, das beglückte ansteckend. Mein Auftrag war dieses Mal, während der Veranstaltung für Ordnung zu sorgen, also draußen die Aschenbecher zu leeren, überall die Tische abzuräumen, Gummibärchen nachzufüllen, Fragen zu beantworten, was auch immer, zumindest kam ich gut herum und möchte meine zurückgelegten Kilometer auch nicht gezählt bekommen, aber ich traf unglaublich viele freundliche Leute und hatte anregende Gespräche, und sei es nur en passant, als ich mitbekam, wie eine Besucherin ihrem Begleiter eine Packung Kaugummis hinhielt, er aber dankend ablehnte und sie die Packung an mich richtete, mit den Worten „Willst du? Kaugummi?“, woraufhin ich den abgegriffenen Nichtrauchersatz entgegnete, ich hätte es mir abgewöhnt, was sie schier entsetzt stutzen ließ: „Auch Kirsch?“

Nein, natürlich, Kirsch nicht, gerade jetzt nicht, da die ganzen Kirschbäume blühen, überhaupt, all das Grün, das jetzt hervorquillt, das hebt die Stimmung, und irgendwie hat es sich eigentlich in die Welt hineingeschlichen, denn was dieses Mal fehlte, war die scharfe Kante zwischen Winter und Frühling: Es lag ja kein Schnee, auf dessen Wegschmelzen man ewig gewartet haben konnte, und den dann irgendwann der Frühling mit seinen kraftvollen jungen Trieben verdrängen musste. Vielmehr schwenkte der Lenz wie beiläufig einfach ein. Irgendwann stellte man fest: Oh, hey, es ist wohl Frühling. Und jetzt, da auch die Okercabana wieder geöffnet ist, ist nach Spargel und Einbecker Mai-Urbock auch der letzte Frühlingsbote eingetrudelt. Am Eröffnungsabend war ich da, am Okerstrand, und es war, als wäre ich nicht zwangsgemäß seit einem halben Jahr nicht dort gewesen: Alles wie immer, am vertrauten Platz, die Pornopalme leuchtet orange, Coreas Metallpalmen stechen, die Theken, Bänke, Strandkörbe, Stühle und Krake Karlchen sind allesamt wieder dort, wo man sie kurz vor dem nicht erfolgten Wintereinbruch zuletzt gesehen hatte. Diese ist schon die neunte Saison für die Strandbar, 2006 zur so genannten WM im eigene Land, also dem Fußball-Verbrüderungs-Event, öffnete sie erstmals, und dieses Mal ist wieder Fußball-WM, da steht zu hoffen, dass ich das ein oder andere Spiel dort wieder zu sehen bekomme.

Oder im Riptide, Chris und André zeigten zuletzt bei der EM zumindest einige ausgewählte Begegnungen im Achteck auf der Leinwand. Bis dann ist es ja noch etwas hin. Aber auch ohne Fußball setzt man sich dieser Tage wieder nicht selbstverständlich nach drinnen, wenn man sich im Riptide verabredet, sondern trifft sich gleich in der Mitte zwischen Café und Rip-Lounge, auch ohne kältezurückweisende Decke. Wie kürzlich mit Arni, als wir buchbepackt aus dem Kingking Shop kamen, von Stefan bestens eingedeckt, und vor dem Heimweg noch im Riptide Getränke zu uns nahmen, eben im sonnenerhellten Achteck, und am Nachbartisch saßen zwei Gäste, die wir erst kurz zuvor noch im Kingking Shop sahen. Beleg: Ganz Braunschweig ist ein Kiez, man muss nur seine favorisierten Ecken finden, und wen sie so weit auseinanderliegen wie Café Riptide und Kingking Shop. Auch das ist, nebenbei, eine für mich schöne Braunschweigische Sommerattraktion: Vor dem Kingking Shop auf den Treppenstufen in der Sonne sitzen und von Stefan eine Tasse Kaffee bekommen. Schon bei seinem Vorgänger Pott war das eine energiespendende Freizeitverbringungsart, Stefan führt diese Gastfreundlichkeit kundig fort.

