#85 3D-Musik

Mittwoch, 19. November

Wenn ich so durch das novembervernebelte Braunschweig gehe, besonders in Okernähe, kommen mir auf wundersame Weise Bilder in den Kopf, wie ich mir London vor rund 100 Jahren vorstelle. Ein schlanker, großer Mann und ein kleiner rundlicher spazieren die Themse entlang, der große raucht Pfeife. Ihre Konturen verschwinden im Nebel, und wenn ich mit ihnen Schritt halte, kann ich sie immer wieder daraus hervortreten sehen. Sicher, die Themse ist unwesentlich breiter als die Oker, und wenn man Sir Arthur Conan Doyle Glauben schenkt, schwammen da auch deutlich mehr Leichen drin herum, aber wir in Braunschweig haben ja Hardy Crueger, und dessen Oker-Body-Count allein in seiner Geschichte „Der Untergang“ toppt alle Themse-Leichen Doyles zusammen. Moment, macht der November mich etwa morbide? Es wird wohl Zeit, dass der Weihnachtsmarkt eröffnet, dann wird es wieder bunt in der Stadt und, mit genügend Glühwein, Jagertee, Punsch oder Met, auch im Kopf. Man mag eigentlich noch gar nicht daran denken, aber schon nächste Woche ist es so weit. Von drauß‘ vom Walde süßer die Glocken.

Im Café Riptide ist es gemütlich illuminiert und warm, ich lasse die permanente Dämmerung des Hochherbstes hinter mir. Verabredet bin ich mit Katharina, die wiederum die mir weitgehend unbekannten Rolf und Sven dazugeladen hat. Für diese beiden ist der Aufenthalt im Riptide eine Premiere. Bis zur Bestellung vergeht daher einige Zeit, mit intensivem Blick in die Karte, da Sven Hunger hat, sich aber mit dem Speisenangebot im Café nicht richtig anfreunden kann. Ich schon, ich bestelle den Bonanza-Burger mit Käse und eine Fritz-Kola-Kaffee. Katharina wünscht sich eine Kanne Chai-Tee, Sven einen ganz und besonders starken Kaffee und Rolf einen Milchkaffee.

Sowohl Rolf als auch Sven haben extrem bewegte Biografien. Was Rolf mir erzählt, wäre genug Stoff für einen Roman vom Format einer mehrbändigen Lexikothek und inhaltlich auch mindestens so schwer wie so ein Stapel Bücher. Sven berichtet, dass er zu Hause am PC Musik macht, unter dem Anagramm Sevn. Die Sieben spielt eine große Rolle bei ihm, denn sie findet sich in Tag, Monat und Jahr seines Geburtsdatums wieder. Sevn war früher sein Spitzname, nach dem David-Fincher-Film „Seven“, aus dem für seine Freunde ungewöhnlicherweise ausgerechnet er mit einer nachhaltigen Heidenangst herausging. Den Namen Sevn hatte er von da an weg. Bis heute, auch als Künstler. „Eigentlich wollte ich mich ‚Sevn Deluxe‘ nennen“, sagt Sven. „Aber das war mir zu lang.“

Ambient und Elektro sind seine Favoriten. „Auch Drum And Bass mixe ich hin und wieder, wenn ich Bock drauf habe“, erzählt Sven. Als nächstes Projekt plant er, drei oder vier Platten am PC gleichzeitig laufen zu lassen, „3D-Musik“, wie er es nennt. Eine der Platten müsse etwas langsamer laufen, „das gibt einen fetten Sound“. Doch sei es „anstrengend, alle Plattenspieler gleichzeitig zu starten“, so Sven. „Bei einer muss ich hinterherpitchen, eine andere stoppen.“ Seine Experimente macht er mit der Software Virtual DJ: „Da komme ich am besten mit klar.“ Mich erinnert das Konzept an „Zaireeka“ von den Flaming Lips: Das Album verteilte die Band auf vier Tonträger, die man gleichzeitig abspielen musste, um das Gesamtwerk dabei herauszubekommen. So meint Sven es aber nicht, er will aus einem einzelnen Track eine 3D-Version erzeugen. Bei The Prodigy, einer seiner Lieblingsbands, gehe das aber nicht, stellt Sven fest: „Die kann man gar nicht mixen, innerhalb des Liedes werden die schneller und langsamer, sie schwanken.“