Als ich am Samstag mit Henrik unterwegs war, Flyer und Plakate für die nächste Indie-Ü30-Party zu verteilen, was wir seit sieben Jahren und also 14 Partys jeweils fünf Wochen vor ebenjenen tun, einmal quer durch Braunschweig, durch Supermärkte, Lokale und Läden, goss uns Stefan auch einen ein. Diese kleinen Pausen machen unsere Ochsentour immer sehr attraktiv. Für Henrik, den Leverkusener aus Celle, ist Braunschweig in manchem Bezug ein Böhmisches Dorf mit sieben Siegeln, und da er nur alle fünf Wochen mal hier sein kann, hat er auch einen anderen Blick auf Selbstverständlichkeiten, die einem als täglichen Braunschweiger gar nicht bewusst werden. Zwischen Erna & Käthe, Charly’s Tiger und der Brunsviga beispielsweise kamen wir auch am Restaurant Sukiyaki vorbei, und während wir die Straße kreuzten, murmelte Henrik den Namen des Restaurants vor sich hin, vertauschte dabei aber ohne böse Absicht das A und das U, und es dauerte bei uns beiden zwei, drei Momente, bis wir begriffen, was er da letztlich gesagt hatte. Fremd waren ihm auch die früheren Örtlichkeiten des Braunschweiger Klavierherstellers in der Hamburger Straße, und mit Blick auf das Braunschweigern altbekannte Schild stellte er ganz treffend fest: „Das Leben ist kein Schimmel-Hof.“

Genau der Samstag war nicht nur der einzige verkaufsoffene Tag zwischen Karfreitag und Ostern, sondern auch noch Record Store Day, der Tag, an dem Plattenlabels unabhängige Plattenläden damit unterstützen, dass sie besondere Musikprodukte ausschließlich an diesem Tag und ausschließlich in ausgewählten Läden feilbieten. Das Riptide und Raute Records gehören in Braunschweig dazu. Für Raute waren Henrik und ich zu spät dran, Uwe und Katrin hatten schon zu, als wir im westlichen Ringgebiet unterwegs waren, aber das Riptide hatte noch offen. Den großen Sturm hatten wir wohl verpasst, wie Nina uns von der Theke aus versicherte, denn es war überraschend entspannt gegen Abend. Chris, André und Jasmin hingegen hatten mir zuvor von ihren Erfahrungen aus den Vorjahren berichtet, als die Sammler am RSD scharenweise das Riptide gestürmt hatten. Deshalb nutzten die beiden Chefs dieses Mal auch den Karfreitag, um sich auf den RSD vorzubereiten. Danke, Riptide: Auch für mich war Ostern dieses Mal mit tollen Exemplaren wie Weihnachten.

Diese Touren mit Henrik sind zudem jedes Mal ein Füllhorn der fantastischen Ereignisse und eine Bestätigung, wie großartig Braunschweig doch ist. Wo wir auch hinkommen, werden wir freundlich empfangen; überall bekommen wir Geschichten zu hören, und bevor wir nach zehn, zwölf Stunden ermattet aus den Schuhen kippen, bringen wir den vorletzten Stoß Flyer und Plakate ins Nexus, wo die Party dann auch immer stattfindet, am 24. Mai als nächstes. Ein Konzert stand an unserem Aktionstag auf der Agenda, wir kannten einige der Gäste, und die anwesenden Nexus-Leute sowieso, die uns mit der Party so warmherzig aufgenommen haben. Iris zum Beispiel saß am Eingang, Gerald an der Theke, und Gerald schlug uns vor, doch mal die Geschichten aufzuschreiben, die wir beim Flyerverteilen erleben. Gute Idee eigentlich, aber ein Riesenaufwand: Schon nach einem Mal ist das ein hohes Maß an Erzählenswertem, nach 14 Touren ist es unermesslich. Mokka im Troja, Fußball-Live-Übertragung in der Funzel, Döner im Anatolien-Grill im Madamenweg, Promo-Talk im Supermarkt – da kommt einiges zusammen. Auch munteres Lachen im Riptide.

Und das geht seit Monatsbeginn auch wochentags wieder länger: Mit den Sommeröffnungszeiten beendet das Riptide nun die Dunkelheit. Daran kann auch gelegentlicher Hagel nichts ändern, der geht schnell vorbei, unter dem Segeltuch bleibt man trocken, Chris drückt dann mit einem Besen von unten das Wasser und das Eis von der Plane, alles ist gut. Dort wird mein Buch dann auch nicht nass. Das Paläon in Schöningen ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht zu erreichen? Sieh an, das wusste ich nicht. Über den Harz und die Umgebung gibt’s doch noch einiges zu erfahren. Müsste man eigentlich auch mal wieder hin, jetzt, da das Wetter so angenehm ist. Na, ich nehme erstmal noch einen Kaffee hier.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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