Vor seiner Operation hatte Sven ein Projekt mit einem anderen Braunschweiger und mit dem sogar eine CD veröffentlicht. An den Namen des Projektes kann er sich aber nicht mehr erinnern. Wegen der Operation. Vor 14 Jahren entfernte man Sven einen Gehirntumor. Danach war für ihn alles anders. Das ganze Leben. Nicht nur schloss er mit seiner Vergangenheit ab, auch musste er sein Gehirn neu konditionieren, die Synapsen neu verknüpfen. „Wenn ich Schmerzen hatte, lachte ich“, erzählt Sven. „Wenn es mich am Fuß juckte, kratzte ich mich am Ohr.“ Er versank in Schwermut. Doch rappelte er sich nach vielen weiteren Schwierigkeiten wieder zurück ins Leben. Jetzt hat er nur noch drei Prozent seiner Sehkraft übrig und einen Tunnelblick und zudem ein enorm eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis. Das alles ist der Grund, weshalb man sein Projekt Sevn nicht im Internet findet: Er schützt sich damit vor versehentlichen konstenintensiven Fehlklicks, die er aufgrund seiner Sehschwäche womöglich ausführen würde. Daher bitte ich ihn, mir über Rolf und Katharina eine CD mit seinen Tracks zukommen zu lassen. Rolf übernimmt nämlich ehrenamtlich die Betreuung für Sven, und das schon seit vier Jahren. Zwei Aufgerappelte, die sich im Leben mit Mut und Freude ergänzen. Und jetzt los wollen, Sven hat Hunger, er denkt an eine Pizza mit Chilis. „Ich habe erst heute Morgen eine Chili gegessen“, sagt Sven. „Weil mir kalt war.“

Solche Geschichten relativieren das eigene kümmerliche Gewese. Was ist das schon, ohne Arbeit, aber mit diffusem Liebesleben, und mit diversen Aufgaben, die als Folge einer verkorksten Erziehung in der Gegenwart schwergewichtig die Seele niederdrücken. Über solche Eckpunkte tausche ich mich mit Marcus aus, der eigentlich nur eine Platte als Geburtstagsgeschenk kaufen möchte. Lustig, das letzte Mal, als wir uns trafen, vor einer Weile in der Juliusstraße, hatte er auch eine Platte als Geburtstagsgeschenk dabei, die er im Riptide erworben hatte, „20“ von Tocotronic nämlich. Dieses Mal soll es eine 10“ von The Black Angels sein, die zum Record Store Day im April herausgekommen ist. „Wenn ich das hier finde“, schränkt Marcus ein und durchsucht die Schallplattenfächer. „Wenn, dann im Record-Store-Day-Fach“, hilft André über die Theke hinweg. Doch Marcus schüttelt den Kopf. „Ist sie weg?“, fragt André. Nachträglich bestellen sei bei RSD-Produkten nahezu unmöglich, bedauert er. „Kann sie auch irgendwo anders stehen?“, fragt Marcus. André nickt: „Guck unter B unter Indie-Rock-Pop.“ Das macht Marcus. Ein „Ha-haaa!“ aus seiner Ecke zeugt vom Glück des Suchenden. „Ist aber ’ne 12“.“ Er bringt das Stück zum Thresen, „Clear Lake Forest“ heißt es. „Das geht in Richtung 13th Floor Elevators“, beschreibt Marcus die Musik. Nicht ganz so „fuzzy“, „ein bisschen Black Rebel Motorcycle Club, schwer zu beschreiben“. André rechnet und kassiert und fragt: „Brauchst du eine Tüte?“ Marcus überlegt kurz und bejaht. „Eine Papiertüte ohne Henkel oder eine aus Plastik?“ Auch da überlegt Marcus und entscheidet dann: „Lieber aus Plastik.“ Er sei noch eine Weile in der Stadt unterwegs und wolle das Geschenk geschützt wissen. Marcus und ich kennen uns, weil wir vor über zehn Jahren im selben Haus wohnten. Wiedersehen werden wir uns im Riptide, versichern wir uns zu seinem Abschied.

Jetzt, zwischen spätem Nachmittag und Vorabend, wird es ausnahmsweise einmal etwas ruhiger im Café. André weist Laura in den Küchen-Ablauf ein. „Bestell mal was“, fordert André mich grinsend auf. Hab ich ja schon, vom Burger und den beigelegten Tortillachips bin ich noch hinreichend satt. Jasmin, die an der Theke steht, ist empört: „Meine Rote-Beete-Suppe hättest du probieren sollen, sie ist mir richtig gut gelungen.“ Sie deutet auf die Tafel an der Wand, auf der die nämliche Speise beworben wird. Wird Rote Bete nicht nur mit einem E geschrieben? Ich erinnere mich, dass ich mich als Kind wunderte, dass das so ist, weil das Wort nach zwei E klingt. So sieht es Jasmin auch und widerspricht mir daher. Wird aber unsicher und guckt im Internet nach. „Wenn ich ‚Rote‘ eingebe, kommt sofort ‚Beete‘ mit zwei E“, sagt sie. Das Suchergebnis spricht aber etwas anderes: Der Duden gibt der Variante mit einem E den Vorzug, lässt die mit zwei E aber inzwischen als korrekt gelten. Wir staunen und sind uns einig: Das Wort klingt einfach so, als verlange es nach zwei E.

In der Küche bekommt Laura von André jetzt gezeigt, wie man ein Fladenbrot zubereitet. André zeigt ihr, wo sie Zutaten und Werkzeuge findet, und was sonst noch alles zum Dienst in der Küche gehört. André bringt das bestellte gut duftende Fladenbrot an den entsprechenden Platz. Neu im Riptide ist Laura nicht: „Nee, nur im Küchendienst neu eingearbeitet“, sagt sie. „Ich bin schon seit Sommer hier.“ Gleich hat sie Feierabend, ebenso wie André und Chris, der aus dem Büro herüberkommt. Er will noch ins Kino.

Das Kino selbst wiederum war in der vergangenen Woche im Riptide. Zum 28. Mal fand das Braunschweiger Internationale Filmfest statt, vom Ausrichterverein selbst kurz BIFF genannt. In diesem Rahmen gab es eine Neuerung: Seit fünf Jahren veranstalten das Filmfest-eigene Universum-Kino und das Riptide die Musikfilm-Reihe Sound On Screen, jetzt war diese erstmals ins BIFF-Programm integriert. Am Eröffnungstag sah ich aus der entsprechenden Reihe den Film „Pussy Riot – The Punk Prayer“. Der einzige Film, den André in der Zeit sah, war der über Elliott Smith. Das Riptide war in der Filmfest-Woche Schauplatz für manche Party, etwa am Donnerstag nach dem Film „Pulp“ über die gleichnamige Britpopband. „Da hatten wir illustre Gäste hier“, berichtet André. Darunter war etwa „Pulp“-Regisseur Florian Habicht. Eine HBK-Studentin illuminierte das Riptide für die Party mit einer hochklassigen Beamer-Show. „Am Wochenende, Freitag und Samstag, waren’s nochmal zwei stramme Tage“, so André. „Das Schöne ist, wenn du hier im Laden bist und hörst kein Deutsch – das finde ich immer ganz nett.“

Nachdem Beate und Imke vom Filmfest nach der Sound-On-Screen-Premiere von „20,000 Days On Earth“, der fantastischen Pseudo-Doku über Nick Cave, auf Michas und mein Bitten, doch den Film „The Salvation“ von Kristian Levring im Universum zu zeigen, etwas kryptisch reagierten, wunderten wir uns nicht, als wir den Film plötzlich im Filmfest-Programm wiederfanden. Hauptdarsteller Mads Mikkelsen erhielt nämlich den Filmfest-Preis „Europa“ und reiste für die Gala und das Künstler-Gespräch eigens von TV-Serien-Dreharbeiten in Kanada nach Braunschweig. Micha und ich lauerten im Foyer des C1 auf den Dänen, der 1996 in „Pusher“ von Nicolas Winding Refn zu brutalem Ruhm kam. Lustig, dass mir eine Freundin nur eine Woche zuvor in Mads‘ Heimatstadt Kopenhagen genau den Film auf DVD zeigte, weil er einer ihrer Lieblingsfilme ist. Und schon läuft er im Rahmen der „Europa“-Preisträgerreihe beim BIFF. Micha und ich warteten nun auf den Mann mit der markanten Oberlippe, länger als andere Celeb-Jäger, und hatten Erfolg und Misserfolg gleichzeitig: Zwar lief Mads an uns vorbei, aber von einer undurchblickbaren Entourage umgeben und in einem irrwitzigen Tempo, dass ich ihn gar nicht wirklich zu sehen bekam. Micha schon, der war später bei der Gala. Hinterher erfuhr ich, dass Mads das Festessen kniff – und mit jemandem vom Filmfest bei Güney in der Friedrich-Wilhelm-Straße einen Döner aß. Das ist eine angemessene Art, Braunschweig kennen zu lernen.

Wie auf Kommando kommt Micha ins Riptide, zeitgleich mit Nicolai, der seine Schicht antritt. Jasmin händigt Micha eine Rolle Plakate für die nächste Staffel von Sound On Screen aus. Er hat es eilig, André, Chris und Laura haben Feierabend – ich kehre zurück in die Novemberluft. Die ist jetzt nicht mehr grau, sondern schwarz. Die Nacht beginnt nun eben wieder früher und dauert dafür umso länger. Nebel hängt zwar noch nicht wieder über der Stadt und der Oker, aber die Bilder von mörderjagenden Privatdetektiven werde ich trotzdem nicht los. Na, sie sind angenehmer als Bilder von Mördern. Huch, schon wieder so morbide. Nächste Woche ist Weihnachtsmarkt. Da gibt’s nur Taschendiebe.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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